Woe is me, my love

By FeyGalaxy

3.6K 188 51

Das nächste Semester in Nevermore steht an. In der Zwischenzeit war kein Tag vergangen, an dem Wednesday nich... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 29
Kapitel 30

Kapitel 28

92 5 2
By FeyGalaxy

Under blue moon, I saw you
So soon you'll take me
Up in your arms, too late to beg you
Or cancel it, though I know it must be
The killing time
Unwillingly mine

In starlit nights, I saw you
So cruelly, you kissed me
Your lips, a magic world
Your sky, all hung with jewels
The killing moon
Will come too soon

Die Worte hatten ihre Gedanken infiziert. Wie ein Virus, gegen das es kein Heilmittel gab. Sie hallten in ihrem Kopf. Laut, unaufhörlich und bereits seit mehreren Stunden. Die ganze Nacht über hatte sie in ihrem Zimmer geübt, auch wenn sie dieses Lied bereits auswendig konnte. Ihre Finger schmerzten, unter ihren Augen waren dunkle Ringe, die im Kontrast zur ihrer hellen Haut unglaublich schwarz wirkten. Enid saß neben ihr, stocherte müde mit ihrer Gabel in ihrem Frühstück herum und Wednesday nippte immer wieder an ihrem Glas Saft.

Es herrschte Totenstille. Selbst dann, als Xavier und Ajax sich zu sie setzten, gaben beide keinen Ton von sich. „Hey, guten Morgen! Habt ihr gut geschlafen?“, Ajax war voller Motivation und, anders als die beiden Mitbewohnerinnen, in heller Aufruhr in den Tag gestartet. Enid sah zu Wednesday, auf ihrem Gesicht war untypischerweise keine Regung zu sehen, sie war starr und hatte ähnliche Ringe unter ihren Augen: „Frag Wednesday… ich habe so gut wie nicht geschlafen.“ Xavier sah zwischen den beiden hin und her und zog seine Brauen nach oben, neugierig und besorgt: „Was war denn? Hast du die ganze Nacht über an deinem Roman geschrieben?“ „Nein.“, antwortete Enid für ihre Freundin, etwas zu laut für ihren Geschmack.

Wednesday blinzelte ihren Freunden entgegen, sie räusperte sich: „Ich habe gelesen und geschrieben und Cello gespielt… ich konnte nicht schlafen…“, gab sie zu. „Seltsam, ich habe dich gar nicht gehört…“, stellte Xavier verwundert fest. „Ich war im Zimmer … es war zu kalt.“, antwortete sie schnell. „Schade. Hätte gern gehört, was du für deinen großen Auftritt geplant hast.“, gestand Xavier und schenkte ihr ein Lächeln.

Wednesday blickte nervös auf ihre Finger und ignorierte seine Aussage. „Aber ihr seid nicht die Einzigen, die müde sind… ich habe auch schlecht geschlafen… war irgendwie…“, er vergaß, was er sagen wollte, als er von seinem Teller hinauf in ihre Augen sah. Er ließ den Satz unvollendet, aus Angst, Enid und Ajax könnten Fragen stellen, aus Angst, Wednesday würde es nicht mögen, wenn er allen einfach so erzählen würde, dass er nur an sie gedacht hat. Dass er nicht schlafen konnte, weil er sich immer wieder vorgestellt hat, wie es war, sie zu küssen, ihre Schulter, ihren Hals, ihre Narbe, ihr zu sagen, wie besessen er ist von ihr. Er schluckte einen Bissen hinunter, um sich wieder zu beruhigen und es herrschte wieder Stille am Tisch. 

Nach einigen Minuten gemeinsamen Schweigens und Enids lautem Gähnen, waren alle bereit für den Tag, die Teller waren leer. Auch wenn Wednesday auf der Stelle hätte einschlafen können, war sie dennoch unter Strom. Die Aufregung, das Lampenfieber, welche ihr vollkommen fremd waren, durchströmtem ihr ganzen Körper. Xavier, der ihr gegenübersaß und auf so seltsam und dennoch verführerische Weise sein Frühstück gegessen hatte, machte es ihr nicht leichter. Für ihn würde sie diese Qual der öffentlichen Zurschaustellung ihres Könnens ertragen und über sich ergehen lassen. 

Nur dieses eine Mal…

Beschloss sie. Ajax sprang auf: „Los geht’s! Wenn ihr drei hier weiter so rumgammelt, schlafe ich selbst noch ein!“ Er schlug Xavier neben sich leicht auf die Schulter und er kippte beinahe von der Bank. Er hielt sich am Tisch fest und grinste breit. Als er sah, wie Wednesday ihn anblickte, konnte er nicht anders: „Ich kann dich auch tragen, wenn du nicht laufen kannst.“ Augenblicklich sprang sie auf und stellte ihr Glas, den Teller und das Besteck eilig auf ihr Tablett. „Noch kann ich laufen.“, sie nahm das Tablett und setzte sich in Bewegung. Sie schien unbeeindruckt von seinem Vorschlag, doch tief in ihrem Inneren brodelte es. Die anderen folgten ihr.

---

Dieser Tag war alles andere als normal verlaufen. Wednesday wäre neben ihm beinahe die Treppe hinuntergestürzt, hätte er sie nicht am Arm festgehalten. Sie schien abwesend, beinahe so, als würde sie verdrängen, was am vorherigen Tag zwischen ihnen passiert war und es machte ihn wahnsinnig. Bianca übte in den Gängen in jeder freien Minute ihre Tanznummer. Eugene quälte alle in den Pausen mit seinen schiefen Klarinettentönen. Die Schule schien wie ein Zirkus, alle verhielten sich wie Clowns.

Mrs. Ashton hatte sie zu alldem Chaos noch einen unangekündigten Test schreiben lassen und noch nie hatte er Wednesday so empört erlebt. Ihre Schimpftirade über den Test und die Tatsache, dass sie beim Ausfüllen der Fragen fast mit dem Kopf auf dem Tisch aufgeschlagen wäre, würde er so schnell nicht mehr vergessen. Nach der Stunde liefen sie gemeinsam in Richtung der Wohnheime. Noch immer schimpfte sie: „Mrs. Ashton sollte ihre Prioritäten klären. Entweder verdonnert sie Schüler dazu, an einem völlig unnötigen Wettbewerb teilzunehmen. Sie und Moody hatten beide auf mich eingeredet.“, mit großen, nervösen Augen blickte sie zu ihm. „Oder sie lässt uns einen Test schreiben. An einem Tag, an dem alle vollkommen durchdrehen!“, sie lief so schnell, dass Xavier kaum hinterherkam, „Auch wenn ich jede Antwort gewusst habe, ich glaube nicht, dass die anderen genug Zeit hatten, zu lernen. Es ist unfair, unnötig und vollkommen…“ Er packte ihren Arm und zog sie sie eilig hinter sich her durch die beiden Schwingtüren der Bibliothek, an der sie soeben vorbeigelaufen waren. 

Sie war still und hatte sofort vergessen, was sie sagen wollte. Wednesday blickte kurz über die Regale und den Raum. Niemand war da, sie waren allein. Ihre Augen blieben an dem grünen Buch hängen, das weit oben im linken Regal stand. Die Erinnerung an ihre Nacht in der Kammer kam schlagartig zurück wie ein süßer, vertrauter Duft. Ihre Wut über Mrs. Ashton war verflogen, war sie doch nun vollkommen eingenommen von einem anderen Gefühl.

Xavier ignorierte alles um sich herum und starrte sie an: „Was ist los? Du bist irgendwie…“ Er fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. „Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Gestern?“ Er flüsterte.

„Gestern?“, fragte sie verwundert nach. Wednesday bekam das Wort kaum heraus, als sie sah, wie besorgt er war. Sie hatte nicht bedacht, dass er sich Sorgen machen könnte. „Nein nein… es ist alles gut. Ich bin nur müde und seltsamerweise …“ „Nervös?“, vollendete er ihren Satz. „Ja… nervös.“ „Warum? Wegen der Show? Das sollte dich doch absolut kalt lassen oder nicht?“ Er blieb still vor ihr stehen, auch wenn der Wunsch nach Nähe zu ihr in seinen Knochen brannte. Xavier wollte sie keineswegs einschüchtern, hatte er doch unglaubliche Angst, dass er am Abend zuvor zu weit gegangen war. 

Doch dann, als sie sah, wie seine Augen voller Sorge glänzten, setzte sie sich in Bewegung. Sie kam auf ihn zu und hob ihre rechte Hand. Sie legte ihre Finger auf seine Wange: „Seitdem ich hier bin…“, sie stotterte, „Seitdem ich dich kenne, lässt mich nichts mehr kalt… so viel steht fest.“ Er atmete erleichtert auf, legte seine Hände auf ihre Hüften und zog sie sanft zu sich. Für einen kurzen Moment sah sie an ihm vorbei, direkt zu dem grünen Buch, das zur versteckten Kammer führte. Dieses Mal ertappte er sie dabei. Er sah ebenfalls hin für einen Augenblick. Mit tausend Fragen in seinem Kopf sah er wieder zu ihr, die Sorge in seinem Blick verwandelte sich im Bruchteil von Sekunden zu einem feurigen Verlangen voller Erwartung und Vorfreude. Er wagte es nicht, es auszusprechen, was ihm im Kopf umherschwirrte.

Sie sah es ihm an, an der Art wie seine Brauen zuckten, wie er immer wieder auf ihren Mund starrte. Wednesday handelte wie besessen, von einer fremden Macht gesteuert. Sie griff mit ihren Händen nach seinen Oberarmen und schob ihn nach hinten, immer weiter Richtung Regal. Sie warf ihn hart gegen das Holz, so fest, dass er sich den Kopf an einem der Regalböden anschlug. Er grinste schmerzverzerrt: „Das hat wehgetan.“ „Gewöhn dich dran.“, ihr Lächeln schien beinahe wahnsinnig, wie das einer Verrückten. Sie stieg mit ihrem Fuß zwischen seinen Beinen auf eines der unteren Bretter und kletterte hinauf. Nervös verfolgte er ihren Bewegungen. Ihr Körper rutschte an ihm vorbei, er hob seine Hände an, aus Angst, dass sie stürzen könnte. Ihre Nähe war berauschend und trieb ihm die Hitze ins Gesicht. Sie griff nach dem grünen Buch, sprang wieder nach unten und die Tür öffnete sich hinter Xavier. Er drehte sich kurz um. 

Und dann sprang sie ihm entgegen, sie tippelte auf Zehenspitzen und hielt ihn fest. Ihre Lippen lagen auf Seinen und er fiel beinahe nach hinten in die Kammer. Sie schob ihn mit ihren Küssen in die Dunkelheit. Wieder schlug er hart mit seinem Rücken gegen die Wand. Sie löste sich von ihm, um die Tür wieder zu schließen.

Es war mit einem Mal stockfinster. Für einen kurzen Moment war es still, keiner von beiden wagte auch nur die kleinste Bewegung. Xavier, der noch außer Atem war, hauchte ihr schließlich entgegen: „Was… was hast du vor?“ „Ich habe keine Ahnung.“ antwortete sie ihm ehrlich. Sie sprang ihm entgegen, ohne auch nur eine Kleinigkeit von ihm sehen zu können. Er beugte sich zu ihr hinunter und sie küssten sich, ganz intuitiv hatten sie sich in der Dunkelheit gefunden. Seine Hände waren überall. Sie vergrub ihre in seinen offenen Haaren und er verlor fast den Verstand, waren all seine Sinne im Dunkel der Kammer doch auf Hochtouren.

Er verfluchte sich selbst, seine Eltern, wegen denen er so groß geraten war. Also hob er sie hoch, so als wäre es nichts, so als wäre es die normalste Sache der Welt. Er drückte sie gegen die Tür, mit ihren Beinen umklammerte sie ihn und ohne auch nur einmal abzusetzen, küsste sie ihn. So als würde ihr Leben davon abhängen, so als wäre er das Heilmittel gegen all das Böse, was ihr jemals widerfahren war, all das Übel, das sich in ihrem dunklen Herz eingenistet hatte. 

Zwischen ihren Küssen versuchte sie ihm etwas zu sagen. Er machte sich einen Spaß daraus, sie dabei immer wieder zu unterbrechen. „Xavier Thorpe… hiermit…“, er küsste sie wieder, dieses Mal länger, „beschließe ich…“, sie lachte in seinen nächsten Kuss hinein, „dass diese Kammer fortan…“, wieder unterbrach er sie, „unser Versteck sein wird für…“. Sie hielt inne, hatte er doch wieder versucht, sie zu küssen und dann aber kurz vor der Berührung gestoppt.

Erwartungsvoll sah sie ihn an. Sie konnte nun langsam sein Gesicht erkennen, seine Augen waren tiefschwarz, sein Blick so innig, dass sie nicht weitersprechen konnte. „Für was?“, hakte er flüsternd nach. Sie ließ seine Schultern los und legte ihre Hände auf sein Gesicht. Sie näherte sich ihm ganz langsam, um ihn zu ködern. Er blieb starr, wartete er doch immer noch auf eine Antwort. „Für das hier. Unser Geheimnis.“, sie legte sanft und zart ihren Mund auf seinen. Es fühlte sich an wie eine Entschuldigung für ihre Grobheit, für die beiden Male, die sie ihn gegen die Wand geworfen hatte. Seine Küsse waren Zustimmung genug, die Art, wie er sie festhielt an ihren Hüften und Beinen.

Xavier fühlte sich so, als würde er fliegen, fallen, leben und sterben im selben Augenblick. Wednesday war sein Antrieb, sein Lebenselixier, aber auch sein Untergang, sein wahrgewordener Alptraum, hatte sie doch so viel Macht über ihn. Seine wahrgewordene Melancholie, seine so sehr geliebte Depression und bipolare Störung, für die er leben, aber auch sterben würde.

---

Xavier ging nervös im Gang auf und ab. Er hielt sich sein Smartphone an das rechte Ohr, seine Finger zitterten, hielt er es doch beinahe schon fast 5 Minuten auf diese Weise fest. Keine Reaktion. Sein Vater war scheinbar spurlos verschwunden. 

Oder er geht mir aus dem Weg…

Er wusste, dass sein Vater dazu fähig war, ihm einige Schritte voraus zu sein. Er konnte ihm nie etwas vormachen. Seine Fähigkeit, die Zukunft und die Vergangenheit zu sehen und seine Visionen beinahe auf Knopfdruck herbeizurufen, hatten es ihm als Sohn nicht gerade einfach gemacht. Viele Male hatte Vincent Thorpe vorhergesehen, woran Xavier noch nicht einmal gedacht hatte. Wie, als er als 12-Jähriger in das verlassene Haus nebenan einbrechen wollte, direkt auf dem Nachbargrundstück ihres Anwesens oder mit 15, als er in den Sommerferien das Auto eines Freundes fahren wollte ohne Führerschein. Die Möglichkeit bestand also, dass sein Vater davon wusste, dass er und Wednesday ihm, dem Stalker und auch Moody auf den Fersen waren.

Doch warum sollte mein Vater einen Stalker beauftragen? Warum Moody? Warum Wednesday?

Das alles war ihm ein Rätsel. Er schaltete sein Telefon aus und steckte es in seine Jacke, geführt von Verzweiflung und Sorge. Bianca eilte plötzlich an ihm vorbei, sie trug ein schwarzes, enges Outfit und ging in Richtung der riesigen, hölzernen Doppeltür des Versammlungssaales. Sie blickte sich kurz zu ihm um: „Beeil dich, es geht gleich los.“ Er nickte ihr entgegen und dann war sie auch schon verschwunden. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und über die Augen. Der Schlafmangel machte dieses Chaos nicht gerade erträglicher. 

Das Einzige, was ihm jetzt noch Halt gab, war Wednesday. Ihr Versprechen, dass sie ihm beistehen würde, ihm helfen würde, seine Fähigkeit zurück zu bekommen. Das Einzige, was ihm Halt geben würde, war die Tatsache, dass sie fast eine Stunde küssend und lachend in dieser dunklen Kammer verbracht hatten. Noch immer haftete ihr Duft an ihm, noch immer konnte er spüren, wie leicht sie gewesen war in seinen Händen. Er fühlte sich maßlos inspiriert und wäre am liebsten gemeinsam mit ihr in seinem Atelier verschwunden, um weiter an dem Portrait zu arbeiten. Allein zu zweit, mit Musik, die sie beide mochten, Wednesday mit offenen Haaren und schüchternen Blicken, so wie beim letzten Mal.

Doch etwas weitaus Wichtigeres stand auf dem Plan. Und nun war er es, der für sie da sein musste. Er ging geradewegs zur großen Tür und huschte hinein. Der Saal war dekoriert, überall hingen Girlanden und Lampions in den Farben der Schule. Die Sitzreihen waren beinahe alle gefüllt. Er lief eilig im Mittelgang weiter nach vorn. In der dritten Reihe winkte ihm schließlich Enid entgegen. Sie hatte ihm einen Platz freigehalten. Er setzte sich neben sie und mit einem Mal bemerkte er, wie angespannt er war. Seine Beine zitterten und vor lauter Aufregung wusste er nicht, wohin mit seinen Händen. Also verschränkte er seine Arme und blickte sich nervös um.

„Du bist nervös.“, flüsterte Enid ihm zu. „Ja. Scheint so.“, er hielt seine Antwort kurz, um vor ihr zu verstecken, dass einige Dinge im Gange waren, von denen Enid nichts wusste. „Sie ist auch nervös.“ Und auf einmal hatte sie seine Aufmerksamkeit, er sah sie nun an: „Du meinst Wednesday?“ „Ja. Wen sonst, Blitzmerker?“ Er ignorierte ihre kleine Beleidigung. „Sie hat sich verändert… ich denke, die alte Wednesday hätte das alles absolut nicht interessiert. Ich glaube fast, heute Abend wird die einzige Überraschung sein, dass sie nervös ist… keine Explosionen, kein Feuer wie bei ihrem letzten Auftritt.“, stellte Enid fest.

Xavier lachte in sich hinein: „Da hast du wohl Recht. Schade eigentlich. Wäre sicher eine gute Show geworden. Ich bin jedenfalls auf alles gefasst.“ Enid lächelte, wusste sie doch ganz genau, was Wednesday geplant hatte. Sie hielt ihren Kommentar zurück, der ihr auf der Zunge brannte. Also schwiegen sie für einen Moment und beobachteten beide, wie die Bühne vor ihnen weiter vorbereitet wurde. 

Enid zappelte nun auch mit ihren Fingern: „Ajax wird sicher super sein.“ Xavier schüttelte mit einem Grinsen seinen Kopf: „Davon gehe ich aus, er übt bereits seit Wochen.“ „Ist schon ärgerlich, wenn man hoch motivierte und talentierte Mitbewohner hat.“, sagte sie. Und nun lachten sie beide. „Da haben wir wohl was gemeinsam.“, stellte er fest. Enid blieb für einen Moment still und beugte sich dann etwas zu Xavier hinüber. Ihre Worte nur noch ein Flüstern, wurde es doch allmählich ruhiger im Saal. „Wir haben noch etwas gemeinsam.“

Er zog neugierig seine Brauen nach oben. „Wir beide sind vollkommen vernarrt in sie… wir sind Mitglieder im Club „Ich liebe Wednesday Addams.““ Er setzte sich ruckartig auf in seinem Stuhl, als er hörte, was Enid ihm da erzählte. Seine Ohren färbten sich dunkelrot und er verschluckte die Worte, die er sagen wollte, als Enid einfach weitersprach. „Und ich will, dass das so bleibt…“ Als Xavier nervös auf die Bühne starrte, sprach sie weiter: „Sieh mich an Xavier.“ Er gehorchte eingeschüchtert. „Wenn du ihr wehtust, dann …“ „Bringst du mich um?“, vollendete er ihren Satz. Sie zwinkerte ihm zu und er sprach weiter: „Keine Sorge, du musst dir die Hände nicht schmutzig machen. Wenn ich es vermassel, übernehme ich das selbst.“ Sie lachte laut auf und alle drehten sich nach ihr um. Peinlich berührt hielt sie sich die Hand vor ihren Mund. Xaviers Antwort gab ihr die letzte Sicherheit, die sie noch gebraucht hatte. Enid wusste nun, er war das perfekte Gegenstück für ihre beste Freundin. 

Nun wurde es still. Mr. Moody betrat die Bühne und begrüßte alle Anwesenden. Xavier musterte den Mann von oben bis unten und blieb mit seinem Blick schließlich an dem Ring hängen. Er löste seine verschränkten Arme und fuhr sich nervös mit den Händen über die Oberschenkel. Dann griff er in seiner Jackentasche nach etwas. In seiner Hand hielt er eine kleine, blaue Blume aus Papier. Er drehte sie in seinen Fingern hin und her und starrte auf die Bühne. Enid lehnte sich zu ihm und flüsterte: „Was ist das?“ Er sah sie nicht an und flüsterte so leise, dass sie es kaum verstand: „Eine sibirische Schwertlilie… aus Papier.“ „Ist die für Wednesday?“ Xavier sah kurz zu seiner Sitznachbarin, seine großen Augen waren Antwort genug.

Er dachte zurück an die vergangene Nacht. Ganze zwölf Mal hatte er versucht, diese Blume zu falten. Hätte man ihm vorher gesagt, dass Origami eine japanische Art der Folter ist, wäre er lieber in den Wald gelaufen und hätte ihr welche gepflückt. „Der Grund, warum ich heute Nacht nicht geschlafen habe…“ Enid lächelte: „Sie ist bezaubernd. Sie wird ihr gefallen.“ Und dann sprach Moody die Worte aus, auf die Enid die ganze Zeit gewartet hatte.

„Beginnen wir unseren wunderbaren Abend mit Ajax Petropolus.“ Enid klatschte wie wild in die Hände, die anderen Lehrer und Schüler stimmten mit ein und Xavier war mehr als erleichtert, als Moody endlich die Bühne verließ. Ajax kam auf die Bühne gelaufen, in seiner rechten Hand hielt er eine Gitarre. Er setzte sich auf den Stuhl in der Mitte der Bühne. Nervös blickte er über die vielen Gesichter, die ihn anstarrten und schließlich begann er zu spielen.

Xavier kannte die Nummer, hatte er doch die letzten Wochen immer wieder ein und dasselbe Stück geübt. Es war ein spanischer Flamenco, der Name des Liedes erinnerte an ein alkoholisches Getränk, doch genau entsinnen konnte er sich nicht. Das Lied war ruhig, romantisch und er spielte fehlerfrei. Wie gern hätte er Wednesday, die irgendwo versteckt in dem Raum neben der Bühne sein musste, zum Tanz aufgefordert. Er war sich sicher, dass sie diese Art von Musik lieben würde, genauso wie das Tanzen dazu.

Xavier spannte seine Muskeln an, als Ajax eine schwierige Stelle meisterte. Er konnte deutlich spüren, wie Enid neben ihm dahinschmolz und mit einem Mal war er heilfroh, dass sein bester Freund sich glücklich schätzen konnte, so eine mitfiebernde Freundin zu haben. Enid sprang auf und klatschte in die Hände, als die letzten Töne des Stückes verhallt waren. Alle anderen stimmten mit ein und der Jubel überrumpelte Ajax. Er strahlte und nickte dankend seinem Publikum zu. Schließlich winkte er kurz zu Enid, die heller strahlte als die Sonne und er verschwand schließlich wieder von der Bühne.

Immer wieder betrat Moody die Bühne, um die nächste Nummer anzukündigen. Bianca folgte. Sie hatte eine Stepptanznummer vorbereitet. Wie zu erwarten war, lieferte sie den Tanz fehlerfrei ab. Auch sie strahlte über beide Ohren. Sie verbeugte sich und machte Platz für Eugene. Xavier und Enid sahen sich kurz besorgt an, wussten sie doch beide, dass Eugene nicht der beste Klarinettist war. Er kämpfte sich durch das Stück, viele Töne kamen nur schwach und immer wieder schief aus dem Instrument. Er setzte an ein paar wenigen Stellen neu an, meisterte die Nummer aber weitestgehend. Er war sichtlich stolz und der überschwängliche Jubel ließ ihn erstrahlen. Seine Mitschüler waren allesamt gnädig mit ihm und feierten ihn, auch wenn er alles andere als perfekt gespielt hatte. 

Es folgten weitere Auftritte, so wie auch Jolenes einstudierte Ballade. Sie hatte ein Liebeslied vorbereitet, so viel stand schon einmal fest, als sie auf die Bühne kam. Sie trug ein übertriebenes, rotes Abendkleid und als sie sich direkt in die Mitte der Bühne stellte, schenkte sie ihren Zuschauern einen leidvollen Blick, so als würde sie gleich tot umfallen. Erst als sie anfing zu singen, erkannte man, dass ihre zitternden Brauen Teil der Nummer waren. Sie hob auf dramatische Weise ihre Hände in die Höhe, um die Töne, die sie sang zu untermauern. Xavier versank voller Scham in seinem Sitz. Enid konnte nicht anders, als ihn grinsend zu beobachten.

Jedes Wort war eine Qual, jeder Ton eine Folter. Enid beugte sich zu ihrem Sitznachbarn und flüsterte ihm zu: „Jemand sollte sie von ihrem Leid erlösen.“ Er rieb sich mit den Händen über die Augen, um sich zu beruhigen, sonst hätte er vermutlich laut losgelacht. Er sah zwischen seinen Fingern in Richtung des Raumes neben der Bühne. „Ich wüsste da jemanden…“, flüsterte er zu sich selbst, als er sie plötzlich erblickte. Gebannt und hypnotisiert ließ er seine Hände sinken. Er sah Wednesday, die bereits neben der Bühne mit ihrem Cello wartete. Alle Augen waren auf die Bühne gerichtet, auf Jolenes Auftritt, außer Xaviers. 

Er sah nur zu ihr und inspizierte jeden Zentimeter ihres Körpers. Jolenes unerträglicher Gesang war verstummt in seinem Kopf, da war nur Stille. Wednesday hatte die Haare hochgesteckt, so wie beim Rabentanz im vergangenen Schuljahr. Sie trug ein schwarzes, langes Kleid, dass sich eng an ihren Körper schmiegte. Breite Träger hingen locker über ihren Schultern, ihr Hals und ihre Schultern waren vollkommen unbedeckt, sodass man deutlich die Narbe auf der linken Seite sehen konnte. Seine Narbe, seine Markierung, sein Symbol, das Wednesday bis zum Ende ihrer Tage tragen würde.

Er schluckte, als sie plötzlich seinen Blick suchte. Beinahe verschämt sah sie schnell zurück zur Bühne. Auch wenn es dunkel war, konnte er aus der Ferne sehen, dass sie lächelte, wenn auch nur ein bisschen. Wieder sah sie zu ihm. Sie verdrehte ihre Augen, zog die Brauen zusammen und nickte zur Bühne. Xavier genoss es, wie sie versuchte ihm zu sagen, dass sie kurz davor war, auf die Bühne zu springen, um Jolene zu enthaupten. Wie gern hätte er es gesehen und nach ihrem Ende vor Jubel aufgeschrien. Doch nichts passierte. Jolene beendete ihr Lied und das Publikum applaudierte. Moody, der über das ganze Gesicht grinste, eilte wie ein Trottel auf die Bühne und küsste seine Tochter voller Stolz auf die Wange. 

Jolene verschwand und man konnte spüren, dass der gesamte Saal unglaublich dankbar darüber war. Moody blieb auf der Bühne. „Und nun meine Damen und Herren, liebe Lehrer und Schüler. Kommen wir zu unserem nächsten Programmpunkt. Heißen sie mit mir willkommen. Miss Wednesday Addams.“ Moody klatschte in die Hände, während sich alle anderen in ihren Sitzen neu positionierten und schließlich in das Klatschen einstimmten. Xavier konnte nicht anders, als wie ein Verrückter zu applaudieren. Die Papierblume hatte er auf seine Beine gelegt. Wednesday kam mit ihrem Cello in den Händen auf die Bühne. Im Scheinwerferlicht erst konnte man gänzlich ihre Schönheit sehen. Xaviers Klatschen verstummte und er räusperte sich, steckte ihm doch ein riesiger Klos im Halse fest. Enid schubste ihn mit ihrem Ellenbogen in die Seite: „Sie ist wunderschön.“ 

Das ist sie… 

Seine Gedanken spielten verrückt. Er sagte kein Wort, war er doch mit einem Mal unglaublich aufgeregt. Wednesday setzte sich auf den Stuhl und platzierte das Cello vor ihrem Körper. Nach außen schien sie kalt, distanziert, so wie immer. Doch Enid und Xavier kannten sie. Sie sahen die Details, die keiner sonst bemerkte. Ihre Brauen zuckten leicht, ihr linker Fuß wippte auf und ab und sie blinzelte. Und wie sie blinzelte.

Moody wandte sich kurz zur ihr: „Miss Addams. Möchten Sie uns etwas über das Stück erzählen, welches sie heute vortragen werden?“ Überrumpelt sah sie zu Moody. Sonst hatte er niemandem der vorherigen Schüler und Schülerinnen eine Frage gestellt. „Nein.“, antwortete sie schnell und direkt. Ihre Miene starr. Moody, der perplex in die Gesichter des Publikums blickte, gab sich geschlagen. Er wollte sich nicht vor allen auf eine Diskussion mit ihr einlassen und verließ entwaffnet die Bühne. 

Xavier setzte sich erneut auf, um besser zu sehen und nahm die Lilie zwischen seine Finger. Wieder drehte er sie hin und her. Auch wenn sie einige Meter entfernt voneinander waren, auch wenn sie ihn von der Bühne aus kaum sehen konnte, waren sie miteinander verbunden. Seine Knie zitterten im ähnlichen Takt wie ihre und dann begann sie zu spielen.


Notiz: Ich hoffe, mein neues Kapitel hat euch gefallen. Hier das Lied, welches Ajax vorgetragen hat: https://youtu.be/dng9cSDUmuY Bleibt dran. Es wird spannend.

Continue Reading

You'll Also Like

286K 21.5K 51
Shirin ist auf dem Weg einen neuen Abschnitt in ihrem Leben zu beginnen. Weg aus der Kleinstadt, welche man schon als Dorf bezeichnen kann. Mit ihren...
40.3K 605 15
-Darkromance- -Start:22.2.24- Als Amaya endlich auf die neue Schule kam, dachte sie es wird wie vorher. Mr Martinéz, ihr neuer Lehrer, macht ihr da...
21.3K 1.1K 13
𝑩𝒂𝒏𝒅 𝟑 Enisa die Tochter eines albanischen Mafia Bosses, der sich in dieser Branche nicht beliebt gemacht hat. Sie muss sich für ihre Rechte und...
4.1M 124K 52
Während manche Teenager sich das Ziel gesetzt haben ihren letzten Highschool Jahr zu genießen und so viele Erfahrungen zu sammeln wie möglich, gibt e...