Woe is me, my love

By FeyGalaxy

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Das nächste Semester in Nevermore steht an. In der Zwischenzeit war kein Tag vergangen, an dem Wednesday nich... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30

Kapitel 25

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By FeyGalaxy

Der Tag wollte einfach nicht enden. Die Stunden zogen sich. Xavier konnte dem Unterricht nicht mehr folgen. Jedes Mal, wenn ein Lehrer oder Mitschüler ihn ansprachen, hatten die Worte ihn aus seiner Trance gerissen, aus seinem Tagtraum, der nur von ihr handelte. Die Erinnerung an die vergangene Nacht würde auf ewig in seinem Kopf eingebrannt bleiben. Auch nach Jahren, Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten würde er sich an jedes Detail erinnern können, da war er sich sicher.

An ihre roten Wangen, die kleinen losen Haare aus ihren Zöpfen, die im Wind auf und ab tanzten, ihr kleiner Körper, eng an Seinem und der Geschmack des Whiskeys, den er immer noch auf seinen Lippen schmecken konnte. Ihre Küsse, ihre dunklen Augen, die tiefschwarz gewesen waren, wie zwei schwarze Löcher, welche ihn komplett verschlungen hatten. All das würde er nie vergessen. Und nun saß er da und starrte auf die Uhr, zählte die Sekunden, bis sie sich endlich wiedersehen würden. Allein in seinem Atelier.

Wednesday erging es ähnlich. Ihre Neugier auf das, was Xavier da geplant hatte, machte es ihr jedoch noch schwieriger, den Tag schnell hinter sich zu bringen. Sie wollte rational bleiben, durch eine gekonnte Analyse der vergangenen Nacht herausfinden, was er im Atelier vorhaben könnte. Doch nach allen Überlegungen landete sie in ihren Gedanken immer am selben, vollkommen irrationalen Punkt, der sie kein Stück weiterbrachte. Es war frustrierend.

Er ist wie eine Droge… und ich bin süchtig…

Sie drehte sich im Kreis. Sie wollte sich an seine Worte erinnern, doch alles was ihr einfiel, war das helle Weiß des Mondlichts, das sein Gesicht so zerbrechlich aussehen ließ. Sie wollte sich daran erinnern, was Mr. Daniels zu ihnen gesagt hatte, doch alles was ihr einfiel, waren Xaviers Lächeln und seine Hände auf ihrem Gesicht, als er sie immer wieder geküsst hatte. Sie wollte sich sogar daran erinnern, was Bianca zu ihr gesagt hatte, doch alles was ihr einfiel, war der Moment, als er die Treppen hinunterkam, sie ihn in diesem Hemd gesehen hatte, während dieses wundervolle Lied in der Bibliothek von den Bücherregalen widerhallte.

Aus rational wurde emotional und das war absolutes Neuland für Wednesday Addams. Also entschied sie sich dazu, bevor sie zu Xavier ins Studio gehen würde, müsste sie nochmal in ihr Zimmer gehen. Sich vorbereiten, umziehen, neue Zöpfe flechten und aufgeregt im Raum auf und ab gehen. 

Gesagt getan. Enid folgte ihren nervösen Schritten. Sie saß auf ihrem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Immer wieder sah sie auf zu ihrer Freundin. „Ich würde dir ja sehr gern einen Rat geben… so wie es aussieht, könntest du einen gut gebrauchen…“, Enids Worte waren so beiläufig, dass man meinen konnte, sie würde Selbstgespräche führen. Wednesday ignorierte sie. Sie war dabei, den Reißverschluss ihres Kleides zuzuziehen. Das Kleid, welches sie am ersten Tag in Nevermore getragen hatte. Es war ihr Lieblingsstück, darin fühlte sie sich wohl. Und für ihr Treffen mit Xavier stand Wohlfühlen für sie an erster Stelle. Enid sprach weiter: „Aber da du ja nicht mit mir über Xavier reden möchtest, kann ich dir da wohl leider nicht weiterhelfen…“ 

Wednesday blieb nun plötzlich starr vor dem Bett ihrer Mitbewohnerin stehen. Was folgte, war ein alles verändernder Monolog, wie ihn die Welt von Wednesday Addams noch nie gehört hatte. Sie starrte Enid an und gestand ihr monoton: „Ich bin eine Süchtige. Vollkommen krank und vernarrt in eine Person, die nicht ich selbst bin. Ich kann nicht mehr klar denken, nicht mehr analysieren, nicht mehr artikulieren, nicht mehr laufen oder stehen, sitzen oder liegen, nicht mehr sein, ohne an diese Person zu denken. Es gibt plötzlich nicht mehr richtig und falsch, es gibt nicht mehr Schwarz und Weiß, sondern nur noch Grau. Dasselbe Grau wie die Jacke, der er gestern getragen hatte und ich kann mir nicht helfen, doch mit einem Mal ist es die schönste Farbe, die ich je gesehen habe…“ Sie atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen.

Enids riesige Augen, die mit jedem Wort ihrer Freundin größer geworden waren, durchbohrten sie. Sie räusperte sich und schließlich entfaltete sich in ihrem Gesicht ein riesiges Grinsen: „Ähm dann sage ich mal Gratulation… du bist ein normaler Teenager…“ Wednesday drückte mit ihren Händen gegen ihre Schläfen, die immer noch pulsierten. Ein langer Seufzer sollte den Schmerz in ihrem Kopf endlich überdecken, doch ihre Freundin macht es nur noch schlimmer. Denn Enid fügte ihre Aussage noch hinzu: „… und verliebt.“

Sie schnappte sich ihren Rucksack und lief geradewegs an Enid vorbei, direkt aus der Tür hinaus. Sie eilte kopflos und vollkommen ohne Plan durch die Gänge und rannte auf ihrem Weg beinahe Jolene über den Haufen. Augenblicklich ging sie einen Schritt zurück, um sich von ihr fernzuhalten. „Keine Sorge, ich beiße nicht.“, sagte sie zu ihr mit einem falschen Lächeln auf den Lippen. „Aber ich vielleicht.“, Wednesdays Augenbrauen zuckten.

„Ich weiß zwar nicht, was los ist, aber ich habe den Eindruck, dass du mich nicht besonders leiden kannst…“, Jolene entfernte sich ebenfalls ein Stück von ihr und lief seitlich an ihr vorbei. „Gut geraten. Und da du das nun weißt, will ich dir eins sagen. Halte dich fern aus meinem Kopf. Und aus den Köpfen der Anderen, am Ende könntest du etwas entdecken, was dir ganz und gar nicht gefällt…“ Jolene wurde neugierig: „Achja und was soll das sein? Dass Xavier ein wundervolles Bild von mir erschaffen wird?“

Wednesday blieb eiskalt, keine noch so kleine Regung war auf ihrem Gesicht zu sehen, doch innerlich kochte sie vor Wut: „Nein… ich denke da an Qualen, Folter, Tod und die Hölle.“ Bei jedem Wort ging sie einen Schritt auf Jolene zu, ihre Stimme scharf wie Rasierklingen. Als sie schließlich ganz nah vor ihr stand und die Angst in Jolenes Augen deutlich zu erkennen war, fühlte sie sich ihr maßlos überlegen, auch wenn die schöne Blondine einige Zentimeter größer war als sie. Sie schwieg und musterte Wednesday und ihren undurchschaubaren Blick: „Wenn du das sagst…“ Mehr gab sie nicht Preis. Aber Wednesday hatte es deutlich gesehen. Jolene führte etwas im Schilde und es ging um Xavier. Dann sah sie nur noch zu, wie sie das Weite suchte. Wednesday wandte sich schnell wieder um und ging eilig in Richtung Haupteingang.

Ich behalte sie im Auge… vielleicht sollte ich Spitzel auf sie ansetzen…

Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, dass sie später alles Weitere planen würde. Jetzt hatte sie schließlich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Es stand ihr weitaus Wichtigeres bevor.

---

Der Weg zum Atelier schien endlos. Sie konnte es kaum erwarten, bei ihm zu sein, auch wenn sie absolut keine Ahnung hatte, warum. Den ganzen Tag über hatte sie gegrübelt, waren Überraschungen doch ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack. Die Hütte leuchtete im dunklen Schatten der umstehenden Bäume. Es war noch Tag, aber die Sonne war bereits dabei unterzugehen. Vor der Tür hielt sie an, man konnte aus dem Inneren Musik hören. Eine ruhige Melodie ließ den Ort noch magischer erscheinen. Sie fühlte sich so, als würde sie vor dem Tore eines geheimen Schlosses stehen. Sie zog sich nervös die Ärmel zurecht, richtete ihren Kragen und fuhr sich nochmals mit den Fingern durch ihren Pony, der ihr nach und nach immer mehr die Sicht nahm. 

Dann mal los…

Sie gab sich einen Ruck und hob ihre Hand, um an der Tür zu klopfen. Doch bevor sie es konnte, öffnete Xavier mit einem Mal die Tür, so als hätte er sie auf der anderen Seite gespürt. „Hallo…“, begrüßte er sie. Seine Augen wanderten nervös über seine Besucherin, das Kleid, das sie trug, die riesigen Augen, ihren Mund, der auf einmal dunkler wirkte als sonst, aber dennoch wunderschön war. „Hi…“, Wednesday starrte ihn an, ihre Hand war immernoch angehoben. „Komm rein…“, er trat beiseite und winkte sie zu sich herein. Sie ging hinein, nahm ihren Rucksack ab und wollte ihn auf den Boden stellen. Doch Xavier griff eilig nach den Trägern und nahm ihn ihr ab. Vorsichtig stellte er ihn auf den Tisch. 

Wednesday trat in die Mitte des Studios und blickte sich um. Vor ihr stand eine Staffelei, eine große Leinwand war darauf befestigt. Überall leuchteten Kerzen und kleine Lampen. Xavier stellte sich neben sie und blickte gemeinsam mit ihr auf seine Überraschung. Seine Finger zuckten nervös, genauso wie seine Mundwinkel als er sprach: „Ich ähm… habe gedacht…“, aufgeregt fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, kratzte sich am Hinterkopf, „… dass ich dich malen könnte… also dass du mir Modell stehen könntest…“.

Wednesday fokussierte die Leinwand, die Kerzen und auch das Radio in der Ecke, aus dem diese leise Melodie kam. Sie war überfordert, gerührt, neugierig und wahnsinnig nervös und das alles gleichzeitig. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen: „Aber du hast mich doch schon so oft gemalt, du kannst mich malen… keiner kann das besser als du. Warum also soll ich ...?“ Er unterbrach sie und lief einen Schritt nach vorn, um nach einem Pinsel zu greifen, der auf seiner Werkbank lag. „Warum ich dich trotzdem malen will?“, er drehte verspielt den Pinsel in seiner Hand hin und her und merkte dann, wie sie ihn plötzlich beobachtete. 

Er starrte auf den Pinsel und ging wie ferngesteuert auf sie zu. „Vielleicht um dich zu studieren, zu üben, um besser zu werden…“, doch er selbst wusste genau, dass das alles nur eine Ausrede war. Und schließlich schaute er ihr in die Augen und gab es auch zu: „Naja eigentlich sind das nur Ausreden…“ Wednesday fiel ihm ins Wort: „Ausreden wofür?“ Nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille sprach er weiter: „Ich möchte einfach nicht mehr Zeit mit Jolene verbringen als mit dir in diesem Jahr… nur wegen dieses dämlichen Auftrages… ich will dich malen, weil ich…“, er stotterte, „…weil ich jeden Zentimeter…“, seine Nervosität blockierte ihn, ließ ihn nicht mehr sprechen. Also beugte er sich zu ihr hinunter und legte seine rechte Hand sanft auf ihre Hüfte. Bevor er ihre Lippen mit Seinen berührte, sprach er schließlich weiter: „… weil ich jeden Zentimeter deines Gesichts verinnerlichen will, weil ich Zeit mit dir verbringen will, mehr als mit sonst jemandem.“ 

Er küsste sie zart und lang, der Pinsel fiel zu Boden und er legte nun auch seine zweite Hand um ihre Hüfte. Er zog sie an sich und Wednesday verlor den Verstand, den letzten Rest an Vernunft und Wissen, der noch in ihrem Kopf übriggeblieben war. Sie vergrub ihre Finger in seinen Haaren, zog sich an seinem Nacken hinauf zu ihm, so dass sie schließlich auf ihren Zehenspitzen stand. Dann löste er den Kuss und schielte ihr entgegen, seine Wangen rot und sein Herz voller Liebe: „Hi…“. „Hallo...“, begrüßte sie ihn nun auch nochmals. Ihr Lächeln war schöner denn je und dann sagte sie die wundervollsten Worte, die er jemals gehört hatte: „Ich würde liebend gern Modell stehen für dich…“. Er lachte auf und nickte: „Okay.“ „Okay.“, stimmte sie nochmals zu. „Jetzt?“, fragte er vorsichtshalber noch einmal nach. „Jetzt.“, strahlte sie ihm selbstbewusst entgegen.

Er ließ sie los und zog einen Stuhl unter der Werkbank hervor. Er platzierte ihn vor der Leinwand. Sie konnte deutlich sehen, wie nervös er war. „Du könntest dich auf das Sofa setzen, ganz normal… wie es für dich natürlich ist.“, verschluckte er die Worte. Und augenblicklich wurde ihr bewusst, dass er sie so malen würde, wie sie jetzt aussah und sie bekam Panik: „Soll ich vielleicht nochmal zurückgehen, was anderes anziehen? Ich beeile mich, ich wäre sofort wieder hier!“ Er ging zu ihr und legte seine Hände sanft auf ihre Wangen: „Das Kleid ist perfekt, du bist perfekt… das hast du getragen an deinem ersten Tag in Nevermore und…“, er stotterte, „… das bist du, jetzt in diesem Moment.“ Beeindruckt darüber, dass er das Kleid wiedererkannt hatte und die Tatsache, dass seine Augen im Kerzenlicht golden funkelten, ließ sie in seinen Händen schmelzen. In diesem Zustand hätte sie wahrscheinlich zu allem Ja gesagt. Sie setzte sich, versteckte einen Fuß hinter dem Anderen und legte ihre Hände übereinander auf ihre Knie.

Er nickte ihr zu und setzte sich ebenfalls. Das Schwarz ihrer Haare, die Dunkelheit in ihren Augen, ihre Lippen und schließlich auch das Kleid wirkten im Kerzenlicht noch dunkler und der helle, goldene Kontrast ihrer Haut raubte ihm den Verstand, als er sie betrachtete. Sie spürte seine Blicke überall auf ihr und dabei hatte er noch nicht einmal begonnen, zu zeichnen. In ihrem Kopf hallten seine Worte wider.

Das bin ich… in diesem Moment… aber ich bin nicht mehr dieselbe wie an meinem ersten Tag in Nevermore. So viel ist seitdem passiert. Ich habe geweint, gelacht und ihn geküsst… immer wieder… 

Wednesday wurde klar, dass sie sich verändert hatte, dass dieses Gemälde sie jetzt so zeigen würde, wie sie vorher gewesen war, wie sie am ersten Tag gewesen war.

Das bin ich nicht mehr…

Also handelte sie nach einem Instinkt, der mit einem Mal tief in ihrem Innersten erblühte. Als er seinen Blick von ihr löste und die Pinsel inspizierte, griff sie mit ihren Händen nach ihrem linken Zopf. Sie löste die geflochtenen Strähnen und entwirrte die Haare sanft mit ihren Fingern. Dann widmete sie sich dem anderen Zopf. Er sah wieder zu ihr, blinzelte mehrmals, weil er glaubte, zu träumen. Sein Mund war leicht geöffnet, das Herz schlug ihm bis zum Hals. In leichten Wellen fiel ihr dunkles Haar über ihre Schultern. So schien es viel länger zu sein.

Sie strich sich mehrmals durch die langen Strähnen und richtete ihren Pony. Es war seltsam, so vor ihm zu sitzen, hatte sie doch noch nie jemand mit offenen Haaren gesehen. Er war immer noch gebannt. Er hatte verloren, hatte das glänzende Licht auf ihrem Haar doch solch einen magischen Farbton, den er nie im Stande gewesen wäre auf die Leinwand zu bringen. Als er wie versteinert dasaß und nichts sagte, hakte sie nervös nach: „Ist das so in Ordnung? Sieht es gut aus? Ich habe keinen Spiegel, ich…“

Er erhob sich augenblicklich von seinem Stuhl und lief zu ihr. Er kniete sich vor sie und sah sie einfach nur an. „Was ist?“, sie wurde langsam ungeduldig, hatte sie doch mit einem Mal große Angst davor, sich blamiert zu haben. Er konnte nicht sprechen, saß doch vor ihm sein wahrgewordener Traum. Er nahm eine der Strähnen zwischen zwei Finger und schob sie sanft aus ihrem Gesicht. In seinem Kopf drehte sich alles und er dachte daran zurück, was er sich selbst immer geschworen hatte.

Ich würde sterben dafür, sie nur einmal mit offenen Haaren zu sehen…

Sie hatte ihm dieses Geschenk gemacht und er wusste genau, wie viel es ihr bedeutete. Was es für Wednesday bedeutete, sich jemanden auf diese Weise zu zeigen und zu öffnen. „Du bist wunderschön…“, er wollte so viel mehr sagen, so viel Bedeutenderes, die schönsten Worte, die es gab, doch sein Körper und sein Kopf waren nicht im Stande dazu. Zu sehr war er gefangen in ihrem Anblick. Er war erstarrt und rührte sich keinen Zentimeter. Sie räusperte sich: „Dann solltest du vielleicht jetzt beginnen.“ Versuchte sie ihn aus seinem Bann zu befreien und es gelang ihr. Er blinzelte auf, seine Stimme nur ein Flüstern: „Ja… entschuldige bitte… ich versuche mein Bestes…“ Er stand auf und setzte sich zurück auf seinen Platz.

Nach einigen Minuten hatte er alle Vorbereitungen getroffen und konnte nun beginnen. Um es sich selbst irgendwie leichter zu machen und seine Aufregung herunterzuspielen, sprach er nun wie ein Wasserfall: „Ich starte mit einer schwarzen Basis… ich denke, das passt ganz gut zu dir.“ Er blickte kurz zu ihr und schenkte ihr ein Lächeln. Wednesday blieb still und versank in dem Augenblick, seinen Worten, der Art, wie seine Hand sich bewegte.

„Darauf baue ich alles auf… nähere mich dir von außen nach innen… es ist, als würde ich dich schälen, Schicht für Schicht.“ „Wenn man nicht wüsste, dass du von Malerei sprichst, könnte man meinen, du würdest mich kaltblütig ermorden.“ Er lachte und konzentrierte sich auf seinen ersten Pinselstrich, während er sprach: „In gewisser Weise ja… schließlich halte ich dich gefangen auf dem Gemälde, ein Teil von dir…“, er sah wieder zu ihr: „…deine Schönheit genau in diesem Moment.“ Auch wenn er unendlich aufgeregt war und der Pinsel noch nie so sehr in seiner Hand gezittert hatte, konnte er diese Worte und Gedanken einfach nicht für sich behalten.

Sie muss wissen, wie schön sie ist…

Wednesday fühlte sich nackt, entblößt, ihr Innerstes war nach außen gekehrt und Xavier hatte die Aufgabe, es einzufangen, auf ewig festzuhalten und es zu beschützen. Die Hitze stieg aus ihrer Mitte auf in ihren Kopf, ihr Gesicht wurde immer heißer, ihre Finger immer nervöser und mit einem Mal verfluchte sie dieses Kleid, den Kragen, der immer enger zu werden schien. Sie rutschte vorsichtig auf dem Sofa hin und her, so, dass er es nicht bemerkte. 

Xavier, der nun in seine Arbeit vertieft war, schien wie in einer anderen Welt festzustecken. Ernst blickte er auf die Leinwand und zu ihr, immer wieder im Wechsel. Seine Brauen zog er streng zusammen, so als suchte er nach einer Lösung für ein Problem. Er sagte kein Wort mehr und Wednesday fühlte sich unglaublich nutzlos. Sie wollte etwas tun, ihm helfen, es leichter machen für ihn, doch mehr als dasitzen konnte sie nicht.

Also sagte sie etwas: „Es ist wirklich schade, dass deine Werke alle fort sind…“. Er sah zu ihr: „Ja das ist es…“. Seine Zustimmung machte sie unendlich traurig, war sie doch dafür verantwortlich gewesen, dass Chief Galpin und die Polizei alles konfisziert hatten. „Es tut mir leid… Xavier.“ Er sah sie an: „Das muss dir nicht…“ Ihm war ganz entfallen, dass Wednesday ihn ans Messer geliefert hatte. Er begann langsam seinen Satz von Neuem: „Du kannst nichts dafür… du wolltest Nevermore beschützen, deine Freunde, du hast nach bestem Gewissen gehandelt… jeder macht Fehler.“

Sie wurde ernst: „Ich mache nie Fehler… ich hätte es besser wissen müssen, dir glauben müssen… dieser Fehler hat mich zu einem Monster gemacht…“ Nun wandte er sich gänzlich zu ihr, legte seine Hand mit dem Pinsel kurz auf seinem Bein ab. „Nein… er hat dich nur menschlich gemacht…“, korrigierte er sie. Sie schluckte die Worte hinunter, die ihr auf den Lippen brannten. Sie holte tief Luft und versuchte sich, ihren Körper und ihre Mimik zu kontrollieren.

Für sie war er ein Geschenk, ein neuer Zugang zur Welt, zu den Menschen. Durch ihn könnte sie alles mit anderen Augen sehen, mit seinen Augen. Sie flüsterte: „Wie kann es sein, dass du alles so klar siehst…, dass du die Dinge durchschaut hast, bevor ich es konnte, dass du immer weißt, was du tust…?“ Er lachte auf, mit seinem Finger wischte er sich einen Farbklecks vom Handrücken: „Du glaubst, ich durchschaue alles und jeden? Ganz im Gegenteil… ich mache andauernd Fehler, bin impulsiv und aufbrausend, zu sensibel und nehme alles persönlich… stehe mir selbst im Weg.“ Er seufzte: „Ich denke, ich kann die Menschen ganz gut lesen… ich glaube, das habe ich von meiner Mom... Auch wenn mein Vater derjenige mit den Visionen ist.“ Traurig blickte er kurz in Wednesdays Augen und malte dann schließlich weiter. „Was ist mit ihr passiert?“, ihr war peinlich, dass sie noch nie nach seiner Mutter gefragt hatte, weder ihn noch jemand anderen. 

Er wollte eine Linie mit dem Pinsel malen, setzte immer wieder an, doch ihre Frage ließ ihn erzittern. Xavier legte den Pinsel beiseite und schob langsam seine Hände über seine Beine, so wie er es immer tat, wenn ihn etwas bedrückte. „Sie… sie hat mich verlassen… meinen Vater…“, seine Worte waren so leise, dass sie es kaum hören konnte. „Vor 5 Jahren hat sie meinen Vater verlassen und mich…“, er lachte, um seine Verletzbarkeit zu verstecken. Wednesday sah über sein Gesicht, seinen Hals, hin zu seinen Händen, die immer nervöser und schneller zitterten, genauso wie seine Knie, die auf und ab zuckten.

„Meine Eltern haben sich andauernd gestritten… wegen mir.“, er konnte es kaum glauben, dass er darüber sprach, „Mein Vater wollte mich mehr in seinem Show Business sehen, wollte, dass ich gemeinsam mit ihm auftrete, in der Öffentlichkeit stehe, meine Mom war dagegen… sie haben pausenlos diskutiert darüber, was ich tun und was ich nicht tun sollte. Mein Vater ist sehr … aufbrausend.“ Seine Augen füllten sich mit Tränen, sie konnte das Weiß darin glänzen sehen und sie entschied sich augenblicklich dafür, eine Pause einzulegen. Sie stand auf und lief zu ihm. Vor ihm blieb sie stehen, so wie beim letzten Mal, als er sich ihr geöffnet hatte, ihr erzählt hatte, dass er seine Gabe verloren hatte. Diese Hütte, sie und er, dieser Stuhl, auf dem er saß, das Reden, die Geheimnisse ihrer beider Seelen, die sie austauschten. Es war wie eine Therapie, für ihn und auch für sie. 

„Sie hat mich einfach verlassen… sie hat aufgegeben. Sie hat mich bei ihm gelassen… ich war 12 und er war… er ist…“, er konnte nicht mehr weitersprechen. Wednesday nahm seine Hände und legte sie sich um ihre Mitte. Sie drückte ihn an sich, hielt ihn fest an seinem Kopf, seiner Schulter. „Er ist das Monster in deiner Geschichte…“, führte sie seinen Gedanken fort. Sie löste ihren Griff und blickte ihn erneut an. „Und sie hat mich nicht genug geliebt, um bei mir zu bleiben oder mich mitzunehmen…“, seine Stimme war gebrochen und spiegelte sein ganzes Sein wider. Alles, was ihn ausmachte, hatte diesen einen schmerzhaften Ursprung. Wednesday hatte nie etwas Traurigeres gehört, noch gesehen. Sein Kummer zerriss ihr das Herz in tausend Teile. Sie verstand plötzlich, warum Xavier so war, wie er war und der Hass und die Wut kochten in ihr auf. Auf seinen Vater, ihre Mutter und sich selbst, hatte sie ihn im letzten Jahr doch wie Dreck behandelt.

„Es tut mir leid, so unendlich leid, Xavier… ich habe das nicht gewusst.“, sie legte ihre Stirn an seine und schloss ihre Augen. „Wie auch? Das weiß niemand… “, er hob seine Hände, legte sie sanft über ihre Ohren, die langen, dunklen Strähnen und streichelte ihr übers Haar, bis hinunter über ihre Schultern. „Und nun weißt du es und es fühlt sich… besser an.“, er versuchte ihr ein Lächeln zu schenken, schließlich hatte er nicht geplant, dass ihre erste gemeinsamen Sitzung so traurig und erdrückend verlaufen würde. Sie lächelte zurück und küsste ihn mit so viel Liebe, wie ihr schwarzes Herz aufbringen konnte. Er war erstaunt, wie ein einziger Satz von ihr, ein einziger Kuss ihn heilen konnte. Zwar nicht gänzlich, aber für den Moment und es bedeutete ihm alles. 

Er sah sie an und wackelte sanft mit seinen Händen an ihrer Hüfte: „Machen wir weiter?“ „Alles, was du willst.“, nickte sie ihm zu, ihr Mund verzog sich zu einem kleinen Grinsen, hätte man ihre Antwort doch auch falsch verstehen können. Sie ließ ihn los und setzte sich wieder auf das Sofa. Er fuhr sich mit den Händen durch die langen Strähnen vor seinen Augen und widmete sich mit neuer Kraft der Leinwand vor ihm.

Nach zwei Stunden voller schüchterner Blicke, kurzen Gesprächen und zwei unglaublich laut schlagenden Herzen, beschlossen sie, die erste Sitzung zu beenden. Voller Erwartungen sah er sie an, verfolgte jede ihrer Bewegungen, als sie sich ihre Haare schnell zu einem kleinen Zopf zusammenband. „Willst du es sehen? Es ist noch lange nicht fertig, aber…“, fragte er sie neugierig und nervös. „Nein… ich möchte es sehen, wenn es fertig bist… ich will warten, will dass die Überraschung noch größer ist.“, sie wagte sich keinen Schritt weiter, aus Angst, dass sie einen Blick von dem Gemälde erhaschen könnte.

Schnell nahm er ein großes Laken und versteckte das Bild darunter. Sie lief eilig an ihm vorbei und nahm sich ihren Rucksack. Er pustete die Kerzen aus, schaltete das Radio ab und legte noch ein paar Utensilien zurück in die Schubladen. Wednesday kramte nach ihrem Telefon, um nach der Uhrzeit zu sehen. Ihr Gefühl für die Zeit war verschwunden ab dem Moment, in dem sie die Hütte betreten hatte. 

Sie sah auf das Display ihres Smartphones. Nicht mehr lange, dann ist Nachtruhe, stellte sie mit Bedauern fest. Erst danach bemerkte sie, dass sie eine neue Nachricht hatte. Sie klickte auf das Symbol und der Chatverlauf des Stalkers öffnete sich. Er hatte ihr einen Artikel geschickt, brandneu, er stammte aus der aktuellen Ausgabe der Tageszeitung von Jericho. Ohne ihren Blick von dem Display zu lösen, flüsterte sie besorgt: „Xavier…“ Er drehte sich zu ihr, in seinen Händen hielt er mehrere Farbtuben, die er gerade aufräumen wollte. Beim Klang seines Namens erkannte er sofort, dass etwas nicht stimmte. „Was ist?“, er legte die Tuben eilig auf den Tisch und kam zu ihr. Sie las die Nachricht des Stalkers vor. 

„Fast hätte ich dich gehabt.“

Sie hielt ihm das Telefon hin und zeigte ihm den Artikel. Seine Augen scannten das Bild, den Text, die Headline. „Unbekannter überfällt junge Frau – Jericho erneut in Angst“, las er vor. Er nahm ihr das Handy nervös aus der Hand und vergrößerte das Bild, welches neben dem Text zu sehen war. Er starrte zu Wednesday und wieder zurück auf das Bild. 

Er hatte Angst, es auszusprechen, tat es dann aber doch, um es irgendwie verstehen zu können: „Sie sieht dir ähnlich, die Zöpfe, die Haarfarbe…“ Wednesday blieb starr, sie blickte ins Nichts, versuchte die neuen Hinweise einzuordnen, alles besser zu verstehen. „Du bist in Gefahr… er hat jemanden überfallen, weil er dachte, du wärst es…?!“, Xavier überflog nervös den Artikel, „Sie ist im Krankenhaus… Wednesday, das ist…“. Er blickte auf zu ihr und sah sie besorgt an. Sie blieb stumm. Ihre Stille machte ihn wahnsinnig: „Wednesday… er ist hinter dir her… wir müssen zur Polizei gehen!“ Seine lauten Worte rissen sie aus ihren Gedanken, ihrem Versuch, das Puzzle in ihrem Kopf irgendwie zusammenzusetzen.

„Hörst du mich?“, schrie er sie fast an. Sie nahm ihm das Handy wieder aus der Hand und steckte es zurück in ihren Rucksack. „Ich werden das Mädchen besuchen.“, beschloss sie im Bruchteil einer Sekunde. „Du wirst was? Nein… kommt gar nicht in Frage… wir gehen zur Polizei und melden das alles.“, er bemerkte selbst, dass er immer lauter wurde, machte ihm dieser Vorfall doch unglaublich Angst. „Die Polizei von Jericho ist das reinste Chaos, ein absolutes Desaster!!! Ich muss das selbst in die Hand nehmen. Ich werde das Mädchen besuchen und sie befragen. Morgen. Das ist perfekt, es ist Wochenende und ich kann nach Jericho fahren.“

Xavier schüttelte seinen Kopf und lief nervös auf und ab, sah immer wieder zu ihr, musterte ihre Augen, die keinerlei Emotionen zeigten. Ihm wurde klar, dass sie ihren Entschluss gefasst hatte, die Entscheidung bereits  getroffen war und es machte ihn wütend. „Und wenn das eine Falle ist… er dich genau dort haben will… in Jericho, in diesem Krankenhaus… wenn er so viel über dich weiß, wird er auch wissen, dass du selbst nachforschen wirst, dass du das Rätsel selbst lösen willst…“ „Dann habe ich die Gelegenheit, auch mehr über ihn zu erfahren. Das ist der erste eigentliche Hinweis, den ich habe… ich muss das machen!“, Wednesday setzte sich den Rucksack auf ihren Rücken und Xavier spürte, wie er sie Stück für Stück verlor, sie sich in ihren Gedanken immer mehr von ihm entfernte. Augenblicklich dachte er zurück an seinen Alptraum, ihren kalten Körper, die toten Augen. „Nein!“, sagte er schließlich. 

„Nein?“, wiederholte sie laut. Als er schwieg, sprach sie weiter: „Du kannst das nicht für mich bestimmen…!“, stellte sie fest und er fiel ihr ins Wort. „Nein, das kann ich nicht… das weiß ich, du machst, was du willst… schon klar… aber vielleicht denkst du auch einmal an mich oder deine Freunde. Ich denke, wenn Enid davon wüsste…“ Xavier wollte diese Karte ungern ausspielen. Aber er wusste genau, dass Wednesday es kaum ertragen würde, wenn Enid sich Sorgen um sie machte.

„Wir alle machen uns Sorgen um dich, du kannst nicht einfach losziehen und solche Dinge tun, nicht wenn du nun Freunde hast, Menschen in deinem Leben, denen du etwas bedeutest. Du bist jetzt nicht mehr allein auf dieser Welt.“ Ihre Augen zuckten, die Nerven in ihrem Gesicht spielten verrückt. „Du wirst ihr nichts erzählen! Ist das klar?!“, ihre Stimme zitterte vor Anspannung. Nun war sie ebenso aufgebracht wie er. Xavier hob seine Hände, als würde er sich ergeben. „Okay. Ich erzähle ihr nichts davon. Aber nur unter eine Bedingung…“ „Welche?“, hakte sie sofort nach. „Ich sage Enid nichts, wenn ich dich begleiten darf… morgen… ich komme mit!“

„Das ist Erpressung…“, sie ging stur auf ihn zu und bohrte ihren Blick durch ihn hindurch, „Und Erpressung steht dir nicht, Xavier. So bist du nicht… Ich gehe allein.“ Und nun war er es, der das Ruder in die Hand nahm. Xavier hatte seine Grenze erreicht. Er packte sie bei den Armen und schob sie selbstbewusst gegen die Wand, er beugte sich zu ihr hinunter, senkte seinen Kopf, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. So ernst und gleichzeitig wild hatte sie ihn noch nie gesehen: „Du bist nicht die Einzige, die sich verändert hat… ich habe nun etwas, wofür ich kämpfen will… ich werde dich begleiten, komme was wolle… ich werde dir helfen und du wirst es erlauben…“

Ohne auf eine Antwort von ihr zu warten, ließ er sie ruckartig los. Er trat einen Schritt zurück und senkte seine Hände. Er wollte ihr keine Angst machen und fuhr sich mit den Händen immer wieder übers Gesicht. Sie spürte keine Angst, keine Furcht und auch keine Wut mehr. Alles, was da noch übrig war, war pure Bewunderung. Bewunderung für ihn und seine Stärke, seinen Willen und seine Unnachgiebigkeit ihr gegenüber. Er war der Einzige, der so mit ihr sprach, der sie so  behandelte und er würde für immer der Einzige sein, dem sie es erlauben würde. Immer und jederzeit. Also gab sie nach. Sie tat etwas, wozu sie sonst eigentlich nie in der Lage gewesen wäre. Sie akzeptierte seine Entscheidung und nickte ihm schließlich zu. „Ich akzeptiere deine Bedingung…“ „Fein.“, sagte er erleichtert und etwas überheblich. „Fein.“, wiederholte sie ihn wieder.

Er wird mein Untergang sein…

Stellte sie fest. Nach einigen Sekunden der Stille und der unendlichen Anspannung, sprang sie nochmals über ihren Schatten. Sie starrte durch ihn hindurch: „Bringst du mich noch zu meinem Zimmer?“ Er ging auf sie zu und nahm ihre Hand, er drückte sie fest in seiner zusammen und küsste ihren Handrücken. Seine Stimme war ein Flüstern in der Nacht: „Immer.“

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