Der Kugelhagel begann viel zu schnell.
Wir hatten noch nicht viel Strecke zurückgelegt, da hatte sich der Pik König von hinten angebahnt. Er hatte sich wieder einmal an unsere Fersen gehaftet, mit der Intention, uns alle umzubringen.
Der plötzliche Schauer war der Grund, warum ich erneut von den beiden Frauen getrennt worden war.
Während sie in eine andere Richtung abbogen, schaffte ich es in Richtung Shibuya Kreuzung. Der Pik König war mir auf wundersame Weise nicht gefolgt.
Der Anblick der einst vollen Kreuzung ließ mich für einen Moment mit offenen Mund stehen. Hätte ich mich nicht so gut in Tokio ausgekannt, hätte ich es nicht glauben können.
Es war der Wahnsinn!
Alles war grün, es wuchsen Gräser, Moose und sogar Bäume!
Doch meine Aufmerksamkeit richtete sich schnell auf etwas Anderes. Es war eine Szene, die sich vor mir abzuspielen drohte.
Ein Trio...
Chishiya.
Niragi.
Arisu.
Warum war Niragi hier? Ich dachte, er wäre im Beach gestorben? Und... Warum hielt sich Chishiya die Seite? Warum hatten sie Pistolen in der Hand?
Ich versuchte, der Szene ein wenig näherzukommen. Leise umrundete ich Autos und versteckte mich dahinter, nur um zu hören, was sie sagten.
Es war eine Challenge unter Freunden, wie Niragi es nannte. Ein Schießspiel, um Leben oder Tod. Er zwang sie praktisch dazu, es zu spielen.
Als die ersten Schüsse ertönten, zuckte ich zusammen. Schnell versuchte ich mir einen Überblick zu schaffen. Shuntaro war hinter einem Auto in Deckung gegangen und stöhnte leise vor Schmerzen.
Ich konnte es hören.
Meine Vermutung, dass er verwundet war, bestätigte sich.
"Niragi! Lass die Scheiße!", rief Arisu gerade, "Hören wir auf!"
Doch der junge Mann ließ sich nicht beirren. Es war zum Verzweifeln. Arisu redete auf ihn ein, doch geriet immer und immer wieder unter Beschuss.
"Was ist hier los?", eine weibliche Stimme schallte plötzlich mit dem Wind zu uns herüber. Ich riss die Augen auf.
Nein... Usagi!
Ich- Sie stand in der Schusslinie! Ich musste ihr helfen, ich-
"Ah... Stimmt ja, dich gibt es auch noch!", Niragi kriegte plötzlich eine bedrohlich, tiefe Stimmlage.
Dann hallte ein Schuss über die Lichtung.
Usagi stolperte und fiel hin. Sie konnte nicht mehr rechtzeitig aufstehen.
Und dann...
Ein weiterer Schuss.
Dann noch einer, Niragi ging im nächsten Moment zu Boden. Arisu hatte geschossen.
Ich schrie auf, als ich sah, was sich vor meinen Augen abspielte.
Chishiya, was hast du getan?!
"Shuntaro!", hastig kam ich hinter dem Auto hervor, während Usagi bereits bei ihm war. Sie presste ihre Hand auf seine Brust...
NEIN! NEIN! NEIN! Bitte nicht... Schicksal, was soll das?! Warum?! WARUM?! Durfte ich nicht glücklich sein, musstest du mir jetzt auch noch das nehmen?!
Es fühlte sich an, als würde ich nur langsam vorwärts kommen. Ich hörte, wie er sich leise mit den Beiden unterhielt.
Er hatte es getan, weil er sich verändert hatte.
Neid, Eifersucht, Selbstwertgefühl... Er war neidisch gewesen. Er hatte es nicht geschafft, sich selbst zu verändern. Doch hier im Borderland? Hier war ihm so einiges klar geworden. Er hatte Menschen gefunden, die ihm das Gegenteil bewiesen hatten, die ihm gezeigt hatten, dass es wirklich einen Sinn im Leben gab. Er hatte-
Ein lauter Knall.
Ein Feuerwerk explodierte vor meinen Augen, ich ging zu Boden. Schmerzen lähmten meinen gesamten Körper.
Was war passiert?
"Ayuna!", war das Usagi? Zwei Arme packten mich unter den Schultern und zogen mich über den Asphalt.
"W-Was ist mit ihr?", war das Chishiya? Warum waren die Farben vor meinen Augen noch nicht weg? Warum ließ der Schmerz nicht nach?
"Oh mein Gott...", eine panische Stimme war erneut zu hören, "Ihr wurde ins Bein geschossen!"
Ins Bein? Und dann tat das so sehr weh?
"Der Pik König ist hier, wir müssen Chishiya, Ayuna und Niragi verstecken", es war Arisu. Mein Sehvermögen kehrte langsam zurück, ich konnte ihre Umrisse wieder erkennen.
Erneut wurde ich angehoben, dann aufrecht gegen etwas angelehnt. Erst später erkannte ich, dass es sich um ein Auto handelte.
Dann war es still.
Usagi und Arisu waren gegangen, sie lenkten anscheinend den Pik König von uns weg.
"Ayu?", Shuntaro schien dicht bei mir zu sein, ich hörte seine Stimme klar und deutlich.
"Shit-", war das erste Wort, was mir über die Lippen kam und er lachte leise. "Warum tut es so weh?", wollte ich leise wissen, "Du bist derjenige, dem in die Brust geschossen wurde, doch du beklagst dich kein einziges Mal!"
Ich versuchte, die anbahnende Übelkeit herunterzuschlucken. Chishiya schnaubte leise. "Dir wurde in die Wade geschossen. Glaub mir, sich am Wadenbein zu verletzten kann eine der schmerzhaftesten Sachen sein", erklärte er mir, wobei er manchmal nach Luft ringen musste.
Also legte ich meine Hand auf seine Schulter und brachte ihm zum Schweigen. Ich hatte Angst, dass er es sonst nicht schaffen würde.
Die Uhren für ihn und Niragi tickten schon. Ich wollte nichts riskieren.
Und so saßen und lagen wir da, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ich hatte meine Hand in seine gelegt, um wenigstens seine Nähe zu spüren.
Die Wärme verließ langsam seinen Körper. Es war zum Verzweifeln.
Und dann...
...dann explodierte das Luftschiff des Pik Königs. Sie hatten es geschafft. Die Hoffnung kam zurück.
Ein Luftschiff.
Wenn sie sich beeilten, konnten sie es schaffen!
Arisu... Bitte... Du musst uns helfen, du bist unsere einzige Chance!
Auch mir ging langsam die Kraft aus, ich musste teilweise darum kämpfen, damit mir die Augen nicht zufielen.
Chishiya schien es aufzufallen. Seine Hand übte auf einmal ein wenig mehr Kraft auf meine aus, obwohl er dabei zitterte.
"Das Leben steht euch noch bevor, also genießt es, hört ihr?"
"Nana hat mir immer gesagt, dass man weinen, schreien und zweifeln darf. Aber man sollte trotzdem nie vergessen, für was man kämpft. Man sollte sich immer das holen, wofür man sich eingesetzt hatte", irgendwie kam mir diese Unterhaltung gerade wieder in den Kopf.
"Warum weinst du, Ayuna?", Nana sah mir in die Augen. Ich schniefte.
"Ich, Ich kann nicht mehr! Das Leben meint es einfach nicht gut mit mir! Mein Schicksal ist gegen mich, egal was ich auch mache!" Sie lächelte leicht.
"Weißt du, Sonnenschein, das Leben ist vielseitig. Irgendwann wird dir bewusst werden, dass man immer weinen, schreien und zweifeln darf", sie strich mir über den Kopf, "Aber das bedeutet nicht, dass du einfach aufgeben darfst. Du kannst trotzdem kämpfen. Und du wirst dir holen können, wofür du dich eingesetzt hast." Ich schaute ihr in die Augen.
"Aber... Wann? Wann darf man es? Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen?", meine Stimme hallte durch die Stille, die entstanden war. Nana starrte zum Horizont.
"Nun... Das machst du für dich selbst fest, Ayuna. Finde den Punkt, wo du merkst, dass du nicht aufhören darfst zu kämpfen", dann deutete sie auf die weite Wiese, "Du wirst es wissen, ich verspreche es dir, Kind."
Chishiya brummelte leise. "Sie hatte Recht, ich weiß wirklich, wann der Punkt gekommen ist", flüsterte ich leise und begann, seine Hand ebenfalls zu drücken.
Ich musste jetzt kämpfen. Für mich, für ihn, ja, vielleicht sogar für Niragi.
Wir waren so kurz vor dem Ziel!
Die Dunkelheit bahnte sich vielleicht erneut an, aber dieses Mal gab ich nicht so einfach auf.
Stattdessen starrte ich in den wunderschönen Nachthimmel. Die Sterne waren so hell...
Und dann...
...sah ich einen Laser, der vom Himmel kam.
Gratulation! Die Spiele sind abgeschlossen!
Der Himmel wurde in ein buntes Farbenmeer getaucht.
Feuerwerke... So wunderschön!
Ich blickte zu Shuntaro, der seine Augen ebenfalls nach oben gerichtet hatte. Ich beobachtete, wie sein Gesicht durch die Leuchtreaktionen erhellt wurde.
Seine wunderschönen Gesichtszüge.
Ich beugte mich vor, dann küsste ich ihn.
Der Kuss war erneut bittersüß.
Er erwiderte ihn.
An alle Spieler wird nun eine entscheidende Frage gestellt.
Die Spieler entscheiden.
Diese Welt stellt euch ein dauerhaftes Visa zur Verfügung.
Die Spieler können annehmen oder ablehnen.
Bitte teilt eure Entscheidung nun mit!
Ich sah zu ihm. Er lächelte schwach.
"Ich denke, dass ich ablehne", seine Stimme übertönte das Feuerwerk.
"Ich lehne ab", Niragi antwortete ebenfalls.
Nun lag es an mir. Doch ich hatte meine Entscheidung bereits getroffen.
"Ich lehne das Angebot ab."
Das Letzte, was ich von dieser Welt sah, war Chishiya, der langsam seine Augen schloss.
Dann fielen mir ebenfalls die Augenlider zu.
Wer weiß, was nun passieren würde.
Aber ich hatte keine Angst mehr.
So viele Menschen waren gestorben, Freunde, Bekannte, Feinde, Familie...
Dieses Land hat mir eine Lehre gegeben. Ich habe etwas in mir entdeckt, was ich vielleicht nie verstehen würde.
Doch bei einer Sache war ich mir zu hundert Prozent sicher.
Ich war bereit für das, was noch auf mich wartete.