Nana lächelte.
In jenem Moment wusste ich, dass es ihr Plan gewesen war. Sie hatte gewollt, dass Ayumi und ich endlich vernünftig miteinander reden konnten. Sie hatte in Kauf genommen, dass sie ihr Leben verlor, nur, damit wir endlich unsere Vergangenheit hinter uns lassen konnten.
Mir wurde schmerzlich bewusst, dass sie nicht mehr gewinnen konnte. Wir waren sicher, wir hatten beide noch zwei Leben...
Ich starrte unsere Großmutter an.
Sie konnte meinen Schmerz und die Angst wahrscheinlich fühlen, denn ihre Hand nahm meine in ihre. Langsam strich sie mit ihren Fingern über meine Haut, so, wie sie es immer getan hatte.
"Seid ihr bereit für die letzte Runde, Ayu, Yumi?", fragte sie leise und wir sahen sie einfach nur an. Meine Schwester schien so langsam auch zu verstehen, was unserem Familienmitglied drohte.
Wir sahen uns an. Dann nickten wir. Wir waren bereit, auch wenn ich jetzt noch nicht an die Konsequenzen denken wollte.
Fünftes Wort für Hayashi Ayuna.
"Sonnenschein, definiere für mich bitte das Wort 'Liebe'", sie sah mich erwartungsvoll an.
Ich wusste, was Liebe war. Ich hatte es endlich verstehen können.
"Liebe ist aufregend. Es ist die Bekämpfung gegen Einsamkeit. Dabei gibt es unterschiedliche Arten, am schönsten ist jedoch die Liebe eines anderen - von einer Person, die dir so unfassbar wichtig ist, dass du sie nicht loslassen möchtest. Du würdest durch die Hölle für sie gehen. Und auch wenn er dir das Herz brechen sollte, würde man trotzdem noch Gefühle für die Person hegen. Aufgeben gibt es in der Liebe nicht, nur, wenn es wirklich ein Ende gibt."
Ich atmete auf.
Ich wartete noch auf eine Antwort, mein Herz war noch immer an eine bestimmte Person vergeben.
Ich blickte der Zukunft wehmütig entgegen.
Die Karo Königin erkennt diese Erklärung an.
Nana... Warum tust du uns das an? Du hättest einfach wegsehen können... Und jetzt würden wir dich verlieren. Ich würde den ersten Funken Liebe, den ich je erhalten hatte, wirklich nie wieder sehen.
"Warum?", schließlich rutschte mir die Frage doch raus. Nana lächelte.
"Es wurde Zeit, dass ihr endlich die Grenzen überwindet, die euch in den Weg gelegt worden waren. Findet ihr nicht, dass ihr alt genug seid, euch mit der Vergangenheit beschäftigen zu können?", sie schwieg kurz, "Es war der letzte Wunsch gewesen, den ich gehabt hatte. Und zum Glück wurde mir dieser nun endlich erfüllt. Ich danke euch."
Fünftes Wort für Hayashi Ayumi.
"Regenbogen, erkläre mir den Begriff 'Hass'...", bat sie meine Schwester. Sie schluckte.
"Hass... Eine starke Emotion, die nicht zu unterschätzen ist. Sie lässt dich Dinge tun, die du niemals tun solltest. Meistens wird es durch andere ausgelöst oder auch durch ungerechte Lebenssituationen. Eifersucht, Neid und Ungerechtigkeit sind Emotionen, aus denen Hass entsteht. Es ist also eine Weiterentwicklung, genau, wie das Leben sich auch weiterentwickelt. Hass kommt schnell, vergeht aber nur langsam. Und wenn er vergeht, kommen meistens die Schuldgefühle."
Die Karo Königin erkennt diese Erklärung an.
Es war vollbracht. Wir hatten das Spiel gewonnen. Aber zu welchem Preis?
Nana erhob sich von ihrem Stuhl und deutete uns an, ihrem Beispiel zu folgen.
Ayumi und ich standen auf, dann öffnete sie ihre Arme. Wir zögerten nicht eine Sekunde, bevor wir sie ganz fest umarmten.
Warum musste es so weit kommen?
Gratulation!
Die Spieler haben gewonnen! Ihnen wird ein neues Visa ausgestellt!
Ich schluckte meine Trauer und meinen Frust herunter. Es war ihr gegenüber nicht fair, wenn sie uns vor ihrem Tod weinen sah - es sollte nicht ihre letzte Erinnerung an uns sein.
Großmutter lächelte noch immer.
Das Spiel war nicht darauf abgesehen gewesen, dass sie überlebte.
Sie hatte ihr Leben für uns geopfert.
"Seid nicht traurig, ihr beiden. Das Leben steht euch noch bevor, also genießt es, hört ihr? Ihr könnt es schaffen, die Spiele zu beenden. Was dann passieren wird, werdet ihr erfahren, wenn es soweit ist...", sie strich uns noch einmal durchs Haar, "Und nun geht. Verlasst diesen Ort, ohne auch noch einmal zurückzuschauen. Versprecht mir, dass ihr nicht mehr zurückschaut!"
Dann stupste sie uns an. Widerwillig drehte ich mich um, Ayumi folgte meinem Beispiel. Wir waren zwei erwachsene Frauen und doch fühlte ich wieder einmal das Kind in mir, was mir befahl, Nana nicht gehen zu lassen. Es versuchte mir einzureden, dass es einen Weg gab, sie zu retten.
Doch diesen gab es nicht.
Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie liefen mir heiß über das Gesicht, während ich die aufflammenden Schluchzer unterdrückte.
Sieh nicht zurück... blicke nicht mehr zu Nana...
Neben mir schluchzte auch Ayumi auf, ich wagte es jedoch nicht, meinen Kopf in ihre Richtung zu drehen.
Und dann...
Dann mussten wir zuhören, wie das altbekannte Lasergeräusch ertönte. Alleine zu hören, wie der Strahl unserer Großmutter durch den Kopf schoss, löste in mir eine Welle an Emotionen aus. Nun konnte ich es nicht mehr zurückhalten.
I-Ich musste hier weg!
Schluchzer kamen mir aus meiner Kehle und übertönten die Stille, die im Borderland vorherrschte. Dann brach ich mittig auf der Straße zusammen...weinte, schrie...
Ich konnte es nicht wahrhaben, was gerade passiert war.
Nur Liebe konnte so wehtun.
Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken. Sie versuchte mich zu trösten, auch wenn es eine komische Atmosphäre auslöste. Wir waren nun nicht mehr zerstritten, nur, weil sie dieses schmerzliche Opfer gegeben hatte.
Sie hatte ihr Leben aufgegeben.
"Wir- ich-", Ayumi kämpfte mit ihren Worten, aber auch ich brachte kein richtiges Wort mehr zustande.
So saßen wir nebeneinander auf der Straße und weinten.
Nie hätte ich gedacht, dass es so weit kommen könnte.
Und als es schließlich dämmerte, machten wir uns auf den Rückweg. Gemeinsam zogen wir durch die Straßen, die Stille hatte uns wieder in ihren Bann gezogen.
Unsere Gedanken schweiften immer wieder ab, keiner wagte es, auch nur ein Wort zu sagen.
Deswegen sahen wir das Unheil, was über uns kommen sollte, erst zu spät.
Als die ersten Schüssen ertönten, bemerkten wir das Luftschiff des Pik Königs. Es war genau über uns.
Er war hier, wir waren genau in der Schusslinie.
"Verdammt! Renne!", rief ich aus, doch Ayumi blieb wie angegossen stehen.
"Er wird uns beide töten", flüsterte sie, "Egal, ob wir rennen oder nicht."
Nein... NEIN!
"Ayumi!", schrie ich ungeduldig, doch sie schenkte mir nur ein Lächeln. Es war das ehrlichste Lächeln, was ich je bei ihr gesehen hatte.
"Lebe weiter, Schwester. Erlebe, was du noch nicht erleben konntest... Ich habe noch eine Rechnung offen, die ich jetzt bezahlen werde", sagte sie zu mir, bevor sie sich umdrehte. Dann lief sie auf den König zu. Ich musste mit großen Augen zusehen, wie Kugeln ihren Körper durchlöcherten, wie Blut den Asphalt bedeckte.
Doch sie stand noch immer vor ihm und schränkte mit ihrem eigenen Körper seine Schusslinie ein, sodass ich nicht getroffen werden konnte.
"Worauf wartest du! RENN!", rief sie mir noch zu, dann tat ich es.
Ihnen Zuliebe.
Es war das letzte Mal, dass ich meine Schwester sah.
Es war das erste und letzte Mal, wo wir friedlich miteinander kommuniziert hatten.
Durch sie durfte ich leben.
Sie schenkte mir meine Freiheit, während sie ihre verlor.
Ich konnte nur rennen... wenn ich jetzt stehenblieb, war alles umsonst..
Das Gebäude kam immer näher...
Ich war in Sicherheit... aber zu welchem Preis?
Die Treppen zur kleinen Wohnung schienen auf einmal so steil zu sein...
Schwerfällig stieg ich sie hoch, dann stand ich vor der Tür.
Ich hatte sie beide umgebracht...
Meine Hand legte sich auf die Klinke, doch die Tür wurde im gleichen Moment geöffnet.
Und vor mir stand Chishiya.
Er sah mich an, ich blickte ihm in die Augen.
Dann kippte ich nach vorne weg. Ich spürte noch, wie sich sein Arm um meinen Körper legte, wie er meinen Namen rief, doch ich hatte keine Kraft mehr, ihm zu antworten.
Sie hatten ihr Leben gegeben, um meines zu retten.
War es Mord? Oder war es die eigene Entscheidung der beiden gewesen?
Ich wusste es nicht. Und doch...
... würde ich es nie vergessen.