STAY GOLD

By JiminsPapierflieger

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Endstation. Sieben junge Männer stranden in einer alten Ruine, gefangen in Scham, Resignation, Schuld, Wut un... More

Stay Gold - eine Reise
Wie ich zu meinen Schauplätzen gefunden habe
vorweg eine Art Mood Board
DAS WHO IS WHO
Süße Siebzehn - 01 - Träume
16 Jahre später - 02 - ein ganz gewöhnlicher Tag
03 - Berlin
04 - Selbstüberwindung
05 - Wer wohnt hier denn NOCH alles???
06 - Ja, Nein, Doch
07 - Nummer Fünf
08 - Telefonitis
09 - Der Architekt
10 - Routine
11 - Feuerteufel
12 - Das Pförtnerhaus
13 - Liebe Mama, lieber Papa!
14 - Durchs Leben tanzen
15 - Der erste Schritt
16 - aber bitte ohne Gefühl
017 - höflich geht anders
18 - zweite Chance
19 - Vorschussvertrauen
20 - wohin mit dem Kind?
21 - Wege aufeinander zu
22 - Schlafende Hunde
23 - im Schatten der Angst
24 - reinigendes Gewitter
25 - Friedenspfeife
26 - Gehversuche
27 - den Kurs bestimmen
28 - die Baustelle
29 - befreit von der Last
30 - Besuch
31 - Die Lunte brennt
32 - Katerstimmung
33 - Fortschritte
34 - Zwickmühle
036 - Nachtgedanken
37 - Sommer in Berlin
38 - Neuigkeiten
39 - Plan B
40 - Und 10, 9, 8, 7, 6, 5, ... Bäm!
41 - Nachbeben
42 - Die zweite Hälfte der Wahrheit
43 - Augen zu und durch
44 - Spurlos verschwunden
45 - Sprung ins kalte Wasser
46 - EINS zu ZWANZIGTAUSEND
47 - Würde und Respekt
48 - nächster Versuch
49 - Zukunftsbilder
50 - Leere Klappboxen
51 - Land unter
52 - Klare Verhältnisse
53 - Neuanfang
54 - Sehnsucht
55 - Aufbruchsstimmung
56 - das Loch
57 - Nichts ist mehr wie vorher
58 - 1000 Fragen
59 - Gefühls-Puzzle
60 - Warten
61 - Ein guter Tag
62 - Über den Wolken
63 - Advent in Berlin
64 - das Tagebuch
65 - vorsichtiges Aufatmen
66 - die andere Seite von Harry
67 - Medienchance - Medienfrust
68 - Durchbruch
69 - Mauern im Kopf
70 - Mauern ums Herz
71 - Türen und Fenster der Seele
72 - Schritte wagen
73 - Volle Taschen, leichtes Herz
74 - nach Hause
75 - zärtliche Nähe
76 - Endspurt
77 - Sarang Namja
78 - der Engel
79 - die Pressekonferenz - I.
80 - die Pressekonferenz - II.
81 - Mama und appa
82 - Der Countdown läuft
83 - Überraschung
84 - So-Ra
85 - vierter Advent
86 - der erste Arbeitstag
87 - Die zweite Besichtigung
88 - Glühwein im Mondschein
89 - Noch zwei Tage
90 - eine echte Überraschung
91 - Das Netzwerk der Hoffnung e.V.
92 - Dr. Harald Schuchardt
93 - Frohe Weihnachten
94 - Unterm Weihnachtsstrauß
95 - der Tag danach
96 - Sprung über den Schatten
97 - Befreiungsschlag

35 - Aufwärmübungen

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By JiminsPapierflieger

Ich kriege es mit. Namjoons vergnügtes Kichern weckt mich. Er krabbelt hinter mir ins Bett, deckt uns beide zu, brummt müde, entspannt und zufrieden und ist ganz schnell eingeschlafen. Ich dagegen liege wach und genieße, dass er mir so nah ist.

Bald erwacht das ganze Haus zum Leben, und so schleiche ich mich dann doch aus dem Bett und aus dem Zimmer. Yoongi ist mal wieder nicht da, aber die anderen freuen sich, dass ich mit ihnen frühstücke.
"Tae, soll ich dich gleich zu Jimin fahren?"
"Das wäre cool. Ich hab mir überlegt, dass ich mir was zum Zeichnen mitnehme. Ich soll sowieso mit ganz vielen kleinen Skizzen mein Auge und meine Hand schulen, hat Dr. Lee gesagt. Auf den Schrottbergen finde ich sicher gute Motive. Und dann fühle ich mich nicht so aufdringlich, falls Jimin Zeit braucht, sich an mich zu gewöhnen."
"Solltest du Herrn Kang da rumlaufen sehen, gib ihm deine und meine Telefonnummer. Wer weiß, was noch alles kommt. Erzähl ihm von heute Nacht. Wahrscheinlich redet Jimin normalerweise gar nicht mit ihm. Der Mann sollte aber Bescheid wissen."
Tae packt sich Stifte, seinen Skizzenblock, Essen und Trinken ein. Bald schon laufen wir los zum Auto.

Mein Blick fällt auf die zugewucherte Grundstücksgrenze rüber zum Schlösschen. Es ist still geworden bei den Nachbarn. Die Sanierungsarbeiten scheinen abgeschlossen zu sein. Nur selten steht noch ein Handwerkerauto vorm Tor, die Kräne und Geräusche sind verschwunden. Es taucht auch kein Makler auf, kein Möbelwagen, kein zukünftiger Bewohner. Das Haus erstrahlt in neuem Glanz, aber darin ist kein Leben. Ich kann mich mal wieder riesig freuen, dass wir hier schon so viel geschafft haben. Dass wir hier schon so viele Katastrophen überstanden und Weichen für die Zukunft gestellt haben. Und dass hier das Leben nicht aufgehört hat.

Die Fahrt ist entspannt und zufrieden. Viel reden wir nicht, es wird sich zeigen, was der Tag für Taehyung und Jimin bewirken kann. Das letzte Stück vor dem Schrottplatz fahre ich langsam und sehe mich gründlich um. Es sieht alles viel freundlicher aus als in der Nacht. Am ganzen Zaun entlang stehen zahllose Blumentöpfe - naja - Blumentöpfe. Vor allem Kletterpflanzen wachsen da aus den rostigen Eimern, alten Schuhen, Kotflügeln, einer sehr malerischen alten Badewanne, Einmachgläsern, Kochtöpfen, einem Motorradhelm und anderen kreativen Gefäßen und klettern am Zaun empor, dazwischen wächst alles, was bunt ist.
Der große Eingangsbereich vom Gelände ist ordentlich und sauber. Die Bagger und Greifer stehen in Reih und Glied neben der großen Presse. Um Jimins Bus liegen wie eine Mauer Stapel aus Altreifen, die auch bepflanzt sind.
Wahrscheinlich ist diese ganze Gärtnerarbeit Jimins Dank dafür, dass er hier leben darf und in Ruhe gelassen wird. Und die Reifenmauer soll ihm die Neugierigen vom Leib halten.

Da wir Jimin nicht das Gefühl geben wollen, dass wir uns anschleichen und ihn bespitzeln wollen, gehen wir ganz offen durch das große Tor über den Hof und schauen uns um. Wenn er da ist, wird er uns sehen und kann dann selbst entscheiden, ob und wie er reagieren will.
An der Hecke zum Privatgebäude ist offensichtlich vor kurzem gebuddelt worden. Das Beet sieht unfertig aus, Werkzeug und ein paar Pflanzen stehen daneben.
Ist Jimin hier grade zu Gange gewesen und hat sich jetzt vor uns verkrochen? Und wo ist der Hund von heute Nacht?

Die Rätsel lösen sich schnell selbst, denn aus dem Haus kommt Herr Kang, um uns zu fragen, ob wir nach einem bestimmten Autoteil suchen. Er hält uns wohl für Kunden. Hinter dem Bus innerhalb des Reifenringes kommt Jimin mit dem Hund zum Vorschein. Er bleibt dort abwartend stehen. Der Korean Jindo Dog steht an seiner Seite und wirkt sehr wachsam. Aber er bellt nicht. 
Wir begrüßen Herrn Kang. Er erkennt uns sofort, als er vor uns steht.

Taehyung bedankt sich nochmal ganz ausdrücklich für die Rettung in jener Nacht. Dann fragt er einfach, ob seine Anwesenheit heute okay ist.
"Ich würde mich gerne mit Jimin anfreunden. Er hat offensichtlich große Probleme. Also muss ich mir sein Vertrauen erarbeiten. Dafür würde ich gerne heute länger hier bleiben und zeichnen. Schrott, seltsame Details, die Blumen am Zaun. Sowas. Wäre das für Sie in Ordnung?"
"Natürlich ist das in Ordnung. Ich weiß ja fast nichts über ihn. Er hat seitdem kein einziges Wort mit mir gewechselt, lebt genau wie vor dem Brand still neben mir her und kümmert sich um meinen Garten.
Ich mache mir auch Gedanken um ihn. Er ist schon seit über drei Jahren hier. Er kam leise, ist in den Bus gezogen. Er kommt und geht zur Arbeit ganz still und unauffällig. Wenn Schrott geliefert wird oder Besucher nach Autoteilen suchen, löst er sich in Luft auf. Nur mit meinem Hyebit [glänzendes Licht] taut er auf. Die beiden schmusen, toben, spielen zusammen. Das scheint dem Jungen wirklich gut zu tun. Hyebit bewacht Jimin genauso wie mich und den Schrottplatz."

Ich schalte mich ins Gespräch ein.
"Hat Jimin Ihnen nichts von den letzten Tagen erzählt?"
"Nein, nichts. Ist etwas passiert?"
"Leider ja. Jimin ist in Gefahr, weil eine Jugendlichen-Gang aus dem Ghetto sich auf ihn eingeschossen hat. Er hat den Typen und ihren scharfen Hunden absolut nichts entgegenzusetzen. Eigentlich ... müsste er ganz hier weg. Auch wenn offensichtlich ist, dass das hier sein Ort der Ruhe und Sicherheit ist."
"Das klingt aber gar nicht gut."
Herr Kang denkt eine Weile nach.
"Zunächst mal sollten wir dieses Gespräch beenden, es macht ihm Angst. Dann werde ich mir ab und zu ihre Zeichnungen ansehen, Herr Kim, dabei können wir weiter reden. Das könnte auch Jimin anlocken, denn er macht hier aus dem Schrott richtige kleine Kunstwerke. Und ich sollte wohl auch an meinem Kontakt zu ihm arbeiten."

Plötzlich redet er viel lauter.
"Sie möchten zeichnen üben. Sehr gern, Herr Kim. Hier finden Sie bestimmt viele Motive. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Sonntag, Frau Cho."
Er dreht sich um und geht zurück ins Haus. Ich wende mich zu meinem Auto und entdecke dabei Jimin, der sich uns genähert hat.
"Hallo Jimin. Haben Sie den Schreck von heute Nacht gut verdaut? Wir helfen Ihnen immer gerne."
Der junge Mann zuckt erst zusammen, bleibt dann wie eingefroren stehen. Eine Antwort kann ich also nicht erwarten. Ich lächele ihn an und gehe.

"Tschüß, Taehyung. Viel Spaß beim Üben."
Leise füge ich hinzu: "Und viel Erfolg!"
Auf dem Weg zum Tor höre ich noch, dass die beiden sich begrüßen.
"Hallo, Jimin. Ich hab heute morgen gedacht, dass ich hier bestimmt viele tolle Motive finde. Lass dich bitte nicht von mir stören."
"Warum bist du hier? Zum Zeichnen oder ... wegen mir? Malen kannst du doch überall."
Tae stürzt sich kopfüber ins kalte Wasser.
"Aber so was Irres wie dieses Sammelsurium am Zaun - das gibts bestimmt kein zweites Mal. Hast du dir das alles ausgedacht?"
"Ja."

Beim Einsteigen sehe ich, wie Jimin unschlüssig von einem Bein aufs andere wippt, während Tae schnurstracks zum Zaun geht, sich ins Gras setzt und seinen Block rausholt. Länger kann ich es jedoch nicht hinauszögern und fahre seufzend den Berg runter.
Hoffentlich kann sich Jimin bald auf Tae einlassen. Ihm muss doch bewusst sein, wie gefährlich die Situation jetzt für ihn ist, so lange er so isoliert lebt! Auf der anderen Seite sind seine Ängste so groß, dass ich ihn mir beim besten Willen nicht in einer WG wie unserer Pförtnerei vorstellen kann. Zu eng. Zu voll. Zu wenig Möglichkeiten, sich zurückzuziehen und sich sicher zu fühlen.
Während der ganzen Fahrt drehe und wende ich im Kopf, was wir noch für Jimin tun könnten - und warum das alles doch nicht gehen wird. Es ist zum Auswachsen.

Kaum bin ich zu Hause, schreibe ich Tae an.
"Gib bitte Herrn Kang bald unsere Nummern. Und frag ihn, ob Jimins Bus überhaupt noch fährt."
Die Antwort kommt schnell. Der Bus kann theoretisch fahren, ist aber schon ewig nicht mehr durchgecheckt und getüvt worden. 
Im Laufe des Tages schickt Tae mir immer wieder Bilder - Fotos und die dazu passenden Zeichnungen, die mir echt gut gefallen.

Aber auch ein Blick durch die verstaubten Scheiben in Jimins völlig leeren Bus, der Zettel mit der Nummer vom Schrottplatzbesitzer, das Picknick zum Mittagessen in Jimins "Garten".
Später kommt ein Bild von einem urwitzigen Männchen, das vor Herrn Kangs Haustür steht. Jimin hat es aus allem möglichen Kleinschrott zusammengeschweißt.
Vielleicht könnte das ... Wenn beide Spaß an Kunst und künstlerischer Betätigung haben, dann finden sie sich vielleicht auf dieser Ebene. Da scheint ja heute schon eine Verbindung zu entstehen.

Ich widme mich ein paar staubtrockene Stunden lang dem Berg von Papieren und ausstehenden Entscheidungen auf meinem Schreibtisch. Seit dem Brand ist das so zu kurz gekommen, dass ich echt Nachholbedarf habe. Es fällt mir allerdings verflixt schwer, weil Jimin immerzu durch meine Gedanken spukt.
Und Taehyung macht es mir dabei auch nicht leichter. Mal schickt er eine zauberhafte Filmsequenz, wie Jimin mit dem Hund Hyebit rumtollt und dabei schlagartig zu einem völlig anderen Menschen wird. Kindlich verspielt, frech, fröhlich, strahlend von innen heraus, dann wieder ganz ruhig und aufmerksam für die Signale, die das große Tier ihm gibt. Dann kommt eine Zeichnung, ein rostiges Blech, aus dem Jimin einen Ast mit Vögeln geschnitten hat, vier Hände, die gemeinsam das angefangene Beet bepflanzen. Das freut mich irgendwie besonders. Tae scheint wirklich ein Händchen dafür zu haben, Jimin aus der Reserve zu locken.

Gegen Abend kommt die Nachricht, dass Herr Kang Taehyung nach Hause fährt, und dass Tae dabei die ganze Geschichte mit der Gang erzählen kann. Herr Kang bedankt sich bei Tae, dass er sich so um Jimin kümmert. Und dann rückt er mit der Sprache raus, dass er gesundheitliche Probleme hat und schon seit ein paar Monaten vergeblich einen Nachfolger für das Geschäft und das Gelände sucht. Das versetzt mich ganz besonders in Alarmbereitschaft.
Dann sind Jimins Tage auf dem Berg sowieso gezählt. Ob er das schon weiß? Das sollte er bald erfahren! Er kann eigentlich nur in die Gärtnerei ziehen. Was anderes fällt mir echt nicht ein. Oder den Bus wo anders hinstellen. Nur wo??? 

Ich klappe meine Akten zu und gebe für heute auf. Da wird nichts Gescheites mehr bei rauskommen. Dann telefoniere ich lieber eine Weile mit So-Ra - und natürlich mit Namjoon, bevor der zur Arbeit muss.
Er ist genau so besorgt über diese neue Entwicklung wie ich.

"Das ist echt ganz übel! Tae hat beim Abendessen viel erzählt. Gut, dass er sich da wirklich reinhängt und langen Atem beweist. Sie haben sich gegenseitig ihre Kunst gezeigt und sich dabei ganz normal und angstfrei unterhalten können. Jimins Schrottkunst ist genauso faszinierend wie Taes detaillierte Zeichnungen von rostigen Schrauben, Reifenprofilen oder Blüten. Hoffentlich hält dieses neue Band."

"Das hoffe ich auch. Eigentlich hat sich Jimin das sehr schön gemacht, mit der bepflanzten Reifenmauer und so. Der Bus ist richtig sein Zuhause. Aber dass der Bus innendrin bis auf die uralten Bänke so kahl ist, hat mich dann doch wieder erschreckt. Er wohnt schon seit drei bis vier Jahren dort und hat trotzdem keinerlei Besitz außer den Kleidern am Leib und einer dünnen Decke auf der Rückbank. Ich hätte mir den doch schön ausgebaut."

"Ich finde viel schlimmer, dass er Herrn Kang nichts von der Bedrohung durch die Gang erzählt hat. Diese Selbstisolation wird immer gefährlicher. Tae hat wohl versucht, ihm klar zu machen, dass er über seinen Schatten springen und nicht mehr durchs Ghetto sondern wieder durch die Brandstraße radeln soll. Das ist die einzige Chance, dass die Typen ihn bald wieder in Ruhe lassen. Aber Jimin hat wohl nicht angebissen. Hoffentlich geht das gut!"

In den nächsten Tagen passiert wenig. Namjoon arbeitet oder schläft.
Taehyung macht mit Feuereifer und wachem Geist sein Praktikum. Er bekommt viel Lob. Er trifft sich oft mit Jimin am Fußgängertunnel und kann darum zu unser aller Erleichterung berichten, dass Jimin nun doch lieber wieder durch die Brandstraße fährt, als sich weiteren Gefahren auszusetzen.
Jeongguk fährt freiwillig und motiviert jeden Tag zu seiner Werkstatt oder in die Berufsschule, die nun auch angefangen hat. Es fällt ihm leicht, sich in alles reinzufinden. Und gegen die alten Ängste helfen ihm am besten die Geduld und Aufmerksamkeit seines Bruders und die Unterstützung von Yoongi.
Yoongi ist mal da oder auch nicht. Irgendwie ist er unsere graue Eminenz.

Hobi redet immer weniger von einem Tanzstudium, dafür aber um so mehr von seinen Beobachtungen auf den Straßen und Plätzen Seouls. Von den jungen Schulabbrechern und den älteren, verschlissenen Arbeitslosen. Von Wütenden und von Träumern. Von Klugen und von Dummen. Und davon, dass ihm alle widerspiegeln, dass sie sich hilflos, alleingelassen und verraten fühlen, weil es auf ihre vielen Fragen keine vernünftigen Antworten gibt. Wir unterhalten uns beim Aufräumen der Küche.

"Weißt du, Nelli - ich gehe einfach da hin, wo schon andere sind, Bahnhofsvorplätze, Unterführungen, Parks. Da fang ich dann an zu tanzen. Manchmal passiert zwei Stunden lang gar nichts. Manchmal suchen Leute nach meinem Hut, weil sie Geld reinwerfen wollen. Und manchmal kommen ein paar, die so schnell nicht wieder gehen. Sie schauen zu, machen mit, fangen an zu erzählen. Ich höre einfach zu. Drei Dinge sind es, die ich immer wieder zwischen den Zeilen heraushöre: sie wünschen sich, gesehen zu werden, sie wollen etwas Sinnvolles tun, und sie brauchen dafür den Rückenwind, der sie durchhalten lässt. 
Es ist verrückt. Ich will immer noch tanzen. Ich kann mir ein Leben ohne nicht vorstellen. Aber ich will nicht mehr FÜR jemand tanzen, nicht vor gut betuchten Theaterbesuchern auftreten. Ich will MIT den Leuten tanzen. Und ich möchte derjenige sein, der ihnen den Rückenwind gibt, um durchhalten zu können. Ich hab nur keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Was für eine Ausbildung muss ich machen, damit ich zielorientiert Menschen helfen kann?"

Ich muss eine Weile nachdenken und Rückfragen stellen, bis bei mir der Groschen fällt.
"Du willst gescheiterten Existenzen auf die Füße helfen und suchst einen Weg dahin. Richtig?"
"Ja. Irgendwie so."
"Im Moment ziehst du genau diese Menschen an mit zwei Dingen, die du sehr gut kannst. Tanzen und Zuhören. Tanzen muss man nicht studiert haben, um andere Menschen zu begeistern. Aber professionelles Zuhören und das Gehörte in wirkungsvolle Taten umsetzen - damit sollte man sich auskennen. Damit man nicht in emotionale Fallen tappt, nicht sich selbst übersieht, nicht sich fruchtlos verausgabt. Aber welcher Aspekt ist dir am wichtigsten? Dass diese Menschen ihre psychischen Altlasten überwinden, damit sie innerlich frei werden, etwas zu verändern? Oder dass sie Hilfe im rechtlichen Dschungel bekommen, Ängste vor Ämtern und Formularen verlieren? Dass sie neu lernen zu lernen und sich dabei was zuzutrauen? Oder hast du noch eine ganz andere Motivation?"

Hinter Hoseoks Stirn rattert es, ich sehe ihm an, dass er mich durchaus verstanden hat. Er hat ein sehr gutes Abitur gemacht. Er könnte also problemlos Pädagogik, Psychologie oder Jura studieren. Aber ist es das, was ihn erfüllen und seine Gaben voll ausschöpfen wird?
"Ich ... glaube, ich verstehe, was du meinst. Ich könnte einen helfenden Beruf lernen oder studieren. Ich könnte ... Aber will ich das? Will ich jetzt erstmal für Jahre hinter dicken Büchern verschwinden? Eigentlich nicht. Keine Ahnung, ob die ideale Jobbeschreibung für mich schon jemals formuliert worden ist."
Hoseok rauft sich die Haare und lacht.
"Ich bin schon wieder einer, der dringend auf dein Netzwerk wartet. Fang an, Nelli. Fang an!"
Ich lächele nun auch.
"Es ist UNSER Netzwerk. Wir haben längst angefangen mit allem, was wir hier lernen, entdecken, ausprobieren. Wir alle schmeißen schon jetzt unsere Gaben in den Ring, wir netzwerken schon jetzt. Auch du. Lass dieses Gespräch erstmal sacken, die Antwort wird kommen, wenn du am wenigsten damit rechnest."'

Jin ist mal wieder sehr schweigsam. Manchmal steht er mitten in der Küche und starrt Löcher in die Luft. Dann wieder zaubert er ein tolles Menu nach dem anderen auf den Tisch. Oder er googelt stundenlang, aber keiner weiß, wonach. Ich muss am Mittwoch richtig energisch werden, bis er mit der Sprache rausrückt.
"Jin, sei bitte so gut und friss nicht wieder alles in dich rein. Das letzte Mal bist du damit im Keller gelandet. Wir spüren alle ganz genau, dass grade was in dir arbeitet. Also rede bitte mit mir, egal, wie durcheinander es noch ist."
Jin steht am Herd und sieht mich bei dieser Aufforderung nicht an. Es leises Zittern seiner Hände zeigt mir aber zu genüge, wie schwer es ihm fällt zu antworten. Er zögert. Dreht den Herd aus und wendet sich mir zu.

"Ich will ja. Aber du hast recht - es ist alles noch sehr durcheinander. Ich ... schaue jetzt dir und den anderen seit ein paar Monaten dabei zu, wie ihr mit täglichen Herausforderungen und alten Lasten umgeht. Dabei sehe ich auch Schritte mal vorwärts, mal rückwärts. Ich habe dabei das Gefühl, dass ich selbst nur auf der Stelle trete. Das ist hart zu verdauen, aber im Leben wohl normal. Und jetzt ... Ich hab diesen Jimin ja noch gar nicht gesehen, aber ich glaube ... ist das böse, wenn ich das so sage? ... Jimin kann wahrscheinlich gar nicht anders. Und er wird etwas Furchtbares erlebt haben, was ihn so ängstlich und scheu hat werden lassen. Aber bezogen auf mich heißt das wohl: wenn ich nicht so enden will wie er, dann muss ich aus meiner Lethargie raus, muss meinen Radius erweitern über diese Kompfortzone 'Pförtnerhaus' hinaus. Dann muss ich anfangen, aktiv an der Verwirklichung meines Traums zu arbeiten. Lehrstelle suchen, Abschluss machen, ganz viel lernen, was für meinen Traum nötig ist ... immer weiter, gegen die Angst an. Gegen die schlechten Erfahrungen von früher an."

Ich höre Jin mit wachsender Begeisterung zu, denn da reift grade eine mutige Entscheidung.
"Das klingt doch sehr gut, Jin. Ja, erwachsen zu sein, ist nicht das Schlaraffenland. Das ist oft harte Arbeit. Ich freue mich grade. Du hast ganz viel verstanden.
Aber wo ist dann das Problem? Im Grunde bräuchtest du jetzt nur deine Papiere, soweit vorhanden. Jetzt Ende August findest du bestimmt noch einen Betrieb, der dich fürs zweite Lehrjahr aufnimmt."
Jin zögert wieder.

"Jaaaa ... aber ich hab Schiss davor. Dass ich darum kämpfen muss und mich nicht gut genug verkaufen kann. Dass ich wieder so einen Chef erwische. Dass der Umgangston im Betrieb für mich zu rau ist. Dass mich meine eigenen Zweifel aus der Bahn werfen. Deshalb hab ich versucht, sowas wie Jeongguks Fahrradladen zu finden - halt nur mit Kochen. Aber wenn ich je etwas Unorganisiertes gesehen habe, dann sind es die nicht koordinierten Kräfte, Projekte und Kommunikationsstrukturen im sozialen Bereich. Deine Stiftung kommt echt keinen Tag zu früh."
Wo er recht hat ...

Jins erfolglose Suche im Internet bestätigt mir einmal mehr, dass ich mich mit meiner Idee auf dem richtigen Weg befinde.
Die Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, haben nicht mehr endlos viel Kraft, um nach der richtigen Hilfe zu suchen. Für viele ist es irgendwann zu spät, um das Ruder noch rumzureißen.
"Gut. Dann bitten wir Yoongi, dir bei der Suche zu helfen. Bei Gukkie war er mit dem Googeln auch total schnell erfolgreich. Und auch auf dem normalen Markt ist ja nicht jeder Chef ein übergriffiger Despot. Du hast Zeit, dir dein Leben aufzubauen. Das gilt für euch alle - das weißt du, oder?"

Jins Haltung richtet sich auf, und seine Stimme wird ganz weich und warm.
"Auch wenn es schwer fällt, das anzunehmen - ja, das weiß ich. Dein bedingungsloser Respekt für uns, deine freundschaftliche Wärme in all deinem Handeln, und deine selbstverständliche Art anzupacken machen es möglich, das Angebot ohne Gewissensbisse anzunehmen."
Er schaut mich an, und ich bin spontan unendlich glücklich, weil in seinen Augen so viel Leben leuchtet.
"Also kümmere ich mich jetzt um meinen Papierkram, Lebenslauf, mein Erscheinungsbild und sowas alles. Mit Yoongi zusammen suche ich nach einer passenden Stelle. Und den Rest lege ich vertrauensvoll in deine Hände. Danke!"

........................
18.2.2023    -    23.3.2024

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