Suche Held, biete Phönix (FF...

By QuillDee

2.2K 308 1K

Wie kommt jemand zurecht, der nach siebzig Jahren Kälteschlaf in eine völlig neue, ja fremdartige Umgebung ge... More

Vorwort
1 - Neue Ufer
2 - Erstens kommt es anders
3 - Erdbeer-Confit an Mandelschaum
4 - Von Kartoffelchips und anderen Errungenschaften
5 - Rache ist Blutwurst
6 - Wenn jemand eine Reise tut
7 - Manifestation
8 - Zwei Avenger sehen mehr als einer
9 - Home, sweet Home
10 - Lose Enden
11 - Der große Knall
12 - Zuflucht 2.0
13 - Was einmal war, verlässt uns nicht
14 - Ein Spätsommer in der Provence
15 - Oh what a Feeling this is
16 - Von alten Freunden, Halluzinationen und guten Ratschlägen
17 - Familiengeheimnisse
18 - Der Anker
19 - Von der Kunst des Nudelschlürfens
20 - Das perfekte Date
21 - Familienzusammenführung
23 - Trouble in Paradise
24 - Im Netz der Hydra
25 - Neukalibrierung
26 - Die Hoffnung stirbt zuletzt
27 - Operation Feuersturm
28 - Heiß und Kalt
29 - Who am I
30 - Trigger und Reset
31 - Der fast normale Wahnsinn
32 - Weihnachten bei Bartons
33 - (K)ein Glückliches Neues Jahr
34 - Beziehungskisten und andere Probleme
35 - Zwischen den Stühlen
36 - Abrechnung
37 - Phönix aus der Asche
38 - Wer loslässt, hat beide Hände frei
Epilog

22 - Rotes Blut, grauer Glibber und andere Körperflüssigkeiten

48 6 30
By QuillDee

Steve saß auf dem Hotelbett und hatte Yuki im Schneidersitz vor sich. Sie hatten Sakamotos Mappe vor sich ausgebreitet. Sie schien seine Nähe zu brauchen, um sich dem zu stellen, was noch in diesen losen Blättern verborgen war, denn sie hatte ihren Rücken fest gegen seine Brust gedrückt, während sie sie einzeln auslegte. „Du siehst aus wie sie ...", hatte Sakamoto gesagt. Und er hatte nicht gelogen. In dem Moment, als ihre Blicke auf die Polizeifotos fielen, die Akiko mit einem Namensschild in Händen vor einer Höhenskala zeigten, fühlte er, wie Yuki sich versteifte. Und auch er konnte einen Schauder nicht unterdrücken.

Es waren grobkörnige Polizeibilder, je eines frontal, im Profil und eines als Porträt, von denen Steve ein vertrautes und lieb gewonnenes Gesicht entgegenstarrte. Trotz kleiner Unterschiede erkannte auch sie sich selbst darin, denn sie berührte wie in Trance ihre eigene Schläfe und folgte mit den Fingern der Linie ihrer Wangen bis hinunter zum Kieferknochen. Steve schwieg und strich ihr beruhigend über den Nacken, während sie in die Betrachtung ihres anderen Ichs vertieft war.

Das Jochbein der Tochter war etwas höher angelegt, doch der sture, kämpferische Schwung des Kinns war der gleiche. Auch der Augenpartie nach war sie unverkennbar ihrer Mutter Kind, nur standen ihre etwas weiter auseinander und wirkten größer, weil die charakteristische einfache Lidfalte nicht sehr ausgeprägt war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, fragte sie abwesend: „Wer wohl mein biologischer Vater war? Vielleicht will ich das auch gar nicht wissen, könnte auch nur ein anonymer Samenspender sein und ein furchtbarer Mensch." Steve dachte bei sich, dass das durchaus im Rahmen des Wahrscheinlichen lag, schwieg jedoch taktvoll.

In Akikos Augen fiel ihm noch eine weitere Ähnlichkeit auf: Trotz der Erschöpfung und dem verängstigten Ausdruck in ihnen konnte er dieselbe innere Stärke erkennen, die ihm auch bei seiner Yuki aufgefallen war. Er lächelte der unbekannten Frau auf dem Foto zu und dankte ihr lautlos dafür, dass sie ihrer Tochter neben einem angenehmen Äußeren diese eine überlebenswichtige Eigenschaft vererbt hatte. Es war nur tragisch, dass sie am Ende doch gebrochen worden war, sei es durch den Verlust ihres Kindes oder die Umstände in der Nervenheilanstalt. Bei aller Stärke war irgendwann ein Punkt erreicht, an dem auch die stärkste Person nicht mehr weitermachen konnte. Er würde in der nächsten Kirche, die er aufsuchte, eine Kerze für Akiko anzünden. Es mochte ein sinnloser und abergläubischer Akt sein, doch er hatte das Gefühl, dies tun zu müssen.

Als sie im Folgenden die Protokolle durchgingen, musste er sich manches Mal beinahe übergeben. Da war von hunderten ‚Probandinnen' die Rede. Frauen, meist in den Zwanzigern, die aus unterschiedlichsten Lebenssituationen heraus entführt worden waren. Die wie Tiere in kleinen Zellen gehalten und nur zu ihren Testreihen herausgelassen wurden. Akiko erzählte von einer großen Fluktuation, denn manches Mal kehrten die Frauen nicht wieder in ihre Zellen zurück, und wurden kurzfristig von ‚Frischfleisch' ersetzt. Es gab Zellennachbarinnen, die die um ihre Babys weinten, die missgebildet auf die Welt gekommen und als nutzlos entsorgt worden waren. Auch Frauen, die nicht schwanger wurden, verschwanden nach ein paar Monaten spurlos, und Akiko beschrieb, dass sie das Schlimmste befürchtete.

So viele Schicksale endeten ihrer Erzählung nach in diesem unterirdisch gelegenen Labor. Steve fröstelte es, und er spürte das Echo seines eigenen Entsetzens in Yukis angespannten Schultern. Er hielt sie fester umschlungen und murmelte belanglose Nichtigkeiten in ihr Haar. Selbst wohl formulierte, tröstende Worte wären nicht zu ihr durchgedrungen, da war er sich sicher. Seine bloße Anwesenheit und seine Stimme mussten reichen, um sie zu beruhigen.
Und an ihrem ruhiger werdenden Atem erkannte er, dass es ihm gelang.

„Warum gehst du nicht in den Meiji-Park, da kannst du richtig durchatmen", schlug er vor, als sie ihre Fassung zum Teil wieder erlangt hatte. Der Park war ihm während er ersten Tage hier als einer der wenigen Orte in Erinnerung geblieben, die einen willkommenen Gegensatz zum übrigen Tokio bildeten. Eine Zäsur im ständigen Blinken der Neon-Leuchten und der permanenten Beschallung. Dort würde sie den nötigen Abstand gewinnen und so wieder einen freien Kopf bekommen. So wie er sie kennengelernt hatte, konnte sie das am besten allein.

„Und du willst nicht mitgehen?", fragte sie ungläubig.

Schuldbewusst nickte er, denn er wusste, dass sie beide ständig von S.H.I.E.L.D. beschattet wurden. Jeweils zwei Agenten in sechsstündigen Schichten, das war Standard. Sie würde auch ohne ihn ausreichend sicher sein, zumindest über einen überschaubaren Zeitraum. Laut sagte er lediglich: „Es ist ja nur ein paar Minuten von hier weg, und Hydra weiß nicht, dass wir hier sind." Selbst in seinen eigenen Ohren hörte er, wie unglaubwürdig diese Erklärung war, doch sie war so durch den Wind, dass sie nichts bemerkte. Und er dankte Gott dafür. Er war noch nicht bereit dafür, ihr zu enthüllen, dass er sein Versprechen ihr gegenüber schon vor geraumer Zeit gebrochen hatte. Als sie die Zimmertür hinter sich zu zog, starrte er ihr noch minutenlang hinterher, obwohl er sie überhaupt nicht mehr sehen konnte.

✮✮✮✮✮✮

Der Mann sah blind auf den See hinaus. Sein Leben lang hatte er eine falsche Entscheidung nach der anderen getroffen. Erst war es die falsche Frau und in der Folge die falschen Freunde gewesen. Schnelle Autos, Spielsucht, Drogenabhängigkeit, ein Absturz nach dem anderen. Ein Vater, der schon immer mit mehr Härte, denn mit Unterstützung reagierte. All das hatte ihn dazu getrieben sich IHNEN anzuschließen. Sie hatten gut gezahlt und seinen extravaganten Lebenswandel finanziert. Und sie hatten ihm Gegenzug die Schwester, deren Kind und dann auch noch den kläglichen Rest seiner Selbstachtung geraubt. Leider hatten sie am Ende kein Heilmittel gegen seinen Darmkrebs, der vor zwei Jahren diagnostiziert worden war. Dann wären seine Opfer wenigstens etwas wert gewesen. Ausgerechnet diese heimtückische Krankheit hatte dafür gesorgt, dass die Erinnerungen an ein verpfuschtes Leben in den Hintergrund getreten waren. Wenn man täglich damit beschäftigt war zu überleben, wurde alles andere unwichtig. Bis heute Morgen.

Die Geschichte hatte ihn in Gestalt einer jungen Frau eingeholt, die von seinem Blut war. Er wusste, dass er eigentlich gleich hätte Meldung machen müssen, sobald sie wieder gegangen war. Was denen blühte, die sich nicht an Vereinbarungen mit ihnen hielten, wusste er auch. Doch da war etwas lang Verschüttetes zutage getreten. Vielleicht war es Reue, vielleicht eine Art Schuldgefühl, was ihn davon abgehalten hatte, sofort diese eine Telefonnummer anzurufen. Denn immerhin, war er mehr oder weniger indirekt dafür verantwortlich, dass diese junge Frau unter Fremden hatte aufwachsen müssen. Hätte er nicht deren Aufmerksamkeit auf Akiko gelenkt, so wäre nichts von all dem passiert.

Also würde er erst morgen früh dort anrufen und hoffen, dass seine Nichte die Zeit nutzen und seinem Rat, schnellstmöglich abzureisen, gefolgt sein würde. Mit etwas Glück hatte er dem Mädchen einen oder zwei Tage Vorsprung verschafft, denn auch SIE würden ein bisschen Zeit brauchen, um zwei einzelne Reisende in Tokio ausfindig zu machen. Wenigstens das wäre ein Plus auf seinem Lebenskonto. Mehr konnte er nicht tun, er war und blieb nun einmal ein Feigling. Darin war er, als immerwährende Enttäuschung seines Vaters, wenigstens konsequent. Nie hatte er seinem Namen Ichiro, als ‚erster Sohn' Ehre gemacht, warum sollte es jetzt, am Ende seines Lebens, anders sein?

✮✮✮✮✮✮

Außer dass Hydra eine große unterirdische Basis innerhalb des Stadtgebietes unterhalten hatte und es wahrscheinlich noch tat, war nichts weiter aus Akikos Befragungsprotokollen zu entnehmen. Weder wo genau die Basis sich befand, noch wie man sich Zugang verschaffen konnte. Auch waren keine Namen gefallen, nach denen man hätte weiter forschen können. Der gestrige Tag war also, wie alle anderen wieder ergebnislos ausgegangen. Widerwillig hatte Yuki nach einem späten Frühstück zugestimmt, dass sie S.H.I.E.L.D. einweihen mussten, wollten sie mehr herausfinden. Der Laden hatte mehr Ressourcen und Möglichkeiten, als zwei Einzelpersonen, die auf eigene Faust im Trüben fischten.

Doch sie hatte sich noch eine Schonfrist bis zum Ende des Tages ausgebeten, und zudem sollte Steve vorerst nur mit Agent Romanoff Kontakt aufnehmen. Sie wusste nicht weshalb, doch irgendwie hatte Yuki das Gefühl, dieser Frau vertrauen zu können. Und in der Zwischenzeit wollte sie noch einmal im Meiji-Park joggen gehen. Die Ruhe dort hatte ihr schon am gestrigen Abend gutgetan, und sie hoffte, ganz mit sich ins Reine zu kommen, wenn sie noch ein paar Stunden dort allein verbringen konnte. Wieder war sie überrascht gewesen, als Steve ohne Widerworte einwilligte. Seine extreme Überfürsorglichkeit hatte wohl dauerhaft etwas nachgelassen, und ihre Erleichterung darüber, war so groß, dass sie nicht weiter nach seinen Beweggründen gefragt hatte.

Sie war einige Runden im Äußeren Garten gelaufen und holte sich zum Mittagessen etwas Streetfood aus einer der angrenzenden Straßen. Damit kehrte sie wieder in die Grünanlage zurück und wollte sich danach noch einmal den Inneren Garten ansehen, den Gebäudekomplex direkt um den eigentlichen Schrein, denn sie wollte sich das Ganze noch einmal bei Tageslicht ansehen. Als sie den Baum entdeckte, an dem Touristen und Einheimische gleichermaßen Holzschildchen aufhängten mit ihren Wünschen an die ‚Kami', die Gottheiten oder Naturgeister, gab sie einer spontanen Regung nach. Sie kaufte sich zwei solcher Schildchen, je eines mit den Schriftzeichen für Frieden und Liebe.

Als sie diese an den Baum hängte, dachte sie an Akiko Sakamoto und wünschte sich, dass ihre Mutter dort, wo sie jetzt war, Frieden gefunden hatte und durch wie auch immer geartete Kanäle erfuhr, dass ihre Tochter von ihr wusste und ihrer in Liebe gedachte. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg, die ihren Weg aus den Augenwinkeln geschafft hatten, lief noch eine Runde um den Äußeren Garten und machte sich verschwitzt und angenehm erschöpft auf den Rückweg.

Nach gerade einmal zwei Straßenblocks, heulte plötzlich ein Motor hinter ihr auf. Ein nachtschwarzer Sportwagen mit roten Ledersitzen fuhr vorbei, um knapp vor ihr mit quietschenden Reifen zum Stehen zu kommen. Und zwar so knapp, dass sie die Luftbewegung an den feinen Härchen ihres linken Armes spürte. War das etwa ein Lamborghini? Diese Frage war so deplatziert angesichts der Tatsache, dass der Wagen sie fast überfahren hätte, und Yuki stellte fest, dass sie entweder unter Schock stand oder dringend ihre Prioritäten überdenken musste.

Die Autotür öffnete sich, und ein rotgelockter Vamp, angetan mit eng anliegender Lederkluft und übergroßer Sonnenbrille, streckte ihr die schmale Hand entgegen und winkte sie zu sich.

„Komm schon Kleine, hüpf rein – Ärger ist im Anmarsch", sagte Agent Romanoff, wegen des Kaugummis leicht vernuschelt, im Plauderton.

Wie auf einer angesagten Party, wo sich gerade zwei lose Bekannte zufällig trafen. Yuki starrte diese Erscheinung mit offenem Mund an, unfähig ein Wort herauszubringen oder auch nur einen Muskel zu rühren.

„Na los, wir haben nicht mehr viel Zeit, bis die Kacke am Dampfen ist!"

Yuki klappte den Mund zu. „Den Teufel werde ich! Wieso sind Sie überhaupt hier?!", rief sie und lief um den Wagen herum, fest entschlossen, Black Widow davonzulaufen. Sie hörte noch, wie die Agentin hinter ihr zu schimpfen begann und dabei immer lauter wurde, um die wachsende Entfernung zwischen ihnen beiden zu überbrücken.

„Oh, dein Captain Schnuckelchen hat dir nichts gesagt?! Bleib stehen, verdammt! Dafür kann ich ja wohl nichts." Der Sicherheitsgurt klickte, und Romanoff würde ihr gleich nachsetzen, also lief sie noch ein bisschen schneller, wohl wissend, dass sie eigentlich keine Chance hatte.

„Hey! Du wirst, seit du aus dem Hotel aufgebrochen bist, verfolgt und drei weitere Typen warten an der nächsten Kreuzung auf dich – wenn du nicht draufgehen willst, dann komm. Hier. Her. Sofort!"

Yuki dachte nicht im Traum daran, dem Folge zu leisten. Als hätte der Schreck in Kombination mit Wut irgendeinen Schalter in ihr umgelegt, war sie für nichts mehr zugänglich. Sie wollte nur noch weg. Zu Steve. Und ihn zur Rede stellen. Denn dass Romanoff hier war, konnte nur eines bedeuten.

Sie lief gegen eine Mauer. Oder gegen etwas, das sich wie eine anfühlte. Genauer gesagt, war es ein Riese von einem Mann in einer dunklen Kampfmontur, der von zwei kleineren, ähnlich gekleideten Männern flankiert wurde. Die Luft entwich ihr mit einem leisen Pfeifen, und dann passiert alles fast gleichzeitig. Sie hörte sie es zwei Mal knallen und spürte etwas rechts an ihrer Wange vorbei zischen, einmal, und noch ein weiteres Mal.

Ein spitzer Aufschrei unter den Passanten, die daraufhin schlagartig auseinanderstoben. Etwas Heißes und Feuchtes klatschte ihr ins Gesicht, brannte in ihren Augen und rann klumpig und klebrig in den Ausschnitt ihres Tanktops.

Yuki sah wie gelähmt an sich herunter. Den metallischen Geruch von Blut hatte sie erkannt, doch sie betrachtete konzentriert die weißen, spitzen Stücke, die aus in der roten Masse hervorstachen. Konnten das Knochensplitter sein? War das, was da in grauen Klumpen an ihrem Bauch vorbei auf ihre Laufschuhe platschte etwa Gehirn?

Sie hob den Blick, nur um festzustellen, dass die Mauer sich nicht mehr dort befand. Sie war zusammengebrochen, ein Auge ins Leere starrend, das andere nicht mehr vorhanden, weil dort nur noch ein großes, gähnendes Loch war. Angefüllt mit Splittern des Schädelknochens und einer grauen Masse, ähnlich der auf ihren Laufschuhen.

Eindeutig Gehirn. Monsieur Poirot, die kleinen grauen, Zellen sind tatsächlich grau', dachte sie unzusammenhängend und beobachtete, wie ein rothaariger Wirbelwind auf den rechten der verbleibenden Männer zu stürmte, eine Schusswaffe in jeder Hand.

Die Frau, die ihr vage bekannt vorkam, ließ sich fallen, als der Typ seinerseits auf sie zielte, rutschte durch seine gespreizten Beine, hakte sich mit einem ihrer Knie ein und brachte ihn mit einer eleganten Drehung zu Fall.

Fast beiläufig hatte Romanoff, endlich war Yuki der Name wieder eingefallen, ihren eigenen Revolver auf den Dritten im Bunde gerichtet und drückte wieder zweimal ab. Der erste Schuss traf ihn mitten in die Stirn und der zweite dort, wo Yuki das Herz vermutete.

Es musste ein kleineres Kaliber sein als zuvor, denn es blühten lediglich zwei kleine, rote Löcher auf, wohingegen es dem ersten Mann ein Drittel des Schädels weggeblasen hatte.

Ihr war bewusst, dass ihr Geist versuchte, sich in die logische Analyse des Geschehens zu flüchten, um nicht komplett abzurauchen. Und so klammerte sie sich an all die blutigen Details, dokumentierte und analysierte sie auf das Genaueste, hoffte, auf diese Weise bei Verstand zu bleiben.

Es war nur noch einer übrig, der verzweifelt strampelnd versuchte, sich aus dem unbarmherzigen Griff zweier wohlgeformter Oberschenkel zu befreien.

Es war vergeblich. Natasha Romanoff hatte ihre Pistolen schon wieder in einer einzigen, fließenden Bewegung in Hüft- und Schulterholster verstaut und griff mit einem fast gelangweilten Gesichtsausdruck nach unten. Das trockene Knacken, mit dem das Genick des Mannes brach, klang, als hätte jemand lediglich einen dürren Ast entzweigebrochen.

Doch der Mann war unleugbar tot. Die Agentin stand auf und schüttelte sich so, als ob es kein Mensch wäre, der da zu ihren Füssen lag, sondern nur eine lästige Bürde, derer sie sich endlich entledigte. Yukis Magen hob sich, doch er kam nicht dazu, seinen Inhalt zu Tage preiszugeben.

Romanoff stieß sie ohne Vorwarnung zur Seite. „Bleib um Himmels willen unten!"

Mit diesem gezischten Befehl stürzte sie sich auf jemanden, der sich unbemerkt hinter Yuki genähert haben musste. Es waren weitere Kampfgeräusche zu hören: Grunzen und Stöhnen der Angreifer, so wie ein gelegentlicher russisch klingender Fluch aus Agent Romanoffs Mund.

Yuki ignorierte die Anweisung, unten zu bleiben, und richtete sich halb auf, nur um im gleichen Moment von einem kleinen, untersetzten Kerl zu Boden gedrückt zu werden, der eine silbern glitzernde Injektionsnadel gezückt hatte und zustach.

Bevor er den Kolben herunterdrücken konnte, erstarrte er. Ein schlanker Arm hatte sich von hinten um seinen Hals geschlungen und seinen Kopf in einem schier unmöglichen Winkel nach hinten gerissen.

Fasziniert sah sie zu, wie ihm eine blank polierte Klinge an die Kehle gesetzt wurde und verfolgte interessiert die scharlachrote Spur, die das Messer hinterließ, während es langsam und ohne Hast von der einen auf die andere Seite geführt wurde.

Als aus der dünnen roten Linie ein Strom warmen Blutes wurde, das sie in pulsierenden Wellen im Rhythmus der letzten Herzschläge bespritzte, fing sie an zu schreien.

Und hörte erst wieder auf, als sie sich an der kupfrig schmeckenden Flüssigkeit verschluckte. Sie bemerkte nur ein Ziehen, als die andere Frau ihr die Spritze aus der Halsbeuge zog und diese nach rascher Überprüfung des Füllstandes mit einem erleichterten Schnauben fortwarf.

Black Widow schlug ihr leicht ins Gesicht und forderte sie auf, mitzugehen. Zu diesem Zeitpunkt war die anfängliche Hysterie so weit gedämpft, dass sie sich an schockierten Fußgängern und Ladenbesitzern vorbei vom Ort des Geschehens wegzerren ließ. Sie machten erst in einem ruhigen Hinterhof wieder Halt.

„Bist du in Ordnung?" Die erfahrene Agentin schnipste ihrem Schützling mehrmals vor den Augen, bis der glasige Blick darin verschwand und das vernunftbegabte Wesen darin wieder zum Vorschein kam. „Ja, ich denke schon."

„Du erlaubst, dass ich mich selbst vergewissere?" Die Frage, war keine Frage, und Natasha wusste, dass Yuki das wusste. Sie tastete die junge Frau schnell ab und war zufrieden, keine offensichtlichen Verletzungen zu finden. Sie seufzte. Es lagen nur wenige Jahre zwischen beiden Frauen, und doch konnten sie unterschiedlicher nicht sein. Es lag zu einem Großteil an ihrer Ausbildung zur Widow, an all den Missionen, die sie durchgeführt, den Verlusten, die sie erlitten hatte. Trotzdem war es an der Zeit, dass jemand mit dieser unbedarften Zivilistin Klartext redete. Sie konnte sich eine angenehmere Beschäftigung vorstellen, doch sie war es Steve irgendwie schuldig. Es lag ihm viel an Yuki Leclerc, auch wenn deren Vorzüge für sie, Natasha, nicht auf den ersten Blick ersichtlich waren.

Ja, sie war ein hübsches Ding, war intelligent und hatte auch Schneid – sie hatte immerhin erstaunlich lange durchgehalten. Bis jetzt. Aber das war noch lange nicht genug, um in einer Welt aus Intrigen und Gefahr zu bestehen. Einer Welt, die untrennbar mit Männern wie Steve verbunden war. So lange er nämlich das Gefühl hatte, die Verantwortung für das Wohl und Wehe vieler zu tragen, so lange würde er dieser Welt nicht entsagen. Auch nicht für eine Frau, und für diese Sorte Mann gab es genug andere Kandidatinnen, die geeigneter für ein solches Leben waren.

Aber vielleicht war es gerade die Verletzlichkeit, der Hauch von Unschuld, der ihn anzog. Eine Erinnerung an etwas, das er nicht hatte haben können. Natasha schüttelte sich. Es war nicht der richtige Moment, einen auf Paartherapeutin zu machen, zumal sie selbst nicht gerade über ausreichende Expertise verfügte.

„Dass Steve uns informiert hat, ist eine Sache. Das müsst ihr unter euch klären. Allerdings wärst du jetzt wieder in Hydras Gewalt oder tot, wenn er es nicht getan hätte. Vor etwa zwei Stunden wurde uns nämlich ein unberechtigter Zugriff von einem Terminal im Washingtoner Hauptquartier aus gemeldet. Es wurden nur einige wenige Daten kompromittiert, darunter waren jedoch eure falschen Identitäten und euer Aufenthaltsort."

Yuki nickte mechanisch.

„Du weißt, was das bedeutet: Wir haben einen oder mehrere Maulwürfe. Und du bist noch immer das primäre Ziel. Ich bin froh, dass du heute nichts abbekommen hast. Steve würde mir den Kopf abreißen, wenn es anders wäre. Aber du musst dich jetzt beruhigen, damit ich dich heil in eines unserer Safe Houses in der Stadt bringen kann. Steve ist schon dort und er vergeht bestimmt schon vor Sorge um dich."

„Aber es geht ihm gut?"

„Bestens. Ich habe noch vor einer halben Stunde mit ihm gesprochen. Okay, schön, dass du wieder bei klarem Verstand bist. Können wir? Ich muss uns ja noch einen neuen fahrbaren Untersatz ‚requirieren'."

„Klar, wir können los. Darf ich Sie noch etwas fragen, Agent Romanoff?"

„Natasha, bitte. Nachdem ich dir schon das zweite Mal den Arsch gerettet habe, können wir auf die Förmlichkeiten verzichten." Sie bemerkte den fragenden Blick Yukis. „Das erste Mal war in Paris, da habe ich Steve zuliebe einige Extrarunden mit dem Quinjet gedreht. Er hätte dich sonst vielleicht nicht gefunden."

„Ah, okay. Dafür habe ich mich noch gar nicht bedankt. Also, äh, Danke!"

„Und was wolltest du denn nun wissen? Schieß los, ich sehe mich derweil nach einem Wagen um, der meinen Ansprüchen genügt."

Sie setzten sich in Bewegung und die Agentin suchte die am Straßenrand geparkten Autos ab.

Yuki Leclerc druckste etwas herum, bevor sie endlich herausplatzte: „Also, du hast vorhin ausgesehen, als machte es dir Spaß. Also das... Kämpfen, das Gemetzel."

„Jaaa?", fragte Natasha gedehnt.

„Ist es so? Ich meine, macht dir das wirklich Spaß?"

„Das sollte es nicht, meinst du? Ich versuche, es dir zu erklären: Ich bin gut in dem, was ich tue. Und wenn man in etwas gut ist, macht es Spaß. Aber wenn ich die Wahl hätte ... ich würde lieber die Füße hochlegen, ‚Friends' gucken und mir Pizza bestellen."

Die jüngere Frau nickte bedächtig, und die Widow in Natasha meldete sich zu Wort.

„Aber andererseits ist es berauschend, wenn das Adrenalin strömt und ich die todbringende Waffe sein kann, zu der ich geformt wurde." Sie kniff grinsend ein Auge zu und genoss den schockierten Gesichtsausdruck, den sie erfolgreich provoziert hatte.

„Oh! Das ist genau, der Richtige!", rief sie unvermittelt und steuerte zielsicher auf einen orangefarbenen McLaren mit schwarzen Rennstreifen zu. „Schon mal eins kurzgeschlossen?"

Continue Reading

You'll Also Like

6.3K 457 20
Finch ist ein Mädchen, welches in Distrikt 5 lebt. Ihre Familie ist nicht reich, doch dank der Tesserasteine kommen sie immer über die Runden. Doch d...
29.6K 2.4K 20
Man braucht nicht viele Wörter, um eine wunderbare Geschichte zu schreiben. (:
106K 4.7K 21
Hier Schreibe ich einfach ein paar witze rein wo ich glaube das sie ganz witzig sind, hoffe ihr könnt auch drüber Lachen viel spaß!Freue mich über je...
15.6K 1K 105
Kaum wurde ein junges Mädchen zu einer Kunoichi, genauer gesagt, zu einer Chunin, welche erst gerade etwa sechs Jahre alt war, kam es schon dazu, das...