Suche Held, biete Phönix (FF...

By QuillDee

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Wie kommt jemand zurecht, der nach siebzig Jahren Kälteschlaf in eine völlig neue, ja fremdartige Umgebung ge... More

Vorwort
1 - Neue Ufer
2 - Erstens kommt es anders
3 - Erdbeer-Confit an Mandelschaum
4 - Von Kartoffelchips und anderen Errungenschaften
5 - Rache ist Blutwurst
6 - Wenn jemand eine Reise tut
7 - Manifestation
8 - Zwei Avenger sehen mehr als einer
9 - Home, sweet Home
10 - Lose Enden
11 - Der große Knall
12 - Zuflucht 2.0
13 - Was einmal war, verlässt uns nicht
14 - Ein Spätsommer in der Provence
15 - Oh what a Feeling this is
16 - Von alten Freunden, Halluzinationen und guten Ratschlägen
17 - Familiengeheimnisse
18 - Der Anker
19 - Von der Kunst des Nudelschlürfens
20 - Das perfekte Date
22 - Rotes Blut, grauer Glibber und andere Körperflüssigkeiten
23 - Trouble in Paradise
24 - Im Netz der Hydra
25 - Neukalibrierung
26 - Die Hoffnung stirbt zuletzt
27 - Operation Feuersturm
28 - Heiß und Kalt
29 - Who am I
30 - Trigger und Reset
31 - Der fast normale Wahnsinn
32 - Weihnachten bei Bartons
33 - (K)ein Glückliches Neues Jahr
34 - Beziehungskisten und andere Probleme
35 - Zwischen den Stühlen
36 - Abrechnung
37 - Phönix aus der Asche
38 - Wer loslässt, hat beide Hände frei
Epilog

21 - Familienzusammenführung

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By QuillDee

„Da wären wir also fast: 155-4 Wakamatsu, Abiko, 270-1147", las Steve skeptisch von dem Notizzettel ab. „Letzteres ist wohl die Postleitzahl von Abiko City und das Erste eine Art Hausnummer. Aber ich kann hier nirgends Straßennamen entdecken?!"

Stirnrunzelnd spähte Steve mit zusammengekniffenen Augen die Straße entlang, der sie von der Abiko Station aus in Richtung Süden folgten. Die Richtung hatte ihnen eine runzlige, alte Dame gewiesen, die auf dem Bahnhofsvorplatz Tauben gefüttert hatte. Es war nicht Tokio, doch die gut dreißig Kilometer nordöstlich der japanischen Metropole liegende Großstadt war nicht minder unübersichtlich. Was seiner Meinung nach vor allem auf fehlende Straßennamen zurückzuführen war.

Yuki nahm ihm den Zettel aus der Hand und erklärte ihm, dass es deswegen keine Straßennamen gab, weil Straßen in Japan lediglich die Städte und Stadtteile in Blöcke unterteilten, die durchnummeriert wurden.

„Manchmal nicht einmal in einer logischen Reihenfolge, hat Ken gesagt. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, bezeichnet 155-4 das Haus Nummer vier im Block 155 im Stadtteil Wakamatsu."

Steve nickte.

„Auch ein schlüssiges System. Trotzdem für einen Gaijin wie mich sehr gewöhnungsbedürftig."

„Wir fragen uns am besten nach Wakamatsu durch und sehen dann weiter. Das liegt am Lake Teganuma, den kennen die Einheimischen auf jeden Fall." Yuki schwieg, und er bemerkte, dass etwas an dem, was er gesagt hatte, sie verwunderte. Bevor er nachfragen konnte, brachte sie es selbst zur Sprache.

„Wieso bezeichnest du dich als ‚Gaijin'? Weißt du nicht, dass es eine meist negativ behaftete Bezeichnung für Ausländer ist, insbesondere westliche Ausländer? Ich meine, ich habe nur ‚Shogun' gelesen, aber das ist eigentlich allgemein bekannt."

Steve schmunzelte. Natürlich wusste er das. Doch sie hatte Private Morita nicht gekannt. Dieser Mann hatte ihm den Spitznamen verpasst, erst um seine Verachtung für diesen amerikanischen Schnösel zum Ausdruck zu bringen, der sich als verweichlichte und hirnlose Propaganda-Ikone für Uncle Sams Kriegsanleihen an der Front ins Rampenlicht gerückt hatte. Natürlich mit Revue-Girls, Big Band und allem Pipapo. Später jedoch, nachdem Steve als einer von vierhundert US-Soldaten durch Caps spektakuläre Rettungsaktion aus einem Hydra-Gefangenenlager befreit worden war und nach zahlreichen Missionen des Howling Commandos, als freundschaftliche Neckerei. In so vielen kalten Nächten hatte er an einem Lagerfeuer sitzend betont, dass es nur wenige ‚Gaijin' gab, denen er, Morita, jederzeit das eigene Leben anvertrauen würde. Und einer davon war Captain Steven Grant Rogers.

Wehmütig dachte eben dieser Gaijin ungefähr 65 Jahre später daran zurück und fragte sich, ob noch Angehörige des einstigen Weggefährten und Freundes hier in Japan lebten und ob er sie vielleicht besuchen sollte. Doch Yukis Mappe, die sie ihm zur Vergangenheitsbewältigung überlassen hatte, war umfassend und eindeutig gewesen. Das einzige noch lebende Familienmitglied dieses Mannes war, welch Ironie, Direktor der Midtown High in New York, Steves Heimatstadt, und die befand sich auf der anderen Seite der Welt. Vielleicht, wenn der ganze Wahnsinn vorbei war. Falls er vorbei gehen würde.

„Uff!"

Er war direkt in Yuki hineingelaufen, die abrupt stehen geblieben war.

„Schau mal, der See! Wir sind fast da, der Mann eben hat gesagt, dass das Haus fast am Ufer liegt. Nur noch ein oder zwei Blocks weiter."

✮✮✮✮✮✮

Sakamoto musste zumindest ein bisschen vermögend sein, wenn er sich ein Häuschen in der Lage leisten konnte, und sei es auch noch so klein. Steve versuchte seine Aversion gegen Yukis Onkel zu unterdrücken. Natürlich hätte er seinen alten Herrn dabei unterstützen können, Yukis Mutter aus der Nervenheilanstalt zu holen und somit ihren Selbstmord verhindern. Aber die Leclercs hatten den Mann nicht mit einem Wort in ihrem Video erwähnt. Doch er wollte diesen ihm fremden Mann nicht vorverurteilen, weil niemand wusste, wie sehr dieser vielleicht selbst unter der Situation gelitten hatte oder ob er nicht doch alles Menschenmögliche unternommen hatte, seiner Schwester zu helfen. Er würde versuchen, Ichiro Sakamoto so unvoreingenommen entgegenzutreten, wie er es unter diesen Umständen eben vermochte. Yuki zuliebe – schließlich war Sakamoto-San der einzige Verwandte, der ihr geblieben war.

Sie standen vor einem kleinen, zweigeschossigen Haus in der letzten Straße, die parallel zum Ufer des Teganuma Lake verlief, und Yuki drückte entschlossen auf die Klingel. Sie hörten das gedämpfte, melodische Läuten im Inneren des Gebäudes und warteten.

Nichts passierte. Nichts rührte sich. Yuki verfluchte sich schon innerlich dafür, dass sie nicht vorher angerufen hatten. Doch das hätten sie sowieso nicht tun können, weil es keinen Telefonbuch-Eintrag gab, also seufzte sie frustriert und drückte noch ein weiteres Mal und zwang sich, Ruhe zu bewahren. Vielleicht war er auf der Toilette oder nur kurz einkaufen. Sie mussten einfach nur vor dem Haus warten. Das redete sie sich zumindest ein. Ebenso wie sie die Bewegung hinter dem Vorhang an einem der Fenster neben der Eingangstür geflissentlich übersah.

Doch leider hatte auch Steve diese Bewegung wahrgenommen. Sie erkannte es an der Art, wie seine Augen schmal wurden und seine Kiefermuskeln sich anspannten, und sie konnte nicht mehr so tun, als sei alles im grünen Bereich. Ihr Onkel WOLLTE die Tür nicht öffnen. Andererseits wusste er ja nicht, wer sie waren. Vielleicht hatte er auch einfach keine Lust auf die Zeugen Jehovas, oder was eben das japanische Äquivalent für diese Seelenfänger war.

„Lass uns gehen und heute Nachmittag noch einmal vorbeikommen", schlug Steve vor.

Yuki schnaubte.

„Komm schon, du hast doch auch gesehen, dass jemand im Haus ist! Ich gehe hier nicht weg, bevor ich mit meinem Onkel gesprochen habe. Oder mit demjenigen, der gerade im Haus ist und so tut, als wäre er niemand da."

„Chapeau, ich hätte nicht gedacht, dass du das bemerkt hättest."

„Mr. Überheblich, Sie sollten mich nicht unterschätzen!", rief sie und grinste. „Das ist schon anderen ganz übel bekommen." Sie klingelte Sturm und dachte: „Das kann er nicht ignorieren!"

Wie sich herausstellte, konnte er es doch, denn sie hatte es noch einige Male wiederholt, ohne ein Ergebnis zu erzielen. „Kannst du nicht einfach die Tür aufbrechen?", fragte Yuki missgelaunt.

„Ich könnte, mit Leichtigkeit. Aber das ist, wie du weißt, gesetzeswidrig."

„Und Captain America tut nichts, das gegen das Gesetz ist. Ich weiß, ich weiß."

Steve ließ sich, wie immer, nicht von ihrem herausfordernden Ton provozieren und sagte ruhig: „Das ist es nicht allein, Liebes. Wenn wir das tun, wird er die Polizei rufen – wir können diese Aufmerksamkeit nicht gebrauchen. Selbst wenn er es nicht macht, die Nachbarn werden es ganz sicher. Irgendjemand wird es mitbekommen: Die Tür ist ziemlich massiv und es wird auf jeden Fall laut werden."

„Du hast ja recht, verdammt!" Yuki schlang die Arme um sich selbst und lief auf der kleinen Veranda vor dem Haus auf und ab. „Es macht mich nur so fertig, dass ich so kurz davor bin, die Wahrheit über meine Mutter und mich zu erfahren, und nur diese dämliche Tür noch im Weg ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nichts von der Geschichte damals gewusst hat."

Als sie sich wieder beruhigt hatte, schlug Steve ihr vor, dass sie es als eine Belagerung sehen sollte und ihrem Onkel beweisen, dass sie es länger aushalten konnten. Sie konnten sich zwischen durch mit Lebensmitteln eindecken und auf seiner Veranda kampieren, zur Not auch über Nacht – es war für die frühen Herbsttage nämlich noch immer erstaunlich mild. Schließlich würde der Mann irgendwann Lebensmittel einkaufen müssen. Oder Besuch oder ein Paket empfangen.

Und so warteten sie eine weitere Stunde, und noch eine, und wieder eine. Yuki platzte vor Ungeduld, schaffte es jedoch, es nicht zu zeigen. Steves Bemerkung, dass seine Leute damals oft tagelang in ihren Stellungen ausharren mussten, bis sich eine Gelegenheit zum Angriff ergab, hatte sie beschämt. Sie mussten hier nicht in Schlamm oder Eiseskälte herumsitzen. Und es ging nicht unmittelbar um Leben oder Tod, nur um ein paar Informationen.

Doch dann beschloss sie, dass es nicht schaden konnte, die Sache zumindest ein bisschen zu beschleunigen. Sie kritzelte eine kurze Nachricht auf die Rückseite des Zettels mit der Adresse, in der sie kurz beschrieb, wer sie war und dass er ihr um Akikos Willen doch bitte öffnen solle. Sie ging wieder zum Eingang und bückte sich, hoffend, dass der Türspalt ausreichte, um das Papier durchzuschieben. Da klackte das Schloss leise und die Tür öffnete sich einige Zentimeter.

✮✮✮✮✮✮

So schön und gepflegt das Äußere des kleinen Hauses auch gewirkt hatte, das Innere stand in krassem Gegensatz dazu. Die meisten Fenster waren zugehängt und ließen nur gedämpftes Schummerlicht hinein, überall standen Kartons und Stapel von Zeitungen, und es waren Papiere und undefinierbarer Unrat auf dem Fußboden verteilt. Steve betrachtete mit Bedauern die Tapeten, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, und hielt seine Atmung möglichst flach. Zwar stank es in dieser höhlenartigen Behausung nicht wirklich, doch es hing ein muffiger, abgestandener Geruch in den Räumen, gemischt mit Ausdünstungen, die von Verfall und Krankheit zeugten.

Der Mann, der sich als Ichiro Sakamoto vorgestellt hatte, führte sie wortlos in einen Raum, der einmal ein großzügiges Wohnzimmer gewesen sein mochte. Doch auch hier war alles vollgestellt, selbst auf dem niedrigen Tischchen und den Sitzmöbeln stand und lag allerhand Zeug, von dem mindestens die Hälfte nicht mehr zu gebrauchen war. Nicht einmal der Blick auf den See, den die großzügigen und leider stark verschmutzten Panoramafenster gerade noch zuließen, konnte über den Grad der Verwahrlosung hinwegtäuschen.

Steve musterte sein Gegenüber und versuchte dabei, sich das Mitleid nicht anmerken zu lassen, denn Sakamoto-San sah genauso verwahrlost aus, wie sein Haus, das einmal wirklich schön gewesen sein musste. Zumindest hatte er eine Firma mit der Wartung und Pflege der Außenanlage beauftragt. Doch der Mann selbst war in einem ähnlich bedauernswerten Zustand, wie sein Heim. Tiefe Falten gruben sich in Stirn und Mundwinkel, dunkle Augenringe lagen auf den eingefallenen Wangen und die Kleidung war verschlissen und roch nach Schweiß und Siechtum. Die hagere Gestalt in gebückter Haltung, sowie eine aschfahle und ungesunde Gesichtsfarbe vervollkommneten das Bild eines sehr kranken Mannes. Selbst, wenn er auch nur die kleinste Ähnlichkeit mit seiner Nichte aufwies, Steve hätte sie so nicht erkennen können.

„Ich weiß, wer du bist." Yuki zuckte beim unerwarteten Klang der papierenen Stimme zusammen, und Steve legte beruhigend einen Arm um sie.

„Du siehst aus, wie sie." Er sprach fast akzentfreies Englisch.

„Warum hast du uns dann nicht gleich geöffnet ... Onkel?" Sie machte eine kleine Pause. „Wenn ich dich so nennen darf."

„Wieso nicht? Ich bin dein Onkel, oder nicht? Wenn es dir unangenehm ist, kannst du auch bei Ichiro-San bleiben." Der ältere Mann rang nach Worten, und Steve beschloss, sich weitest gehend rauszuhalten. Als Sakamoto fortfuhr, tat er es stockend, als wägte er noch währenddessen die Worte ab, die er mit zittriger Stimme an seine Nichte richtete.

„Ich hatte nicht geglaubt, dich je wiederzusehen, nachdem diese Leute nicht mitgenommen hatten. Und dann standest du plötzlich da, vor meiner Türschwelle, und ich wusste nicht, was ich tun sollte."

„‚Diese Leute', waren in jeder Hinsicht meine Eltern. Sie waren immer für mich da, sie haben mich geliebt und sie sind tot. Würdest du also bitte mit dem Respekt von ihnen sprechen, den sie verdienen?"

Yukis Bitte, die keine war, schnitt scharf und bitter durch die schale Luft.

Da war es wieder, was Steve schon öfter an ihr beobachtet hatte. Sie mochte ein von Wohlstand verwöhntes Kind des ausgehenden Jahrtausends sein, doch da war ein stahlharter Kern in ihrem Inneren, der zu manchen Gelegenheiten aufblitzte. Mal in ihren Augen und mal in der Art, wie sie sprach, was abhängig von der jeweiligen Situation war.

Steve bezweifelte, dass ihr selbst bewusst war, über welche Kraft sie da verfügte. Doch für ihn war es offenkundig, dass es eben jener in Seide gehüllter Stahl war, der sie die letzten Monate hatte überleben lassen. Stolz flutete warm und wohltuend seine Brust, und er dachte sich: Sie hatte es, bei Gott, verdient, dass er alles tat, was nötig war, um sie zu beschützen. Denn bei aller mentaler Stärke fehlte es ihr doch an Erfahrung im Umgang mit skrupellosen Verbrechern wie Hydra.

Auch Sakamoto hatte erkannt, aus was für einem Holz diese junge Frau geschnitzt war. Er beeilte sich, zu versichern, dass ihm nichts ferner läge, als die Leclercs zu beleidigen. Die fast schon devote Unterwürfigkeit, mit der der Mann versuchte, von seinem Fauxpas abzulenken, stieß Steve ab und machte es ihm schwer, unvoreingenommen zu bleiben. Irgendetwas an Yukis Onkel ließ seine Nackenhaare sich aufstellen, doch er konnte nicht benennen, was es genau war. So beschränkte er sich darauf, den beiden zuzuhören und gegebenenfalls einzugreifen, falls der Schwerkranke sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit auf Steves Mädchen stürzen würde.

Er musste nicht eingreifen. Stattdessen beantwortete der hagere Alte geduldig jede von Yukis Fragen, begierig, ihr zu Gefallen zu sein. Akiko, seine Schwester, habe sich mit den falschen Leuten eingelassen und dann mit ihrem Leben und ihrer Tochter, seiner Nichte, dafür bezahlt. Er wusste nichts von Hydra, nur dass sie in einer dubiosen Firma zu arbeiten begonnen und sich kurz darauf ganz von der Familie abgekapselt hatte, bevor sie spurlos und ohne ein Wort des Abschieds ganz von der Bildfläche verschwunden war. „Dann hat sie uns Schande bereitet, als sie etwa 13 Monate später schwanger wieder aufgetaucht ist."

Steve drückte Yukis Hand. Sie würde nichts mehr erfahren, wenn sie dieses selbstgerechte Scheusal vor den Kopf stieß. Und dass sie kurz davor war, etwas Dummes zu tun, stand ihr überdeutlich in die funkelnden Augen geschrieben.

Er hatte kaum etwas preisgegeben, das von Interesse war, und Yuki war enttäuscht. Sie hatte gehofft, das geheime Labor lokalisieren und dort, so es noch existierte, vielleicht weitere Hinweise finden zu können. Doch Ichiro-San hatte überhaupt keine Ahnung, wer seiner Schwester so übel mitgespielt hatte. Hatte Anspielungen über ihren Lebenswandel gemacht und sogar versucht Täter und Opfer umzukehren, was beinahe dazu geführt hatte, dass Yuki ihm einen der zahlreichen Zeitungsstapel auf dem Wohnzimmertisch um die Ohren geschlagen hätte. Steve hatte sie gerade so noch davon abhalten können.

Inzwischen saß ihr Onkel zusammengesackt auf der einzigen freien Ecke seiner Couch, murmelte unzusammenhängend auf Japanisch vor sich hin und schien am Einnicken zu sein. Da tat er ihr fast schon wieder ein bisschen leid. Schließlich hatten sie den kranken Mann völlig unvorbereitet mit einer unangenehmen Familienangelegenheit konfrontiert, die schon so lange zurücklag, dass er schon seinen Frieden damit gemacht hatte. Oder auch nicht, wenn man den Zustand seiner Behausung betrachtete. Dieser ließ sich zwar zum Teil mit schwerer Krankheit erklären, aber eben nicht nur. Vielleicht sollten sie ihn jetzt einfach in Ruhe lassen und gehen.

Doch als Yuki noch darüber nachdachte, schreckte der alte Mann hoch, nahm ihre Hand und zog sie mit überraschender Kraft zu sich. Sie war selbst erschrocken und sah, wie Steve sich anspannte, bereit einzugreifen, doch sie zwang sich dazu ruhig zu bleiben und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, dass alles in Ordnung wäre.

„Was ist los, Onkel?"

„Ich bedaure so sehr, dass Vater Akikos Wahnideen geglaubt und dich fortgeschickt hat. Verrückte Experimente, die sie sich eingebildet hat. Wer weiß, ob Drogen mit im Spiel waren?"

Yuki wollte schon ihre Hand wegziehen und hatte bereits zu einer beißenden Erwiderung angesetzt. Aber die aufrichtige Trauer in der Stimme Ichiro-Sans ließ sie abwarten, was er noch zu sagen hatte. Denn dass ihm noch etwas auf der Seele und der Zunge lag, war nicht zu übersehen.

„Kind, ich möchte, dass du aufhörst, Gespenstern und irrsinnigen Geschichten hinterherzujagen. Ich bin froh, zu sehen, dass es dir gut ergangen ist, doch du musst die Vergangenheit ruhen lassen. Es wird dir nur Schmerz bringen."

„Warum bist du so überzeugt, dass sie sich alles eingebildet hat? Sie könnte die Wahrheit gesagt haben – willst du es denn nicht wissen?"

Er hob abwehrend die Hände. „Was soll mir dieses Wissen noch bringen? Ich werde nicht mehr lange genug leben, um verarbeiten zu können, was es bedeuten würde, wenn sie tatsächlich mit mehreren Hundert anderen Frauen verschleppt worden wäre, nur damit man sie quält und abartige Versuche mit ihnen anstellt? Ich habe ihre gesamte Akte aufbewahrt, in der alles protokolliert wurde, was sie nach ihrem Auftauchen ausgesagt hat. Dort haben auch alle Ermittler und Gutachter bestätigt, dass es sich um Wahnvorstellungen handelt, man hat auch Spuren von einer halluzinogenen Substanz in ihrem Blut gefunden."

Yuki schluckte und fragte zögernd. „Würdest du mir die Akte überlassen?"

Er schien unschlüssig, und sie sprach hastig weiter: „Es würde mir vielleicht helfen, loszulassen." Das schien die richtige Antwort zu sein, denn mit einem Mal war der Mann so energiegeladen wie noch nie seit ihrer Ankunft, und schlurfte eilig in den Flur. Sie hörte ihn die Treppe hinauf gehen, nach drei oder vier Stufen schwer atmend ausruhen, und dann einige Schranktüren aufreißen. Hin und wieder drang ein Schimpfen zu ihnen herunter, und verschiedene Gegenstände fielen polternd zu Boden.

„Ah, hier ist es!", tönte es zittrig, aber triumphierend aus dem Obergeschoss und Yukis Onkel kam so schnell die Treppe wieder herunter, dass sie fürchtete, er würde stürzen und sich vor ihren Augen den dürren Hals brechen. Doch er brachte auch die letzten Stufen unversehrt hinter sich und schwenkte heftig eine graue Mappe hin und her, angefüllt mit vergilbten Blättern, von denen manche bereits herauszufallen drohten. Yuki nahm sie ihm ab und verbeugte sich, um ihm zu danken und Respekt zu erweisen, wie sie es aus vielen Filmen kannte. Sogar wenn er selbst nicht glaubte, was ihre Mutter zu Protokoll gegeben hatte, so waren auf diesen losen Blättern vielleicht weitere Hinweise auf Hydra oder deren Labor zu finden.

Sie lehnte die Einladung auf einen Tee höflich, aber bestimmt, ab. Einerseits, weil der Gedanke daran, etwas zu sich zu nehmen, das in diesem Haus zubereitet wurde, Übelkeit erregte, und andererseits, weil sie es kaum erwarten konnte, einen Blick in die unscheinbar wirkende Akte zu werfen. Als sie sich an der Haustür verabschiedeten, legte Ichiro-San noch einmal seine Hand auf ihren Arm und hielt sie mit erstaunlicher Kraft zurück.

Er flüsterte eindringlich: „Sie es dir an, Yuki-Chan, und dann reise so schnell wie möglich ab. Wirf keinen Blick zurück ..."

Seine Augen spiegelten kurz Panik wider. Doch bevor Yuki sich einen Reim darauf machen konnte, verschleierten sie sich wieder und seine Aussprache wurde zunehmend undeutlich. „Du siehst aus wie sie ..." Er lächelte abwesend und blickte durch Yuki hindurch. „So ein hübsches Mädchen ... hast du gewusst, dass ‚Akiko' Herbstkind bedeutet?"

Der Mann schloss die Tür und sie hörten ihn dahinter noch eine Weile vor sich hin brabbeln.

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