Der Wind ließ meine Haare aufwirbeln, als ich durch die Gasse eilte.
Ich war auf der Flucht vor etwas, was zum Verzweifeln war. Sie suchten nach mir, nein... nach Johanna. Ich war nur die Person, die diese Rolle verkörperte - und nun musste ich deswegen sehen, wie ich den restlichen Tag vor ihnen weglaufen konnte. Es würde nicht einfach sein, aber was sollte ich auch tun?
Die leisen Schritte hinter mir verklangen. Chishiya war stehen geblieben. Auch ich drosselte mein Tempo und drehte mich zu ihm, während er zu lauschen schien. Ich tat es ihm gleich und konnte hören, warum er gezögert hatte. Es klang komisch, wie ein Surren...
Ein Surren... Surren, wo hatte ich dieses Geräusch schon einmal gehört... Es klang wie ein Propeller. Ein Propeller, der etwas durch die Luft trug...
"Verdammt, eine Drohne!", flüsterte ich und wusste, dass er es schon längst vor mir geahnt hatte. Ich verstand wirklich nicht, was in seinem Kopf vorging, aber mir war bewusst, dass er unheimlich intelligent war.
Was ich jedoch noch weniger verstand, war unsere Beziehung zueinander. Er war auf einmal anders, doch lag es vielleicht an dem Spiel? War es nur eine Phase, die vergehen würde, sobald die Frauenstimme das Ende verkünden würde? Oder würde es anhalten, würden wir jetzt näher zueinander stehen?
Ich wusste, dass es ein Thema war, worüber ich mir in Beach den Kopf zerbrechen würde.
Ich wusste - ja, was wusste ich eigentlich? Wenn ich genauer darüber nachdenke, wusste ich rein gar nichts.
"Runter", zischte der junge Mann neben mir plötzlich und drückte mich unsanft zwischen die Müllsäcke, die lose herumstanden. Das Surren wurde lauter und plötzlich flog eine Drohne über die Dächer der Häuser hinweg. Wir hatten Glück, sie sah uns nicht.
Möglichkeit 1: Bedanke dich bei Collin!
Möglichkeit 2: Sage nichts.
Möglichkeit 3: Fange an zu weinen.
"Danke", murmelte ich und er sah mich an, bevor er grinste. Er sagte nichts und ich war mir ziemlich sicher, dass auch er gerade eine Möglichkeit ausgewählt hatte. Stattdessen stand ich wieder auf als die Luft rein war und lief los.
Wohin? Das wusste ich selbst nicht genau. Ich war mir noch immer nicht sicher, was ich machen sollte. So viele Fragen schwirrten in meinem Kopf umher.
Hole deine Freiheit zurück, verschwinde aus dem Blickfeld, bleibe am Leben...
Johanna musste sich auf ihre Füße kämpfen, um alleine im Leben zu stehen. Sie sollte frei sein, ihre Vergangenheit hinter sich lassen und nicht aufgeben. Warum erinnerte es mich nur so sehr an mich selbst?
Ich huschte über die Kreuzung und tauchte in der nächsten Gasse unter. Er folgte mir erneut, als ich durch die Schatten zog.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass es eine simple Lösung gab, dass Abwarten nicht die richtige Antwort war. Es war ein Herzspiel - andere würden sagen, dass es ein Spiel ist, welches mit Gefühlen spielte und dass es keine Logik gab. Doch... Es musste Logik dahinterstecken, sonst würde man nicht mit den Herzen anderer spielen können. Denn nur, wenn man einen bestimmten Sinn erkannt hatte, konnte man diese Erkenntnis auch gegen andere einsetzen.
Die Entwickler dieses Spieles spielten mit uns, denn sie hatten uns Rollen gegeben. Wir waren Puppen, die mit dünnen Seilen gesteuert wurden. Sie spielten uns, steuerten Handlungen und... damit auch unsere Gefühle. Sie machten es komplizierter, als es vielleicht war.
Alleine das Wissen, dass es sich um eine Herz 9 handelte, löste in den meisten eine große Furcht aus, welche bewirkte, dass sie nicht mehr klar denken konnten, auch wenn die Lösung vor ihnen war. Mache erkannten die 'Antwort' vielleicht noch, doch sie griffen bewusst nicht danach, weil sie mit einer Falle rechneten.
Vielleicht war auch die Freiheit von Johanna Brown in unmittelbarer Nähe?
Aber wie könnten es die Entwickler meinen? Was war die Bedeutung meines Zieles? Es musste eine Bedeutung haben, sonst würde ich jetzt nicht so weit gekommen sein. Freiheit -
"Johanna?", ich zuckte zusammen, als der Name fiel. Ich kannte die Stimme nicht, was ein schlechtes Zeichen sein konnte. Vorsichtig drehte ich mich um und bemerkte in jenem Moment viele Sachen gleichzeitig.
Erstens: Chishiya war nicht mehr hinter mir.
Zweitens: Vor mir stand eine junge Frau, die mich mit großen Augen musterte.
Und drittens: Hinter ihr konnte ich einen Suchtrupp sehen, der sich geradewegs auf uns zubewegte, unsere Begegnung aber noch nicht wahrgenommen hatte. Wer war dieses Person vor mir?
"Du musst hier weg, Johanna! Wenn sie dich finden, wirst du Probleme kriegen! Fiona hat gepetzt, dass du zusammen mit Collin unterwegs warst!", sie blickte sich rasch um, "Bitte. Tu es für mich, für uns... Hanna...", und dann sprintete in die andere Richtung davon. Ich blieb überrascht zurück und brauchte einen kurzen Moment, um mich zu sammeln.
Egal, wer sie auch war, sie stand auf meiner Seite. Sie wollte, dass ich etwas tat - dass ich es für sie tat und auch für andere. Aber was meinte sie damit? Und wie sollte ich überhaupt etwas tun, wenn ich nicht wusste, was es war?
Die Zeit rannte, der Himmel begann sich langsam wieder zu verfärben. Es würde bald die Sonne untergehen... Der Tag war bald vorbei, genau wie die Zeitfrist. Was passierte, wenn sie ablief? Es fühlte sich nicht nach Freiheit an.
"Wo willst du hin, Ayuna?"
"Warum interessiert es dich auf einmal, Vater?"
"Ich habe wohl ein Wörtchen mitzureden, wenn du meinen Haushalt verlässt!"
"Es ist mein Leben. Ihr hattet genug Zeit, Interesse zu zeigen."
"Werde jetzt nicht frech, Fräulein!"
"Ich werde nicht frech! Verdammt! Ich will doch endlich nur meine Freiheit! Und die werde ich nicht bekommen, wenn ich hier bleibe! Ich brauche einen Wechsel, eine neue Umgebung! Etwas, was mich endlich loslassen lässt! Ich muss dieses Kapitel hinter mich bringen. Und du, sowohl als auch Mutter werdet mich nicht aufhalten können."
"Du...DU!"
"Ich lasse mich nicht mehr einsperren. Verstehe es endlich: Ich bin kein kleines Kind mehr, ich kann Entscheidungen selbst treffen."
"Ayuna! Komm sofort zurück!"
Freiheit war nicht, wenn man eingesperrt war. Ich war in einem Käfig, Johanna war in diesem Spiel gefangen, was ihr die Freiheit nahm. Doch wie entkam man dem Käfig, welches das Spiel geschaffen hatte?
Die Grenzen... Ich musste zur Grenze!
Ich lief los. Es war mir auf einmal egal, ob man mich sah oder nicht. Ich war schneller, ich konnte es schaffen!
Ich ignorierte die lauten Rufe, als mich einer vom Suchtrupp sah. Ich würde einfach weiterlaufen, egal, was auch passieren mochte.
Das Auto, welches uns hergebracht hatte, stand noch immer dort, wo wir es abgestellt hatten. Ich schenkte dem Fahrzeug nur einen kurzen Blick.
Ich musste noch ein Stückchen weiter... dann würde ich da sein. Dann würde ich an die Grenze kommen!
"Bleibe sofort stehen, Johanna!", ein Polizeibeamter schrie meinen Namen und dieser durchzuckte die Stille wie ein Blitz den Himmel bei einem Gewitter.
Fünfzig Meter.
Sie wurden langsamer. Ich war ihnen in der Ausdauer überlegen.
Vierzig Meter.
"Bleib endlich stehen, du Göre!", es war Anna Brown.
Dreißig Meter.
Meine Brust schmerzte, die Nachwirkungen meines Stunts machten sich bemerkbar.
Zwanzig Meter.
Fast geschafft! Ich war fast an meinem Ziel!
Zehn Meter.
Ich konnte die Laserschranke schon fast berühren, als ich endlich da war. Abrupt bremste ich ab und blieb stehen, genau wie vier weitere Personen. Der 1 Polizeibeamte, der 3 Polizeibeamte, Anna Brown und Ben Brown.
"Mach jetzt nichts Dummes!", Ben klang nervös.
"Höre auf ihn, komm nach Hause, du Ausreißerin!", Anna Brown klang hysterisch. Ich drehte mich nicht um. Wenn ich tat, würde ich es nicht wagen, den nächsten Schritt zu machen.
"Freiheit...", sagte ich stattdessen, "Ist etwas, was jeder anders definieren kann." Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. "Für mich... Ist es nicht das hier. Ein Ort wie dieser ist ein Käfig. Hier werde ich meine Freiheit nicht finden", ich bereitete mich auf das vor, was ich gleich tun würde.
"Bleib vernünftig! Komm mit nach Hause!", Mom kreischte nun schon fast und ich musste mir ein trockenes Lachen verkneifen. Diese Situation kam mir nur zu gut bekannt vor.
Möglichkeit 1: Gehe mit deiner Familie nach Hause.
Möglichkeit 2: Gehe durch die Laserschranke.
Da war sie, die letzte Möglichkeit. Es war die letzte Entscheidung, die ich treffen müsste. Und so...
Machte ich den Schritt.
Ich trat über die Grenze.
Würde der Laser von oben kommen? Würde ich mein Leben doch am Ende noch verlieren?
Doch...
Alles blieb still.
Und dann ertönte das Piepen.
Gratulation! Du hast das Ziel erreicht!
Spiel gewonnen!
Allen Überlebenden wird ein neun Tage Visa ausgestellt!
Es war vorbei.
Endlich hatte dieses Spiel ein Ende!