Julians PoV
Aufgeregt lief ich in meiner Wohnung umher. Ich hatte längst aufgegeben ruhig irgendwo sitzen zu bleiben. Immer wieder glitt mein Blick zur Uhr, doch die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Ich lief vom Flur zurück ins Wohnzimmer, um dort auf mein Handy zu schauen. Weder hatte ich einen verpassten Anruf, noch eine Nachricht.
"Dir ist bewusst, dass er frühestens in zwanzig Minuten hier ankommen wird, oder?", erkundigte sich Marco grinsend. Der BVB-Kapitän saß völlig entspannt auf meiner Couch und beschäftigte sich mit seinem Handy. "Und selbst dafür müsste schon alles sehr gut funktioniert haben. Keine Verspätung beim Start, Gepäck sofort bekommen, kein Gedrängeln am Flughafen, direkt ein freies Taxi erwischt, kein Stau ..."
"Ich habs verstanden", unterbrach ich Marcos Auflistung. "Aber vielleicht konnte das Flugzeug ja etwas früher starten." Mit hochgezogener Augenbraue blickte Marco von seinem Handy auf.
"Ich bezweifle, dass das überhaupt möglich ist."
"Aber ..."
"Nein, Jule." Marco wandte sich wieder seinem Handy zu.
"Warum bist du überhaupt hier?", erkundigte ich mich, da der Ältere vor einer Stunde unangekündigt bei mir aufgetaucht war und ich den Grund dafür bisher noch gar nicht hinterfragt hatte. Außer auf meiner Couch zu sitzen und gelegentlich mal mein Verhalten zu kommentieren, hatte er noch nichts getan.
"Um zu verhindern, dass du komplett durchdrehst oder in Panik gerätst und deswegen aus der Wohnung flüchtest."
"Indem du dich mit deinem Handy beschäftigst, hilfst du mir aber nicht."
"Ich greif auch nur im Notfall ein. Du musst lernen damit allein klar zu kommen oder soll ich jedes mal, wenn Kai zu Besuch kommt, vorher vorbei kommen, um auf dich aufzupassen."
"Kai war schon häufig hier. Als er noch in Leverkusen gespielt hat, fast jede Woche oder ich war bei ihm."
"Und trotzdem rennst du seit einer Stunde durch deine Wohnung und schaust alle zwei Minuten in den Spiegel."
"Heute ist ja auch was anderes."
"Schon klar, der erste Kuss, der erste Sex ..."
"Sex?!", rief ich dazwischen, wobei ich zu Marco herum wirbelte. "Denkst du wirklich, dass wir ... das Kai ... Da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Was ist, wenn..."
"Jetzt dreh nicht durch wegen Sex, den es vielleicht gar nicht geben wird."
"Warum nicht? Glaubst du, er will keinen Sex mit mir?"
"Du gerätst in Panik, wenn du an Sex mit Kai denkst, aber kein Sex ist auch falsch."
"Doch, ich möchte schon, aber nicht schon heute."
"Es war doch auch nie die Rede davon, dass ihr sofort heute miteinander schlafen müsst, also beruhig dich. Ihr habt alle Zeit der Welt."
"Drei Tage nennst du alle Zeit der Welt?", hinterfragte ich.
"Es ist doch nicht das letzte Mal, dass ihr euch seht."
"Aber ..." Ein Klingeln an der Tür brachte mich zum Schweigen. Sofort sah ich zur Uhr. "Er ist zu früh. Ich bin doch noch gar nicht soweit."
"Du atmest jetzt erstmal nochmal tief durch und ich mache die Tür auf", bestimmte Marco, der bereits vom Sofa aufstand und Richtung Flur verschwand. Ich schloss für einige Sekunden die Augen und versuchte mich etwas zu beruhigen. Im nächsten Moment dachte ich jedoch daran, dass Kai und ich uns das erste Mal, seit wir herausgefunden hatten, dass wir beide Gefühle füreinander hatten, wiedersehen würden. Nervös fuhr ich mir durch die Haare und begann wieder im Wohnzimmer umher zu laufen. Im Flur konnte ich Marco flüstern hören. Wenig später kehrte er zurück ins Wohnzimmer. Hinter ihm entdeckte ich meine beiden Brüder.
"Was wollt ihr denn hier?", wollte ich wissen, wobei ich meine Enttäuschung darüber, dass ich weiter auf Kai warten musste, vermutlich nicht all zu gut verbergen konnte.
"Wir freuen uns auch dich zu sehen", meinte Jascha.
"Jascha ist ein paar Tage bei mir und wir dachten, wir schauen mal vorbei", erklärte Jannis.
"Ich habe keine Zeit."
"Kai kommt zu Besuch", erklärte Marco meine Reaktion.
"Ich hab Kai schon ewig nicht mehr gesehen. Wann kommt er denn?", fragte Jannis begeistert nach. Schweigend sah ich meinen jüngeren Bruder an, ehe mein Blick zu Marco glitt.
"Euer Wiedersehen müsst ihr vielleicht noch etwas verschieben. Jule und er haben einiges zu besprechen." Die Worte meines Mannschaftskollegen reichten leider nicht für die erwünschte Reaktion. Statt zu gehen, setzte Jannis sich aufs Sofa, während Jascha Richtung Küche verschwand, um sich etwas zu trinken zu holen.
"Für ne Stunde oder so wird er ihn wohl teilen können", erwiderte Jannis.
"Ich habs versucht", wandte sich Marco an mich, wobei er mit den Schultern zuckte und sich zurück auf die Couch setzte. Jascha gesellte sich wenig später zu den Beiden.
Leider schienen sie es ernst zu meinen. Denn eine halbe Stunde später saßen die Drei noch immer dort, während meine Nervosität einfach nicht besser wurde. Die blöden Sprüche meiner Gäste waren dabei auch nicht besonders hilfreich.
Als es klingelte, war Jannis sofort auf den Beinen und aufm Weg zur Wohnungstür. Überfordert blickte ich ihm nach, bevor ich hilfesuchend zu Marco schaute, der jedoch damit beschäftigt war, sein Handy anzulächeln.
Nur wenig später kehrte Jannis zurück ins Wohnzimmer. Mats Hummels folgte ihm. Verzweifelt schaute ich zur Uhr. Kai könnte jeden Moment ankommen und ich hatte keine Ahnung, wie ich meine unerwünschten Gäste, die immer mehr wurden, loswerden sollte.
"Ich wollte mich eigentlich dafür entschuldigen, dass ich Mats nicht losgeworden bin, aber da du sowieso Besuch hast, kann ich mir das ja sparen." Mein Blick schoss sofort zurück Richtung Tür, wo ich Kai entdeckte, der mich anlächelte. Mit wenigen Schritten war ich bei ihm, um mich in seine Arme zu werfen. Ich klammerte mich an ihn, während er seine Arme fest um mich schlang. "Ich hab dich vermisst", murmelte er in meine Haare, in denen er das Gesicht vergraben hatte. Als Antwort schmiegte ich mich bloß noch enger an ihn.
"Sollte ich beleidigt sein, weil Kai so eine Begrüßung bekommt und ich gar keine?", fragte Mats.
"Lasst uns doch was essen gehen", schlug Marco vor, "ich lade euch drei ein. Danach können wir ja vielleicht nochmal vorbeischauen."
"Kai und Jule kommen nicht mit?", hakte Jannis nach.
"Die haben keine Zeit. Jetzt hört auf zu diskutieren und kommt mit." Ich blickte rüber zur Couch, wo Marco gerade Jascha auf die Beine zog, um diesen anschließend Richtung Flur zu schieben. Jannis und Mats scheuchte er ebenfalls aus dem Wohnzimmer. "Euch viel Spaß." Der Stürmer zwinkerte uns zu und verschwand dann aus meinem Sichtfeld. Wenig später hörte ich, wie die Wohnungstür geöffnet und anschließend wieder geschlossen wurde. Ich sah zurück zu Kai, der meinen Blick schmunzelnd erwiderte.
"Das habe ich mir irgendwie anders vorgestellt", meinte er.
"Wie bist du an Mats geraten?", erkundigte ich mich.
"Den habe ich zufällig am Flughafen getroffen, als ich mir gerade ein Taxi suchen wollte. Er hatte einen Bekannten dort hingebracht, mich entdeckt und angeboten mich eben herzufahren. Es war allerdings nie die Rede davon, dass er mit reinkommt."
"Es war auch nie geplant, dass Marco, Jannis und Jascha vorbeikommen."
"Jetzt sind wir sie ja erstmal los."
"Ich hatte eigentlich auch nicht vor, die nachher wieder reinzulassen", gestand ich, weswegen Kai grinste.
"Mit dem Plan kann ich sehr gut leben." Zwischen uns entstand eine Stille. Wir befanden uns irgendwo zwischen Freundschaft und Beziehung. Ich wusste von Kais Gefühlen für mich, sowie er von meinen für sich, dennoch fiel es mir noch schwer den Größeren als meinen festen Freund zu benennen. Es fühlte sich einfach noch so unwirklich an.
"Vielleicht sollten wir über das mit uns ..."
"Jule?", unterbrach Kai mich. Fragend sah ich ihn an. Statt weiterzusprechen, lehnte er sich zu mir vor. Kurz vor meinen Lippen stoppte er noch einmal kurz, dann überbrückte er auch den letzten Abstand und küsste mich vorsichtig. Zögerlich bewegten sich unsere Lippen aufeinander. Es fühlte sich so ungewohnt an Kai zu küssen, weil er mein bester Freund war und vielleicht auch, weil ich zuvor noch nie einen Mann geküsst hatte, dennoch wollte ich nie wieder eine andere Person küssen, weil es sich gleichzeitig einfach richtig anfühlte.
Wir wurden beide mutiger. Ich schmiegte mich an Kai, während wir den Kuss weiter vertieften. Am Liebsten hätte ich den Kuss nie beendet, doch kamen mir plötzlich Marcos Worte wieder in den Kopf. Ruckartig löste ich mich von Kai, der mich deswegen erschrocken, aber auch verunsichert ansah.
"Wir müssen darüber reden", stellte ich fest, "also eigentlich hauptsächlich darüber, dass ... das ist alles neu für mich und für dich ja auch. Wir wollten also vielleicht ... Wir haben doch alle Zeit der Welt ... Wenn du aber ... Ich möchte eigentlich ... also nur wenn ..." Sanft umschloss Kai mein Gesicht mit seinen Händen und sah mir in die Augen.
"Ganz ruhig, Jule. Natürlich ist das Ganze neu für uns, aber wir sind immer noch die gleichen Personen. Du kannst mit mir über alles reden. Das konntest du immer und das wird sich nicht ändern. Nur weil jetzt zusammen sind oder dabei sind ein Paar zu werden oder welchen Status wir auch gerade haben, du wirst immer neben dem, wofür ich gerade keine Bezeichnung habe, auch mein bester Freund bleiben." Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen Kais Schulter.
"Ich bin gerade einfach nur nervös."
"Mir geht es nicht anders." Der Jüngere begann mir mit einer Hand sanft durch die Haare zu streichen. "Was wolltest du mir gerade sagen?"
"Hat sich schon erledigt."
"Sicher?" Ich zögerte, entschloss mich dann aber dazu, ehrlich zu sein.
"Ich weiß nicht, ob ich schon mit dir schlafen kann." Nach meinen Worten herrschte Stille, weswegen ich vorsichtig zu Kai aufsah, der mich geschockt anblickte.
"Hattest du das eigentlich für diese Tage geplant? Wenn ja, warum hast du nichts erwähnt? Ich ... ehrlich gesagt habe ich noch gar nicht ... meinst du nicht, dass ..."
"Jetzt gerate du nicht in Panik, nur weil ich mich für einen kurzen Moment beruhigt habe." Ich legte eine Hand an Kais Wange. "Marco hat vorhin mit dem Thema angefangen. Ich hatte vorher noch gar nicht daran gedacht."
"Das ist gut, ich nämlich auch nicht."
"Vielleicht sollten wir dem Ganzen einfach die Möglichkeit geben sich ganz ohne Druck entwickeln zu können. Wir gehen es langsam und entspannt an", schlug ich vor.
"Und ignorieren Marcos Kommentare", ergänzte Kai.
"Oh ja, das ist die oberste Regel", stimmte ich sofort zu. "Es ist schön, dass du hier bist. Ich hab es echt vermisst, dich bei mir zu haben."
"Zählt zu langsam und entspannt angehen lassen, dass ich dich nochmal küssen darf?", fragte mein Gegenüber. Lächelnd biss ich mir auf die Unterlippe.
"Auf jeden Fall." Ebenfalls lächelnd lehnte Kai sich zu mir vor, um mich zärtlich zu küssen. Ich legte meine Arme locker um seinen Nacken, während ich begann einfach den Moment, sowie Kais Nähe zu genießen.
Kai hatte Recht, wir waren noch immer die gleichen Personen. Ich konnte ihm blind vertrauen und bei ihm einfach ich selbst sein.