Leons PoV
Mein Herz raste. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ob ich vor einem Spiel jemals so aufgeregt gewesen war. Natürlich war ich vor meinem ersten Spiel in der Bundesliga, dem erstem Spiel beim FC Bayern München oder auch vorm ersten Spiel mit der Nationalmannschaft nervös gewesen, doch jedes mal war die Vorfreude größer als die Angst. Das konnte ich dieses Mal nicht behaupten. Am liebsten würde ich einfach in der Umkleide sitzen bleiben.
Es stand nicht einmal fest, ob ich spielen würde, da ich einige Wochen Training verpasst hatte. Es könnte also sein, dass die innere Panik an diesem Tag völlig umsonst war und ich beim nächsten Spiel das Gleiche noch einmal durchmachen musste.
Das Spiel lief bereits. Anders als sonst hielten sich dieses Mal fast alle Ersatzspieler in der Umkleide statt am Spielfeldrand auf, um Josh und mir beizustehen. Ich wollte mich den Fans, sowie den Gegnern und deren Fans nicht stellen, wenn es nicht unbedingt notwendig war und diese Notwendigkeit sah ich nur, wenn ich spielen sollte.
Ich hatte die Arme auf meinen Beinen abgestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Mein Atem ging unruhig, ich bekam ihn nicht unter Kontrolle.
"Leon...", sprach Sven mich vorsichtig an, wobei er mir eine Hand auf die Schulter legte. "Versuch ganz ruhig zu atmen." Ich brachte irgendwie ein Schnauben zustande. Der hatte leicht zu reden. Für ihn war das ein Spiel wie jedes Andere. Ich würde vielleicht das erste Mal seitdem Outing wieder das Spielfeld betreten. "Ich bin zwar kein Arzt, aber ich vermute, dass du kurz vor einer Panikattacke bist und ..."
"Lass mich", murmelte ich. Ich war genug mit mir selbst beschäftigt, da konnte ich jetzt keine weitere Person gebrauchen, die meine Aufmerksamkeit haben wollte. Grundsätzlich wusste ich, dass Sven mir nur helfen wollte, doch in diesem Moment konnte ich seine Hilfe nicht annehmen. Seufzend erhob er sich von der Bank.
"Joshua", sagte er etwas lauter, dann ging er. Es vergingen nur wenige Sekunden bis die nächste Person an meiner Seite erschien.
"Wir schaffen das, Leon", ertönte die Stimme meines Freundes leise vor mir. Ich hob das Gesicht etwas aus meinen Händen, wodurch ich sehen konnte, dass Joshua sich vor mich gekniet hatte. "Wir bekommen das zusammen hin."
"Warum bist du dir da so sicher?", wollte ich wissen, wobei ich merkte, dass sich allein durch Joshs Nähe die Panik etwas legte.
"Weil ich nichts anderes zulassen werde. Die Anderen haben uns doch schon gesagt, dass ein Großteil der Fans hinter uns steht und wenn die anderen Vereine nicht damit klar kommen sollten, dass wir ein Paar sind, ist das deren Problem. Deren Meinung sollte uns niemals davon abhalten sie bei einem Spiel zu besiegen. Unser Verein steht hinter uns. Unsere Karrieren gehen weiter. Es werden nicht alle von unserem Outing begeistert sein, doch dafür kann ich jetzt das hier tun ..." Joshua streckte sich etwas und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. "Und zwar überall und jederzeit."
"Ich liebe dich."
"Ich liebe dich auch." Ich lehnte mich zu ihm runter und küsste ihn zärtlich.
"Thomas wird neidisch werden, wenn wir ihm erzählen, was er gerade verpasst hat", ertönte Lucas amüsierte Stimme. Als ich zu ihm sah, stellte ich fest, dass er uns ansah, weswegen seine Aussage vermutlich auf uns bezogen war.
"Du wirst mir immer sympathischer, Lucas", grinste Josh, ehe er sich wieder mir zuwandte. "Und jetzt hoch mit dir, Leon, wir sorgen dafür, dass wir unsere Stammplätze wieder bekommen. Ich bin während des Spiels lieber aufm Spielfeld als in der Umkleide." Mit diesen Worten drückte er mir noch einen Kuss auf die Lippen, dann stand er auf und hielt mir seine Hand hin, welche ich ergriff und ebenfalls aufstand.
"Wir begleiten euch nach draußen", entschloss Sven.
Alle zusammen machten wir uns auf den Weg zum Spielfeld. Kurz vorm Verlassen der Katakomben blieb ich einfach stehen, weswegen auch Joshua, dessen Hand ich noch immer hielt, stoppen musste.
"Ich hole Flick mal her, damit er euch direkt einwechselt", meinte Lucas, der dann auch direkt die Treppe nach oben lief und aus unserem Sichtfeld verschwand. Ich sah ihm einen Moment nach, ehe ich zu Josh sah, dessen Blick auf mir lag.
"Tut mir leid, dass ich gerade so anstrengend bin", sagte ich ihm.
"Glaubst du, ich habe keine Angst? Wir wissen nicht, was da draußen auf uns wartet, aber wir werden es auch beim nächsten Mal nicht wissen, wenn wir heute nicht da raus gehen. Wir gehen diesen Weg zusammen, Leon. Wenn du heute noch nicht spielen möchtest, dann ist das okay, dann warten wir noch."
"Du kannst ..." Joshua unterbrach mich.
"Nein, ich kann da nicht alleine rausgehen. Ich kann und will nicht ohne dich diesen Schritt machen. Wir machen das gemeinsam, wenn wir beide bereit dafür sind."
"Wir sind mitten in der zweiten Halbzeit und die Gegner führen, was ist so wichtig, dass ich unbedingt sofort hier her kommen muss?", ertönte die genervte Stimme unseres Trainers. Für einen Moment sahen Josh und ich uns schweigend in die Augen, bevor ich mich Flick zuwandte und das Wort ergriff.
"Josh und ich wollen spielen. Jetzt", stellte ich klar, woraufhin Josh sanft meine Hand drückte. Das Versteckspiel brachte nichts mehr. Wir mussten den Schritt zurück aufs Spielfeld wagen, um endlich aufatmen zu können.
"Ich kann aufm Spielfeld gerade keine Spieler gebrauchen, die nicht zu hundert Prozent Leistungsfähig sind. Euch fehlen beide ein paar Wochen Training, Kimmich wurde vor sechs Wochen gerade erst operiert und durch euer Outing bin ich mir auch nicht sicher, ob ihr überhaupt komplett bei der Sache seid."
"Du weißt aber auch, dass wir zu den Besten auf unseren Positionen gehören. Lass uns spielen und wir werden zusammen mit den Anderen den Sieg holen", meinte Joshua komplett überzeugt. "Ja, vielleicht werden wir gleich für etwas Unruhe im Stadion sorgen, aber das wird nicht die Leistung von Leon und mir oder der restlichen Mannschaft negativ beeinflussen können. Wir sind bereit, lass uns spielen." Einen Moment sah unser Trainer noch zwischen uns hin und her, ehe er seufzend nickte.
"Na schön, ich schaue gleich mal, wann ich euch beide eingewechselt bekomme."
"Wie wäre es mit jetzt und beide gleichzeitig?", schlug Lucas vor.
"Komm schon, Hansi, lass die Beiden bei ihrem ersten Spiel nach dem Outing zusammen das Spielfeld betreten. Setzt ein Zeichen, dass wir als Verein hinter ihnen stehen", schob Sven sofort hinterher.
"Das ist das erste und das letzte Mal, dass ich euch bestimmen lasse, wann welcher Spieler eingewechselt wird", stellte Hansi klar, ehe er die Katakomben verließ. Oben auf der Treppen blieb er stehen und schaute zu uns runter. "Dann kommt jetzt gefälligst auch." Mit diesen Worten verschwand er zurück zu seinem Platz.
"Ich liebe dich, Leon, wir bekommen das hin", sagte Joshua leise zu mir.
"Ich liebe dich auch." Wir küssten uns noch einmal zärtlich, bevor wir gemeinsam mit den anderen Spielern die Katakomben verließen. Eilig trafen wir die letzten Vorbereitungen, um gleich das Spielfeld betreten zu können. Kurz schielte ich zum aktuellen Spielstand, welchen ich vor Aufregung bisher gar nicht beachtet hatte. Es stand 2 zu 1 für den BVB.
Hansi wartete noch bis Josh und ich soweit waren, dann ließ er gleichzeitig zwei Schilder hochhalten, die unsere Einwechselung ankündigten. Kaum waren die Schilder oben, wurde es im Stadion lauter, wobei der meiste Lärm von unseren Fans kam. Es wurde noch einmal lauter, als Joshua und ich dann tatsächlich Seite an Seite, jedoch ohne Körperkontakt, das Spielfeld betraten. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lächeln. Wir klatschten mit unseren Mannschaftskollegen, deren Positionen wir einnahmen, ab. Einen letzten kurzen Blick tauschten Josh und ich aus, dann konzentrierten wir uns komplett aufs Spiel.
Nur wenige Minuten nach unserer Einwechselung konnten wir beweisen, dass wir auch aufm Spielfeld ein eingespieltes Team waren. Joshua spielte von der rechten Seite eine Flanke. Per Kopfball versenkte ich den Ball im Tor.
Für einen Moment starrte ich den im Tor liegenden Ball an, bevor Thomas und Robert mich in eine Umarmung schlossen. Breit grinsend erwiderte ich die Umarmung. Es war nicht nur das Ausgleichstor, sondern auch ein klares Zeichen, dass das Outing keinen negativen Einfluss auf unsere Leistungen aufm Spielfeld hatte. Wir waren noch immer die gleichen Fußballer wie vor sechs Wochen.
Fünfzehn Minuten später bewiesen wir dies erneut.
Wir hatten den Strafraum des BVB erreicht, als Robert mir den Ball zu passte. Ich wollte aufs Tor schießen, entschied mich jedoch im aller letzten Moment dagegen, da Roman Bürki, der Torwart des BVB, plötzlich direkt vor mir stand. Stattdessen spielte ich den Ball ein Stück zurück, wo genau im richtigen Moment Joshua auftauchte und den Ball ins Tor schoss.
Kurz vor Abpfiff hatten wir somit die Führung übernommen. Dementsprechend laut fiel auch der Jubel der Fans aus. Ich stürmte zu meinem Freund, der sich bei seinem Torjubel ein paar Meter entfernt hatte. Kaum hatte ich ihn erreicht, legte ich eine Hand in seinen Nacken und zog ihn an mich. Josh vergrub sein Gesicht an meiner Halsbeuge, während sich unsere Körper aneinander schmiegten. Einige unsere Mannschaftskollegen schlossen sich unserer Umarmung an.
Josh hob den Kopf und grinste mich glücklich an. Breit Lächelnd lehnte ich meine Stirn gegen seine. Besser hätte das Spiel für uns beide gar nicht laufen können. Am liebsten hätte ich meinen Freund in diesem Moment einfach geküsst, doch ich tat es nicht. Drei Jahre lang hatten wir unsere Beziehung verheimlicht. Ich konnte all die Angewohnheiten, sowie die Vorsichtig nicht einfach ablegen und Joshua mitten aufm Spielfeld küssen ... vielleicht würde ich es aber eines Tages tun. Ich würde mir den Kuss nach dem Spiel holen.
Wir lösten uns voneinander und liefen zurück zu unseren Positionen, um unseren Vorsprung bis zum Abpfiff zu verteidigen, was uns zum Glück auch gelang. Wir feierten den Sieg noch einen Augenblick mit den Fans, ehe wir zurück in die Kabine liefen. Kaum hatten wir diese erreicht, zog ich Josh an mich und küsste ihn. Seine Arme schlangen sich um meinen Nacken.
"Ich bin für eine Siegesfeier", rief Robert durch die Kabine.
"Also duschen, anziehen und dann treffen wir uns alle bei Kimetzka", entschloss Thomas, weswegen ich mich von Josh löste und irritiert zum Stürmer sah.
"Wieso zu uns?", hakte ich nach.
"Es gab noch keine Feier für euren Zusammenzug, die können wir dann heute Abend direkt nachholen", erklärte er mir.
"Die kommt dann aber ziemlich verspätet. Wir sind vor über zwei Jahren zusammengezogen", warf Josh ein.
"Dass es bisher keine Party deswegen gab, lag ja nun wirklich nicht an uns. Wir können ja nicht darunter leiden, dass ihr versäumt habt uns einzuladen." Ich seufzte, da eine Diskussion mit Thomas sowieso zwecklos war. "Das nehme ich als Zustimmung. Ich würde mich sogar bereit erklären unterwegs noch Getränke zu besorgen." Mit diesen Worten verschwand Thomas Richtung Duschraum.
Eine Stunde später saß etwa die halbe Mannschaft bei uns im Wohnzimmer. Die restlichen Mitspieler hatten entweder keine Zeit gehabt oder waren zu müden gewesen. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung und Thomas hatte mehr als ausreichend Getränke geholt. Sollte etwas davon überbleiben, wollte er damit irgendwann in den nächsten Tagen Joshuas Auszug aus dessen Wohnung feiern.
Ich hatte einen Arm um meinen Freund gelegt und konnte einfach nicht widerstehen mir ab und zu Küsse zu stehlen. Die Panik über das ungeplante Outing hatte sich inzwischen größtenteils gelegt. Stattdessen begann ich es nun zu genießen, dass ich Josh auch küssen konnte, wenn wir nicht allein waren. Es war plötzlich alles viel einfacher.
Das Handy von Joshua, welches vor ihm aufm Tisch lag, leuchtete auf und kündigte einen eingehenden Anruf von einer nicht eingespeicherten Nummer an.
"Ich gehe mal eben hoch zum Telefonieren. Bei der lauten Musik hier, würde ich vermutlich kein einziges Wort verstehen", informierte Josh mich, küsste mich noch einmal kurz und verschwand dann mit seinem Handy nach oben. Wer rief ihn so spät noch an und wieso?
"War das Jo's Lover?", lachte Lucas. Irritiert blickte ich ihn an.
"Die Nummer war nicht eingespeichert. Ich weiß nicht, wer das war", meinte ich.
"Es ist ja auch unauffälliger, wenn eine Nummer angezeigt wird als ein Name mit Herzchen."
"Worauf willst du hinaus?"
"Auf nichts, ich mach nur Spaß, Leon, entspann dich." Lucas grinste mich an.
"Joshua würde mich nicht betrügen", stellte ich klar.
"War ja auch nicht ernst gemeint."
"Wobei es jetzt, wo er geoutet ist, deutlich einfacher wäre", schloss sich Robert dem Gespräch an.
"Aber wenn er eine Affäre hätte, warum sollte er sich dann den ganzen Stress mit dem Outing antun? Er könnte ja einfach was festes mit der Affäre anfangen und sein Liebesleben weiterhin geheim halten", warf Leroy ein.
"Wie würde das denn aussehen? Jo war auf dem Kussbild eindeutig zu erkennen. Macht in der Öffentlichkeit kein besonders guten Eindruck, wenn er Leon in so einer Situation einfach sitzen lassen würde", meinte Niklas.
"Und mit wem hat er eine Affäre? Ein Fußballspieler?", hakte Lucas nach.
"Hauptsache er wechselt deswegen nicht den Verein", seufzte Niklas.
"Jungs, es reicht", beendete Manuel die Diskussion.
"Wir albern doch nur herum", verteidigte Leroy sich und die Anderen.
"Dann albert über irgendwas anderes herum." Manuel, der auf Joshuas anderen Seite gesessen hatte, legte mir eine Hand auf die Schulter. "Alles okay?" Ich nickte und schaute Richtung Treppe.
"Geh ruhig hoch. Ich versorge eure Gäste schon", bot Thomas an, was ich tatsächlich annahm. Ich vertraute Josh eigentlich, aber die Jungs hatten es doch irgendwie geschafft, mich mit ihrem Gerede zu verunsichern. Ich lief also die Treppe nach oben, um kurz nach meinem Freund zu schauen. Im Flur stoppte ich. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt, weswegen ich Josh Stimme hören konnte.
"Ich weiß nur nicht, warum du mich jetzt anrufst. Wir haben uns doch vorhin erst gesehen ... Ja okay, stimmt, das wäre wirklich nicht der richtige Ort dafür gewesen und hätte übel enden können ... Ja, wir können uns treffen. Soll ich morgen vorbei kommen? ... Wie willst du es sonst machen? Sollen wir uns auf halber Strecke in einem Hotel treffen? ... Dann müssen wir aber hoffen, dass die Hotelmitarbeiter schweigen können ... Sehe ich auch so ... Ich weiß nicht, ob Leon morgen Zuhause ist ... Wir könnten sonst aber auch in meine Wohnung, da sind wir auf jeden Fall ungestört ... Fährst oder fliegst du? ... Okay, schreib mir dann eben. Ich hol dich vom Flughafen ab, dann muss du kein Taxi nehmen ... Ich mich auch. Bis morgen ... Ja, ja, ich dich auch."
Ich stand wie versteinert auf der obersten Treppenstufe. Hatten meine Mannschaftskollegen recht? Hat Joshua tatsächlich eine Affäre?
Fortsetzung folgt ...