Hypothermie

By 1moreindakitchen

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[𝗪𝗮𝘁𝘁𝘆𝘀 𝟮𝟬𝟮𝟮 𝗚𝗲𝘄𝗶𝗻𝗻𝗲𝗿 (Größter Twist)] Ein unerwarteter Schneesturm verwandelt Daniels Stad... More

Vorwort
Eis 1.0
Eis 1.1
Eis 1.2
Eis 1.3
Eis 1.4
Eis 1.5
Eis 1.6
Eis 1.7
Eis 1.8
Eis 1.9
Zwischenspiel 1a
Zwischenspiel 1b
Jagd 2.0
Jagd 2.1
Jagd 2.2
Jagd 2.3
Jagd 2.4
Jagd 2.5
Jagd 2.6
Jagd 2.7
Jagd 2.8
Jagd 2.9
Zwischenspiel 2
Tor 3.0
Tor 3.1
Tor 3.2
Tor 3.3
Tor 3.4
Zwischenspiel 3a
Zwischenspiel 3b
Zwischenspiel 3c
Stoß 4.0
Stoß 4.1
Stoß 4.2
Stoß 4.3
Stoß 4.4
Stoß 4.5
Zwischenspiel 4a
Zwischenspiel 4b
Beben 5.1
Beben 5.2
Beben 5.3
Beben 5.4
Beben 5.5
Beben 5.6
Zwischenspiel 5
Schock 6.0
Schock 6.1
Schock 6.2
Schock 6.3
Schock 6.4
Schock 6.5
Schock 6.6
Zwischenspiel 6
Tilgung 7.0
Tilgung 7.1
Tilgung 7.2
Tilgung 7.3
Tilgung 7.4
Tilgung 7.5
Tilgung 7.6
Zwischenspiel 7
Befreiung 8.0
Befreiung 8.1
Befreiung 8.2
Befreiung 8.3
Befreiung 8.4
Befreiung 8.5
Nachspiel 1
Nachspiel 2
Nachwort
Fortsetzung
Cover-Evolution
Artwork
Hörprobe

Beben 5.0

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By 1moreindakitchen

Es klopfte an meine Tür und ich saß aufrecht im Bett.

Mit einem Auge lugte ich auf die Zeitanzeige, die in einem matten Braunton auf dem Medienpanel angezeigt wurde. 7:43. Noch keine Zeit, um regulär geweckt zu werden. Man hatte mir noch nicht einmal drei Stunden Schlaf gegönnt. Dennoch klappte ich die weiße Synthetikdecke über meinem Körper weg und schwang die Beine aus dem Bett. Was blieb mir auch übrig?

"Ich bin wach!", rief ich in Richtung der Tür und angelte dabei nach meiner Hose, die über einem Stuhl neben dem Bett hing. Ich schlüpfte hinein, kämpfte mit meinen Gleichgewichtssinn und gegen die Augen, die immer wieder zufallen wollten. Wach? Von wegen. Wir einigten uns auf ein unentschieden. Ich ließ die Augen halb offen und streifte mir auf dem Weg zur Tür noch mein Shirt über.

Die Anzeige des Personenscanners neben dem Rahmen zeigte keine ID an, es musste jemand von uns sein. Kein Sicherheitskorps. Ich atmete auf und löste die Türverriegelung.

Klara stand davor. Sie sah müde aus, scheinbar hatte sie noch weniger Schlaf abbekommen als ich, vielleicht auch gar keinen.

"Teambesprechung. Numbaka ist auf etwas aus unserer Vergangenheit gestoßen."

"Was? Und das hat keine Zeit bis morgen?"

"Genau genommen ist es doch schon morgen, oder?"

"Kleine Klugscheißerin. Heute Mittag dann?" Ich gähnte übertrieben und starrte sehnsüchtig in Richtung Bett.

"Bist du nicht gespannt? In-for-ma-tio-nen." Sie wedelte mit einem unsichtbaren Blatt Papier vor meiner Nase herum. "Ich bin gespannt. Ich habe zwar nur ein bisschen davon gesehen, aber es war eine Aufnahme des Eiszombies."

"Unser Eiszombie?"

Die Haare auf meinen Unterarmen stellten sich auf und ich spürte, wie mein Herz sich langsam aber sicher warm lief.

"Gibt es denn noch mehr? Aber ja, ich hab ihn genau erkannt."

Tja, und so gewann ich gemeinsam mit der Neugier den Kampf gegen meinen müden Körper.

"Okay, ich zieh mir noch Schuhe an, dann komm ich. Sind die anderen schon wach?"

"Denke schon. Der Alte ist in ihre Richtung gelaufen, ich in deine."

Ich zog die Schublade auf und ließ meine Hand über die Auswahl schwarzer Socken gleiten, bis ich einen Farbton fand, der mir gefiel. Darüber zog ich schwarze Arbeiterstiefel mit Stahlkappen, denn in Numbakas Reich konnte man nie wissen, wann einem mal schweres Werkzeug auf den Fuß fiel oder Sergej sich beim Klettern – ganz aus Versehen natürlich – mit der Prothese daran festhielt. Ich stellte das Medienpanel auf Spiegelmodus und betrachtete mein braunes Haar, das in  Gruppen wirr in alle Richtungen abstand. Keine Zeit, mich darum zu kümmern, also schnappte ich mir die grüne Schirmmütze, die zur Technikertarnung gehörte, und bändigte es damit.

"Man sieht dir fast nicht mehr an, dass du gerade noch geschlafen hast", kommentierte Klara. "Mit der Mütze kannst du sogar deine Augenringe verstecken."

"Witzig. Noch ein paar solcher Nächte und wir brauchen keine Schminke mehr, um auf eine der Untergrundpartys zu gehen." Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen, aber die Augenringe wurde ich immer noch nicht los. "Alles klar, wir können aufbrechen."

Die anderen warteten bereits in der Werkstatt auf uns und Moritz bastelte wie immer an irgendetwas rum. Ein Film lief auf dem Medienpanel. Sergej hatte es sich auf einem Stuhl bequem gemacht und schwang gerade seine Beine auf den Tisch in der Mitte des Raums. Mit den Bandagen um Arm und Oberkörper sah er wie eine halbe Mumie aus. Klara setzte sich auf den Tisch, direkt in sein Sichtfeld und wurde von einem geworfenen Kronkorken wieder vertrieben. Einen Meter nach links, damit er wieder etwas sah. Ich platzierte mich in der Ecke des Raums, wo ich mich an ein Regal lehnte.

Numbaka löste seinen Blick vom Medienpanel und drehte sich zu uns um.

"Schaut es euch einfach an."

Dann setzte er sich auf einen Stuhl neben dem Tisch.

Der Film zeigte eine Gruppe Schrottis und Siks, auf einer Bergungsmission, unterwegs auf kleinen Segelbooten, die über dem Eis schwebten. Die sah ich zum ersten Mal. Über die Einsätze der Schrottis hatte ich bisher nur in Numbakas Geschichten gehört. In der Unterwelt kam man auch einfach an kein Filmmaterial über dieses Thema heran. Das entsprach nicht dem Unterhaltungsprogramm, das die Menschen hier unten sehen sollten.

Die Frau, die mit dem Kameramann unterwegs war, kam mir bekannt vor. Das war dieselbe, die uns vor einigen Stunden zum Erfolg unserer Mission gratuliert hatte. Hatte im Film aber mehr Farbe und weniger Grau. Sie musste wohl, nachdem die Einsätze eingestellt und die Teams aufgelöst wurden, in den Bergbaubereich gegangen sein. Was für ein sozialer Sturz von der Oberwelt bis ans unterste Ende der Unterwelt. Wie lange, hatte Numbaka gesagt, war es her, dass die Tore geschlossen wurden? Vierzig Jahre? Oder fünfzig? Dann hatte sie sich wirklich gut gehalten. So gut, dass es schon fast verdächtig war.

Der Argwohn wich Erstaunen, als der Zylinder ins Bild kam.

"Was zur Hölle?", fluchte Sergej.

"Es war kein Traum!", rief Klara.

"Und auch keine Simulation", stimmte ich in den Chor ein. "Der Zylinder ist echt!"

Numbaka warf uns einen mahnenden Blick zu, damit wir die Klappe hielten und so sahen wir uns stumm die Aufzeichnung weiter an.

Wir hatten uns nur zwei Tage im Zylinder aufgehalten, doch jetzt, wo ich diese Aufnahmen sah, kam es mir so vor, als würde ich an einen vertrauten Ort zurückkehren. Die Bilder vertrieben jeden Zweifel, dass wir tatsächlich dort gewesen waren.

Der Zylinder lief auf Notstrom, was das auch immer bedeutete und das Team arbeitete sich durch die Etage. Es war dieselbe Etage, über die auch wir eingestiegen waren. Ich erkannte die Räume, die sie durchsuchten und auch mir entging die Ähnlichkeit zwischen dem Inneren der Zitadelle und des Zylinders nicht. Allein, dass die Zitadelle eine gigantische Version von dem war, was wir jetzt auf dem Medienpanel sahen.

Was bedeutete das für uns? Die KI und der Eiszombie hatten uns berichtet, dass der Zylinder ein Raumschiff war, nicht von unserem Planeten. Die Zitadelle war aber von Menschen errichtet worden. Hatten sie die Technik übernommen und waren so in der Lage gewesen, sie so schnell nach der Klimakatastrophe zu bauen?

Das Team erreichte den Raum mit den Tanks.

"Scheiße!", kommentierte Sergej, als einer der Siks einen einzelnen Metallarm in die Höhe hielt. Numbaka zischte und Sergej grummelte etwas Unverständliches, das sicher auch mit der Kanalisation zu tun hatte.

Als eine Person ins Bild lief, bei der es sich offensichtlich um Moritz handelte, spürte ich, wie jeder den Atem anhielt, um sich keinen Ärger mit dem Boss einzuhandeln. Wir würden es danach diskutieren.

Stumm verfolgten wir, wie ein Teil des Teams in die Tiefe stieg, dort die Überreste der Tiere fand und wieder umkehrte.

Wenn die Tiere tot waren, womit wurde der Terraformer dann noch betrieben? Warum herrschte dort draußen immer noch eine Eiszeit?

Schließlich mussten wir hilflos mitansehen, wie einer nach dem anderen sein Leben verlor und der letzte Überlebende, der Kameramann, vor dem Eiszombie floh.

Dann endete die Aufnahme und ließ uns sprachlos zurück. Keiner wusste, wie er beginnen sollte und das Gesehene in Worte fassen.

Schließlich brach ich das Schweigen.

"Der Kameramann?"

"War ich", antwortete Numbaka. Er hatte sich mit seinem Stuhl zu uns gedreht. "Ich hatte das alles komplett vergessen. Irgendwo tief unten in einer Schublade meines Gedächtnisses vergraben. Danach gab es so viele Änderungen in der Zitadelle, die meine eigene Existenz bedrohten. Vielleicht konzentrierte ich meine Energie damals auch so sehr darauf, wie meine Zukunft nach der Schließung der Tore aussehen würde, dass ich dieses Ereignis verdrängen konnte. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich bin ich einfach nur alt. Dass Annadora jetzt aufgetaucht ist, hat alles wieder hervorgeholt."

"Wie hat sie das überlebt?"

"Hat sie es denn überlebt?" Numbaka fuhr sich durch die krausen, grauen Haare. Er sah müde aus und nicht nur, weil es 7 Uhr in der Früh war. "Ich frage mich, ob die Hypothermieabteilung sie irgendwie zurückgeholt hat. Sie war damals die Verlobte eines der Ratsmitglieder. Und ich kann mich erinnern, dass ein Aufgebot der Siks ausgeschickt wurde, um nach dem Bruder von Ratsmitglied Thulius zu suchen. Das war der Tek, der uns begleitet hat."

"War ich das? Sah wenigstens so aus wie ich", kam es von Moritz, dessen Gesicht von einer Schutzmaske verdeckt war, während er mit seinem Laser ein Werkstück bearbeitete.

"Das muss Moritz gewesen sein", pflichtete Klara bei.

"Ist Thulius der Vorname oder der Nachname von dem Typen", richtete ich mich an Numbaka.

"Den Namen hat er angenommen, als er Mitglied des Rates wurde. Jedes Ratsmitglied nimmt einen neuen Namen an, wenn es gewählt wird. Das soll dem Amt mehr Würde verleihen und sie von den normalen Bürgern abheben. Keine gewohnten Namenskonventionen, nichs das aus einer anderen Kultur vor der Zeit des Eises stammen könnte oder dem Bereich der Zitadelle, aus dem es stammt. An seinen richtigen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. In der Oberwelt könntet ihr das wahrscheinlich herausfinden. Ist das wichtig?"

"Es könnte wichtig sein, da hat Daniel Recht." Moritz legte das Werkstück beiseite und setzte sich zu uns in die Runde. "Weil ich Erinnerungen an meine Familie habe. Ich habe einen älteren Bruder, mit dem ich in der Zitadelle aufgewachsen bin. Meine Erinnerung deckt sich aber nicht damit, dass er ein Ratsmitglied war. Auch an diesen Einsatz erinnere ich mich nicht."

"Vielleicht hat dein Kopf ja doch etwas in der Kältekammer abbekommen." Sergej grinste ihn an und ich wusste, dass er noch eine Stichelei hinterherschieben würde. "Das erklärt dann auch deinen Technikfetisch."

Klara warf ihm einen finsteren Blick zu und Sergej zuckte mit den Schultern. "Ist doch wahr, oder?" Er sah mich hilfesuchend an, doch mir brannten nur all die Fragen auf der Seele, die diese Aufnahme aufgeworfen hatte. Wie passten die neuen Informationen in das Puzzle unserer Vergangenheit?

"Die Anzahl der gefüllten Kapseln in der Aufnahme stimmt nicht", stellte ich fest. "Vor allem nicht, wenn Moritz nicht darin war. Auch, dass der Eiszombie oder irgendjemand anderes von uns noch in einer Form war, lebendig oder am Stück in die Tanks eingelagert zu werden."

"Seid ihr alle in eurer Erinnerung gestorben?", fragte Numbaka.

"Ich bin eingefroren, was sich sogar mit der Aufnahme deckt," bestätigte Moritz.

"Ich wurde vom Eiszombie zerrissen und sie haben mich einfach liegen lassen", kam es von Sergej. "Ich habe noch einen Teil des Gesprächs mitbekommen, das Daniel und der Eiszombie geführt haben, dann bin ich hier aufgewacht."

"Das deckt sich auch mit meiner Erinnerung und sogar im Video gibt es Anzeichen, dass es passiert ist", sagte ich. "Die Siks haben seinen Arm gefunden. Auch die Schäden in der Kammer mit den Kapseln entsprechen meiner Erinnerung. Ich glaube, dass ich in der untersten Etage verbrannt bin. Zusammen mit einer Ärztin und einem Soldaten, der uns begleitet hat. Meine Erinnerung daran ist aber bestenfalls schwammig. Ich meine, wer kann sich normalerweise schon an seinen Tod erinnern und danach davon berichten?"

"Ich habe die Bombe hingelegt und hab versucht, mit Fipsi nach oben zu kommen. Glaube aber, dass ich es nicht geschafft habe", trug Klara zu unserer Austauschrunde bei.

"Du hast es geschafft, die Bombe zu zünden?", fragte ich nach. "Das hast du uns nie gesagt."

"War nicht wichtig, oder? Immerhin haben wir das für einen Traum gehalten. Die Uhr auf der Bombe lief los, als ich weggelaufen bin."

"Okay, wenn es keine Tiere mehr gibt, um den Terraformer mit Energie zu versorgen und wir ihn sowieso gesprengt haben, warum ist die Welt trotzdem vereist worden? Und wie haben wir das alles überlebt?", führte ich den Gedankengang fort.

"Die Welt könnte auch einfach so vereist worden sein", sagte Klara. "Weiß doch jedes Kind, dass es früher auch schon eine Eiszeit gab."

Ich zog die Augenbrauen hoch. Aber ja, sie hatte recht. Es musste nicht alles zusammenhängen.

"Von der Rettungsmission, die der Rat hinausgeschickt hat, kamen nicht viele zurück." Numbaka starrte nachdenklich durch mich hindurch. "War das der Grund, warum Thulius die Tore schließen ließ? Es ist einfach schon so lange her. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sie es noch geschafft haben, eure Kältekammern zu bergen und auch Moritz und Annadora zurückzuholen."

"Ich meine, es ist nicht nur merkwürdig, wie wir hierher gekommen sind, wobei das auch eine gute Frage ist. Sondern, wie wir aus der untersten Etage überhaupt in verwertbarer Form in den Raum mit den Tanks gebracht wurden und von wem."

"Ich fürchte fast, ihr habt jetzt noch mehr Fragen zu beantworten." Numbaka verzog das Gesicht. "Dabei solltet ihr eure Zeit eigentlich dazu nutzen, für mich zu arbeiten, statt zu grübeln. Aber mir lässt das jetzt auch keine Ruhe mehr, also drücke ich mal ein Auge zu." Dann starrte er wieder durch mich hindurch. Musste an der Farbe der Mütze liegen, die mich unscheinbar machte. "Falls Moritz tatsächlich der Bruder von Ratsmitglied Thulius ist, frage ich mich, warum er nicht damals schon aufgetaut wurde."

"Geschwisterliche Differenzen?" Sergej gluckste. "Ich hab mich auch nicht immer mit Dimitri vertragen. Einmal hat er mich auch auf dem Dachboden eingesperrt und ich musste an der Regenrinne hinunterklettern."

"Er hat dich aber nicht im Gefrierfach eingesperrt, oder?" Ich unterstützte Klara jetzt beim finstere Blicke werfen. "Können wir beim Thema bleiben?"

"Vielleicht war es aus irgendeinem Grund nicht möglich", sagte Moritz. "Wer weiß, was dieses Eis mit meinem Körper angestellt hat. Dank Daniels Saufkumpanen von den Meds wissen wir ja, dass Körper, wenn sie zu stark verfallen, zu sehr beschädigt oder die Zellen zu alt sind, nicht tiefgefroren und wiederhergestellt werden können."

"Und in der Hoffnung, dass es doch möglich ist, werden tausende Oberweltler in U4 aufbewahrt", fügte ich hinzu. "Das kann wirklich sein, dass es damals nicht möglich war, vor vier Jahren aber schon."

"Oder der Rat will einfach nicht, dass es eine plötzliche Überbevölkerung gibt, und hält es geheim, dass man jeden zurückholen kann", murmelte Numbaka, halb in Gedanken, vor sich hin.

"Ach, das ist doch alles Scheiße, warum sitzen wir eigentlich noch hier und reden?" Sergej schwang die Beine vom Tisch und klopfte sich mit seiner organischen Hand auf den Oberschenkel. "Warum gehen wir nicht einfach zu diesem Thulius hin und drohen ihm, dass ich seine Birne zerquetsche, wenn er uns nicht sagt, was wir wissen wollen?"

Ich wollte Sergej einen Kommentar an den Kopf werfen, dass er sich seine Schlägermanieren sparen solle, doch Numbaka kam mir zuvor.

"Das solltet ihr vielleicht wirklich tun", sagte er.

Ich drehte mich mit offenem Mund zu ihm um.

"Nun, bis auf den Teil mit dem Zerquetschen vielleicht. Wenn er wirklich Moritz großer Bruder ist, könnte das ein Mittel sein, um an ihn ranzukommen. Ganz ohne Gewalt. Für den Weg nach oben habt ihr ja jetzt eine Möglichkeit."

"Ja, die haben wir. Bin gerade fertig geworden." Moritz hielt zwei kleine schwarze Kästchen in die Höhe. "Da können wir die erbeuteten Chips einsetzen. Per Knopfdruck werden sie gegen einen Scan abgeschirmt. Leider hat Daniel nur männliche Chips mitgebracht, deswegen hab ich für dich noch keins gebaut, Klara."

Klara funkelte mich an und ich formte mit meinen Lippen tonlos das Wort "Sorry".

Moritz heftete sich eins der kleinen Kästchen an den Kragen seiner Werkstattmontur und warf das andere Sergej zu.

"Die hast du in den letzten Minuten aus Kaugummi und Büroklammern gebaut?", kommentierte Sergej, als er ihn lässig mit der Hand seiner Prothese aus der Luft pflückte. "Du bist schon ein kleiner Freak."

"Ich hab noch etwas Pappe und Klebeband verwendet. Danke, dass du meine Arbeit zu würdigen weißt. Der Kasten verschmilzt auf Knopfdruck mit der Kleidung. Bisher nur Synthetikkleidung, aber richtige Klamotten sind ja eh selten. Daniel hat seine Handschuhe, der braucht also keinen."

Ich hatte in meine Handschuhe einen Mechanismus eingebaut, der die Chips ausfahren, wechseln und wieder tarnen konnte. Nicht, dass ich wirklich eine Rechtfertigung brauchte, mein Spielzeug mitzunehmen.

"In dem Fall gehen wir zu dritt hoch? Was ist mit dem Typen von den Reformern, den sie vorbeischicken wollten?", fragte ich.

"Heute Abend gibt es eine einmalige Gelegenheit, Ratsmitglied Thulius zu treffen. Da könnt ihr es in Kauf nehmen, den Boten zu verpassen", sagte Numbaka. "Zumindest, wenn ihr auf eure Daten warten könnt. Aber ja, in dem Fall geht nur ihr drei hoch."

"Was ist denn heute Abend?", fragte ich nach.

"Es stehen Ratswahlen an und er hält zusammen mit allen anderen Kandidaten seine Rede auf dem Platz der Ratsherrschaft. Dem dürfen Oberweltler als Zuschauer beiwohnen. Es ist sicher nicht einfach, bis zu ihm zu kommen, aber einfacher als sonst, wenn er sich auf E0 befindet, umgeben vom gesamten Sicherheitskorps."

"Dank dieser Reformer befinden sich viele Siks am unteren Ende der Zitadelle, um sie zu jagen", fügte ich hinzu.

"Na, das passt ja alles gut zusammen. Fast zu gut", raunte Moritz mir im Verschwörertonfall zu.

"Es ist natürlich nicht ohne Risiko", stimmte Numbaka ihm zu. "Ich denke aber nicht, dass ihr so eine Chance noch einmal erhalten werdet." Er überlegt kurz. "Am besten holt ihr etwas Schlaf nach und macht euch dann für die Oberwelt zurecht. Ich gehe jetzt wieder schlafen", sagte er noch und schlurfte dann gähnend aus dem Raum.

"Für die Oberwelt zurechtmachen?" Wir waren doch noch nie dort gewesen, woher sollten wir wissen, was da angemessen war. Ich blickte zu Moritz, der mit den Schultern zuckte.

"Auf einem der Medienkanäle wird es sicher Aufnahmen der letzten Reden geben", hallte es aus dem Gang, bevor sich die Tür schloss.

Moritz stellte das Medienpanel wieder ein und nach ein paar Sekunden sahen wir die Rede der letzten Wahl, und was die Besucher dazu trugen.

"Nun, im schlimmsten Fall sind unsere Klamotten nicht mehr modern", sagte ich. "Dafür wird uns hoffentlich kein Sik verhaften."

Klara kicherte. "Soll ich euch was aus Numbakas Lager aussuchen. Das wird sicher lustig."

"Das ist eine tolle Idee."

Wenn ihr das über die Enttäuschung hinweg half, dass sie hier unten bleiben musste, warum nicht? Und darüber, dass Brownie immer noch nicht zurückgekehrt war.

Mit einer leichten Gänsehaut ging ich zurück zu meinem Zimmer. All unsere vorigen Missionen waren so gut vorbereitet gewesen und jetzt begaben wir uns das erste Mal in unbekannte Gewässer.

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