Mehr als nur extrem schüchter...

By Magical_Dancer

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~ Wattys 2021 Gewinner ~ Katharina kämpft seit Jahren gegen ihren ständigen Wegbegleiter: Den selektiven Muti... More

Vorwort
1.Kapitel
2.Kapitel
3.Kapitel
4.Kapitel
5.Kapitel
6.Kapitel
7.Kapitel
8.Kapitel
9.Kapitel
10.Kapitel
11.Kapitel
12.Kapitel
13.Kapitel
15.Kapitel
16.Kapitel
17.Kapitel
18.Kapitel
19.Kapitel
20.Kapitel
21.Kapitel
22.Kapitel
23.Kapitel
24.Kapitel
25.Kapitel
26.Kapitel
27.Kapitel
28.Kapitel
Danksagung
Band 2
Veröffentlichung Band 2
Triggerwarnung

14.Kapitel

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By Magical_Dancer

Draußen an der Bushaltestelle der Schule stand ich zusammen mit Malena und Cara frierend in der Ecke. Mittlerweile war es schon ziemlich kalt. Kein Wunder, immerhin war es schon Mitte Dezember und Weihnachten stand bald vor der Tür. Markus unterhielt sich mit Jamie und David und die restlichen meiner Klasse waren auch alle hier. Frau Fischer, unsere Klassenlehrerin, versuchte mit Herrn Fischer zusammen, die Klasse zur Ruhe bringen. Sie scheiterten. Die Lautstärke der Schüler übertönte deren Stimme fast komplett.

»Alle halten jetzt ihre Klappe!«, schrie schließlich Herr Fischer in den Tumult hinein und tatsächlich wurde es leiser, nur Leon, Luca, Oliver und Theo unterhielten sich noch lautstark, ohne auch nur Anstalten zu machen, damit aufzuhören. Ich verstand diese vier Jungs nicht. Warum führten sie sich so auf?

»Auch ihr da hinten seid jetzt leise«, befahl unser Geschichtslehrer den Jungs es und diese drehten sich genervt zu ihm um. Oliver verschränkte seine kräftigen Arme vor seinem Oberkörper und starrte unseren Lehrer missmutig an.

»Gut, also ich hoffe, jeder hat sein Zeug. Ihr dürft jetzt in den Bus einsteigen, wir werden erst dort zählen, ob ihr vollständig seid. Eure Parallelklasse ist schon drin und ihr -«, versuchte Frau Fischer nun zu erklären, doch die meisten fingen jetzt an zu murren und man verstand das Ende von dem Satz unserer Lehrerin nicht mehr. Auch ich war nicht besonders begeistert, das zu hören. Augenblicklich merkte ich, wie mir schlecht wurde. Wenn die andere Klasse schon da war, hieß es, ich musste schnell sein, um mir noch einen freien Platz ergattern zu können, auf dem die Fahrt zumindest aushaltbar war. Neben Malena konnte ich mich schließlich nicht setzen, da sie bestimmt Cara als Sitzpartner bevorzugte und Markus wollte wahrscheinlich lieber bei seinen Freunden als bei mir sein. Verständlich.

Die meisten hetzten schon zum Bus und obwohl ich es wirklich versucht hatte, kam ich erst als eine der letzten in den Bus. Ich lief immer weiter nach vorne, fand aber keinen freien Platz. Dann musste ich es wohl im hinteren Teil des Busses versuchen, wo auch Leon und seine Freunde Platz genommen hatten. Ich wollte dort nicht hin. Und was, wenn ich dort auch keinen Platz mehr fand? Ich kämpfte gegen die Tränen. Lächerlich. Warum musste ich auch immer wegen so unnötigen Dinge gleich anfangen wie ein Baby loszuheulen? Ich konnte nicht einmal etwas dagegen tun. So sehr ich mich auch anstrengte und sogar wusste, dass es keinen richtigen Grund für Tränen gab, ich hatte nicht die Kontrolle darüber.

Ich drehte um und lief in den hinteren Teil des Busses. Was dachten nur die anderen von mir, wenn ich jetzt schon wieder an ihnen vorbeilief? Bestimmt lachten sie mich in Gedanken aus, aber auch zu recht.

»Kathrinchen, komm hier her«, rief Markus mich zu ihm, als ich an ihm vorbeilief. Verwundert starrte ich ihn an, nickte dann aber, als mir einfiel, dass Jamie und David bestimmt nebeneinander saßen und tatsächlich, die beiden hatten ihren Platz genau vor Markus beansprucht. Ich lächelte und wollte mich zu ihm setzen, doch er schüttelte den Kopf. Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Warum durfte ich jetzt doch nicht zu ihm? Hatte ich etwas falsch gemacht? Hatte er es sich anders überlegt und wollte mich doch nicht neben ihn haben?

»Du setzt dich ans Fenster, ich will innen sitzen«, erklärte Markus sich und stand mit diesen Worten von seinem Platz auf und ging in den Gang, damit ich mich setzen konnte. Erleichtert atmete ich auf und beeilte mich, Platz zu nehmen. Meinen Rucksack setzte ich auf meinen Schoß ab. Markus ließ sich wieder auf den Platz neben mir fallen und küsste mich auf den Mund. Überrascht starrte ich in an, doch er hatte sich bereits wieder seinen Freunden zugewendet und fing an mit ihnen über irgendetwas zu diskutieren. Anscheinend ging es um Essen, denn sie redeten über Chips und Eis.

»Könnt ihr eigentlich eislaufen? Also ich kann das ja nicht«, fragte Jamie auf einmal in die Runde und drehte den Kopf so schnell zu Markus und mir, dass seine roten, etwas längeren, aber immer noch kurzen Haare durch die Luft flogen. Ich spannte mich automatisch an. Hatten sie nicht gerade noch von Schokoladeneis gesprochen?

»Keine Ahnung, das letzte Mal war ich vor ungefähr zehn Jahren eislaufen«, antwortete Markus gleich und sah überhaupt nicht überrascht wegen dem Themenwechsel aus. Auch David verneinte die Frage und schließlich waren drei Augenpaare erwartungsvoll auf mich gerichtet. Hitze stieg mir ins Gesicht. Normalerweise erwartete man von mir keine Antwort.

»Ich würde jetzt nicht behaupten, dass ich es besonders gut kann, aber ich bin zumindest nicht total schlecht darin«, sagte ich schließlich vorsichtig. Eigentlich wusste ich, dass ich es schon relativ gut konnte, aber irgendwie traute ich mich nicht, das zu sagen. Ich befürchtete, dass es für mich dann peinlich werden konnte, wenn ich mich dabei dann doch vor Nervosität schlecht anstellte und sie dann von mir dachten, dass ich gelogen hatte.

»Dann musst du uns wohl oder übel heute ein wenig helfen oder uns zumindest Tipps  geben«, meinte David und seine braunen Augen funkelten belustigt. Nervös sah ich zurück. Ich war mir nicht sicher, ob ich das hinbekommen würde.

»Okay«, sagte ich trotzdem und die Gesichter der drei Jungs hellten sich sofort auf. Darauf musste ich lächeln und ich brach den Blickkontakt ab.

»Super, wir nehmen dich auch nicht die ganze Zeit ein, nur ein bisschen, versprochen«, sagte Jamie sofort und die Jungs nickten. Ich wusste nicht, ob ich es gut finden sollte oder nicht, dass ich nicht die ganze Zeit bei ihnen sein würde. Wenn Malena mich nicht dazu aufforderte, mit ihr und Cara mitzukommen, würde ich mich kaum trauen, sie zu fragen und ich wollte sie auch nicht nerven. Alleine Schlittschuh zu fahren stellte ich mir ziemlich unangenehm vor und schon trat ein flaues Gefühl in meinen Bauch. Ich musste einfach darauf hoffen, dass Malena mich fragte.

Die Busfahrt verlief für mich ziemlich ruhig, hauptsächlich unterhielt sich Markus zusammen mit seinen Freunden und ich hörte ihnen entweder zu oder schaute aus dem Fenster. Manchmal wurde ich auch in die Unterhaltung mit eingebunden, aber nicht oft, worüber ich glücklich war, denn nur zuzuhören war entspannender für mich.

Vor ein paar Minuten hatte ich entdeckt, dass es WLAN im Bus gab. Nachdem ich meine Nachrichten durchgegangen war, ging ich auf Instagram. Ich folgte dort ein paar Leuten aus meiner Klasse, aber nicht allen. Luca wollte ich beispielsweise nicht folgen, das war aber wahrscheinlich auch nicht verwunderlich. Ich schaute durch die Storys, bis ich bei einer von Pauline stehen blieb. Sie gehörte zu den Mädchen, mit denen ich zwar noch nie Probleme hatte, aber auch nichts mit ihnen zu tun hatte. Sie hatte eine Story von Svea, in der sie unter anderem markiert wurde, repostet. In der Story kündigte Svea an, dass sie gleich live gehen würde. Das war vor zehn Minuten. Ich haderte mit mir. Auf der einen Seite interessierte es mich irgendwie, aber auf der anderen Seite würde sie sehen, dass ich zusah, und das wollte ich nicht. Ich ging auf Sveas Profil und sah bestimmt zwei Minuten auf den Bildschirm, bis dieser schwarz wurde. Schließlich holte ich zögernd meine Kopfhörer aus dem Rucksack und wandte mich zu Markus und seinen Freunden. Die drei waren in einem Gespräch vertieft und bemerkten meinen Blick nicht. Also stöpselte ich die Kopfhörer an mein Handy und steckte mir einen ins Ohr. Beide wollte ich nicht benutzen, da ich sonst gar nichts mehr von meiner Umgebung wahrgenommen hätte. Ich schaltete mein Handy wieder an und sofort sah ich Sveas Profil. Der Kreis um ihren Profilbild bewegte sich so wie immer, wenn jemand live war. Ich schaute unschlüssig darauf, bis ich schließlich all meinen Mut zusammen nahm und darauf drückte. Svea wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass das mein Account war, da ich mit Absicht keine Hinweise darauf hatte, die zu mir führen konnten. Man konnte es nur herausfinden, indem man schaute, wem ich alles folgte, aber dafür machte Svea sich bestimmt nicht die Mühe. Wahrscheinlich dachte sie, ich wäre einfach irgendjemand von ihren 347 Followern.

Nun konzentrierte ich mich aber auf das, was ich auf meinem Handy sah und durch die Kopfhörer hörte. Sehen tat ich nur zwei Paar dreckige Schuhe auf einem Rucksack und hören tat ich gar nichts. Schnell erhöhte ich die Lautstärke und hörte nun ein ziemliches durcheinander Quasseln vieler Stimmen. Das Bild wackelte und ich hörte Sveas Lachen deutlich heraus. Neugierig versuchte ich zu verstehen, um was es gerade ging, bis mein Herz stehen blieb.

»Das ist doch langweilig, wir müssen uns etwas besseres überlegen, wie wäre es mit einem Video?« Diese Stimme gehörte eindeutig zu Theo. Ich hatte sein typisch hämisches Grinsen in seinem schmalen Gesicht, das immer erschien, wenn er etwas ausheckte, deutlich vor Augen.

Wovon war gerade die Rede? Ich blendete die Stimmen in meinem Ohr aus und dachte nach, bis es mir eiskalt den Rücken herunterlief. Das konnte doch nicht sein. Panisch konzentrierte ich mich wieder auf die Stimmen. Diesmal sprach Svea, die gerade das Kamerabild so gedreht hatte, dass man die Gesichter sehen konnte, die alle über das Handy gebeugt waren.

»Dann müssen wir irgendwie die Anhängsel von ihr wegbekommen. Ich hoffe, ihr Anschmachter bleibt nicht die ganze Zeit über bei ihr und die beiden Mädels sollten auch endlich mal genug von ihr bekommen. Sie sollten sie wenigstens ausschließen, wenn sie schon nicht den Mut dazu haben, ihr zu sagen, wie dumm sie ist und dass niemand lange bei ihr bleiben wird, da sie einfach nur ein gestörtes Mädchen ist, das in die Psychatrie und nicht hier an unsere Schule gehört.«

Auf Sveas Aussage hin, nickten ein paar zustimmend, während andere ihre Aussage verbal bestätigten. Ich drehte mich mehr Richtung Fenster und versuchte meine aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Man musste kein Hellseher sein, um herauszufinden, über wen Svea gesprochen hatte. Man musste mich einfach nur kennen. Mehr war dazu nicht nötig.
Hoffentlich bemerkte Markus meine Tränen nicht, die nun schon vereinzelt meine Wange nass machten. Ich starrte auf das Handy, ohne es anzuschauen. Meine Mimik war wie versteinert. Das einzige, was sich bewegte, waren die Tränen und die Hand, die nicht das Handy hielt, sondern den Fingernagel in meinen Oberschenkel drückte. Ich hasste mich. Die Stimmen in meinem Ohr nahm ich gar nicht mehr richtig wahr. Ich hasste mich so sehr. Ich wusste, dass die meisten aus meiner Klasse und wahrscheinlich auch aus der Parallelklasse nichts Gutes über mich dachten, aber das so nochmal zu hören, war zu viel für mich. Svea wusste nicht, dass ich zuhörte. Diesmal hatte sie das nicht so deutlich ausgesprochen, weil sie mich runtermachen wollte, sondern weil sie wirklich genau jedes Wort so meinte, wie sie es gesagt hatte. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich wollte es nicht wahrhaben, dass die Leute so über mich dachten. Das tat weh. Aber sie hatte recht, niemand würde es lange mit mir aushalten, das musste ich endlich kapieren. Markus würde es bald zu blöd werden und Malena irgendwann auch. Nur Lienchen nicht, aber sie kannte mich auch nur durch das Internet, das zählte nicht. Da war ich anders.

Ich wischte mit meinem Handrücken über mein Gesicht und setzte ein Lächeln auf. Es war besser so, wenn jeder dachte, dass es mir gut ging. Das war einfacher als irgendetwas zu erklären. Ich hoffte, Malena schaute nicht bei dem Livestream zu.

Nach diesem Gedanken ging ich aus dem Livestream. Wäre ich zu Hause, hätte ich weiter zugehört, da es mich eigentlich schon interessierte, was sie hinter meinem Rücken zu mir zu sagen hatten, aber hier im Bus konnte ich mir das nicht länger anhören, wenn ich nicht verheult hier herumsitzen wollte. Ich stöpselte die Kopfhörer aus und legte sie zurück in meinem Rucksack. Auch mein Handy verräumte ich wieder dort, damit ich nicht doch in die Versuchung kam, nochmal kurz in den Livestream zu schauen.

Die restliche Fahrt über fühlte ich mich ziemlich unwohl und irgendwie beobachtet. Das Wissen, dass es sein konnte, dass immer noch über mich gesprochen wurde, machte mich innerlich fertig. Trotzdem schaffte ich es irgendwie mein Lächeln aufrecht zu erhalten und wenn ich was gefragt wurde, mit einer halbwegs fröhlichen und unbeschwerten Stimme zu antworten. Als wir endlich an unserem Ziel angekommen waren und ich aus dem Bus stieg, fühlte ich mich gleich besser. Es war so, als wäre der ganze Druck, der sich während der Busfahrt bei mir angestaut hatte, verflogen.

Die zwei Klassen wurden aufgeteilt. Frau Fischer kümmerte sich um uns und Herr Fischer um die andere. Wir wurden gezählt, bis diejenigen, die keine Schlittschuhe besaßen, sich welche ausleihen sollten und die anderen sich schon umziehen durften. Ich hatte meine eigenen dabei, Markus und seine Freunde nicht. Das war keine Überraschung. Malena musste sich auch welche ausleihen, wie ich aus den Augenwinkeln sehen konnte. Cara dagegen ging zusammen mit Grace und Amelia zu den Umkleiden. Schnell setzte ich mich auch in Bewegung, um nicht blöd rumzustehen und ging in dieselbe Richtung wie Cara und deren beiden Freundinnen. Meinen Rucksack wollte ich dabei aufsetzen, doch auf einmal hielt ich das schwere Gewicht nicht mehr in den Händen. Olivers Lachen dröhnte in meinen Ohren. Verdammt, er hielt meinen Rucksack fest! Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und er bewegte sich ein paar Schritte von mir weg. Schnell ging ich zu ihm und wollte nach meinem Rucksack greifen, doch Theo griff nach meinem Handgelenk. Er drückte fest mit seinen knochigen Fingern zu. Hilflos versuchte ich seine Hand abzuschütteln, worauf er den Griff nur noch verstärkte. Ein Schmerz fuhr mir durchs Handgelenk und ich verzerrte mein Gesicht. Ich war nicht in der Lage, laut aufzuschreien, auch wenn mein Körper so kurz davor war, dass ich es schon längst getan haben sollte. Ich blinzelte eine Träne weg und mein Blick huschte hektisch über den Platz. Sah das denn kein Lehrer? Hektisch suchte ich den Platz mit meinen Augen ab. Keiner war in Sicht, nur ein paar Schüler, die neugierig und lachend zu mir sahen. Einige tuschelten miteinander. Der Schmerz um mein Handgelenk wurde stärker und Theo zischte etwas, das ich nicht verstand. Sein warmer Atem traf auf mein Gesicht, was mich zum Frösteln brachte. Fast schon panisch sah ich in die andere Richtung, woraufhin mein Herz für einen kurzen Moment aufhörte zu schlagen. Svea stand mit ihren Freundinnen in der Ecke und richtete ihr Handy auf mich. Blitzartig kam mir Theos Vorschlag von einem Video wieder in den Sinn. Ich kämpfte mit den Tränen. War es überhaupt erlaubt, andere zu filmen, wegen des Datenschutzes und so? Was hatten sie mit dem Video vor? Vor Angst konnte ich mich nicht mehr bewegen und hoffte einfach nur, das hier würde ein Ende nehmen. Irgendwie. Langsam bewegte ich meinen Kopf von dem Handy weg und sah in Olivers Richtung, der sich an meinem Rucksack zu schaffen machte und meine Kopfhörer herauszog. Sofort landeten sie auf dem Boden und er stampfte darauf herum. Ich zuckte zusammen. Die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten. Ich hörte ein lautes Kichern aus Sveas Richtung. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Theo riss meinen Arm ruckartig zur Seite und wieder zurück. Ich keuchte. Grässliches Lachen ertönte. Ich löste meinen Blick von Oliver. Das war keine gute Idee. Das Publikum hatte sich vergrößert, aber war denn kein Lehrer da? Hilflos stand ich auf dem Platz, während Theo mir einen kräftigen Stoß in die Seite gab. Ich gab einen heiseren Laut von mir. Ich stolperte und wäre fast hingefallen, wenn Theo nicht immer noch mein Handgelenk umfasste. Immer mehr Tränen flossen mir die Wange herunter. Dass das alles auch noch aufgenommen wurde machte mich fast noch fertiger als die Sache selbst. Was wollte Svea damit? Schon als ich nur daran dachte, bekam ich Bauchschmerzen, die sich verstärkten als ich wieder zu Oliver sah. Er hatte mein Handy in der Hand. Ich konnte nicht glauben, was gerade passierte. Mein Magen verkrampfte sich und der Arm wurde steif. Woher kannte er überhaupt mein Passwort? Mir wurde schlecht. Oliver starrte mich einige Sekunden an. Ich sah nur auf mein Handy. Ein Funken Hoffnung kam in mir auf, als Oliver mein Handy in den Rucksack packte.

»Ich bin fertig, wir sollten aufhören, bevor uns noch ein Lehrer sieht. Der Bus hat die Sicht zwar gut verdeckt, aber das Video sollte jetzt eh schon im Kasten sein«, meinte Oliver triumphierend. Daraufhin ließ Theo mich los und Oliver schmiss den Rucksack von sich. Ich sackte in mich zusammen und landete hart auf dem kalten Boden. Die Menge löste sich auf und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Es dauerte einen Moment, bis ich meinen Rucksack zu mir zog und die Kopfhörer einsteckte. Sie waren kaputt. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn sie noch funktionierten. Trotzdem wollte ich sie hier nicht liegen lassen. Mit zitternden Händen nahm ich mein Handy heraus. Ich musste wissen, was Oliver damit angestellt hatte. Obwohl meine Sicht vor Tränen verschleiert war, konnte ich es gleich erkennen. Er hatte mein Handy auf irgendeine andere Sprache umgestellt, chinesisch, vermutete ich. Einige Sekunden konnte ich nur auf mein Handy starren, dann packte ich es aber wieder zurück in meinen Rucksack. Um die Sprache konnte ich mich später kümmern, irgendwie bekam ich das schon hin. Viel wichtiger war jetzt, mit dem Heulen aufzuhören. Die Tränen wollte ich mir mit dem Handrücken aus dem Gesicht wischen doch es kamen wieder neue nach. Ich konnte einfach nicht aufhören. Erst jetzt merkte ich, wie sehr mein Körper zitterte. Wie lange tat ich das schon? Ich wusste es nicht.

Der innerliche Schmerz zerriss mich fast. Ich hasste mich. Wieso konnte ich mich nur nicht wehren? Ich hasste mich, hasste mich, hasste mich.Ich zwickte mich in den Oberschenkel. Immer fester und fester verharrte ich in dieser Bewegung. Was würde mich heute noch erwarten? Würden sie mich wenigstens am Tag nach dieser Aktion in Ruhe lassen?

Ich ließ meinen immer noch mit Tränen verschleierten Blick über den Boden schweifen. Irgendein spitzer Stein musste hier doch liegen. Ich lächelte schwach, als ich einen passenden fand. Dann nahm ich ihn in meine Hand und umschloss ihn fest mit den Fingern. Ich öffnete meine Faust langsam und fuhr die scharfen Kanten nach. Das durfte passen. Die Kälte vom Boden kroch immer mehr zu mir hoch. Ich sollte aufstehen und endlich meine Schlittschuhe anziehen, um aufs Eis zu den anderen zu gehen. Aber ich wollte jetzt nicht, konnte jetzt nicht. Angst packte mich. Bestimmt hatten es die meisten schon mitbekommen. Was dachten sie jetzt nur über mich? Wieder fing ich an, unkontrolliert zu weinen. Ich schluchzte laut auf. Ich musste mich zusammenreißen.

Nachdenklich betrachtete ich den Stein in meiner Hand. Sie zitterte immer noch.

Mein Verstand sagte nein, aber mein Körper schrie schon fast danach. Langsam drehte ich den Stein in meiner Hand und fuhr mit den Fingern wieder über die Kanten. Mein Körper gewann. Mein Verstand verlor. Und ich tat es, benebelt von meinen eigenen Gedanken und Gefühlen, meiner Angst und der Sehnsucht danach. Erst vorsichtig drückte ich den Stein mit der Kante in meine Handfläche, dann erhöhte ich den Druck. Der aufkommende Schmerz tat gut, doch es war nicht genug. Langsam fuhr ich mit dem gleichen Druck den Stein Richtung Handgelenk. Dort blieb ich mit dem Stein stehen und drückte fester zu. Ich setzte den Stein wieder ab und fuhr dann mit nicht zu viel Kraft den Stein wieder über die Stelle. Der Schmerz tat gut. Er ließ mich das Geschehene verarbeiten und langsam verkraften. Mit dem Stein zog ich noch mal eine Linie und starrte dann die Stelle an. Zwei kaum zu erkennende rote Striche zierten mein Handgelenk. Ich bereute es nicht. Es war irgendwie befreiend. Der körperliche Schmerz, der nachließ, half mir, meinen seelischen zu übertönen.
Ich saß noch weitere Minuten auf dem kalten Boden, bis ich schließlich den Stein in meinen Rucksack packte. Geweint hatte ich nicht mehr, also hoffte ich, dass man mir meinen kleinen Zusammenbruch nicht ansah. Ächzend stand ich auf. Meine Füße waren eingeschlafen. Normalerweise mochte ich dieses Gefühl, aber jetzt war das wirklich nicht hilfreich. Ich hoffte, niemand würde bemerken, dass ich zu spät kam.

***

A/N: so, jetzt sind wir bei der Hälfte angelangt. Noch 14 weitere Kapitel warten auf euch und dann ist das Buch zu Ende.

Wie findet ihr es bis jetzt?

Und bei welchen Kapiteln würdet ihr euch eine Lesenacht wünschen? Als Vorschlag hätte ich entweder die letzten vier Kapitel (25-28) oder noch etwas in der Mitte (wahrscheinlich 23-26). Was wäre euch lieber? Oder wollt ihr ganz andere Kapitel als Lesenacht haben?

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