Kapitel 19.1 - Unter den Federn

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Unter den Federn

Kain wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seitdem der Tod seine giftigen Finger um ihn geschlungen hatte. Vielleicht waren es Tage gewesen, vielleicht auch nur Stunden, trotzdem schmerzte Candelas Verrat wie in der ersten Sekunde. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen und seine Handgelenke fühlten sich unfassbar schwer an. Sein Kopf dröhnte so stark, dass seine Sicht verschwamm und ein leises Keuchen seine Lippen verließ. Zu mehr war er nicht in der Lage.

Nur im Hintergrund vernahm er den modrigen Gestank der Zelle. Aus einem schmalen Fenster, das mit massiven Gittern versetzt war, drang eine Spur Sonnenlicht. Der Lichtkegel, der auf seine ausgestreckten Beine fiel, war nicht ansatzweise stark genug, um den Raum auszuleuchten. Nur schemenhaft erkannte man die stählerne Tür, die seinen Weg in die Freiheit versperrte.

Vorsichtig und mit müden Bewegungen hob Kain seinen Kopf. Kurz durchzog ihn ein stechender Schmerz. Aus Reflex schloss er die Augen und wartete, bis das Gefühl abklang. In Gedanken fokussierte er sich auf seine Atmung. Sein Puls normalisierte sich allmählich und auch das Dröhnen nahm ab. Zwar verschwand es nicht vollständig, doch es genügte, damit Kain einen zweiten Versuch wagte. Seine braunen Augen durchsuchten die Dunkelheit. Massive Mauern schlossen einen quadratischen Raum ein, der gerade einmal Platz für ein Strohbett und einige Ketten besaß. Vier große Schritte würden genügen, um ihn zu durchqueren.

Die Krähe zog die Augenbrauen zusammen und fuhr sich durch das Gesicht. Eine Mischung aus Erschöpfung und Selbsthass trieb ihn dazu an. Dabei bemerkte er erstmals die Ketten, die um seinen Handgelenken lagen. Deswegen hatten sie sich so schwer angefühlt. An einigen Stellen fraß sich bereits der Rost durch das Gebilde, trotzdem bezweifelte die Krähe, dass er die nötige Kraft besaß, um seinen Fesseln zu entkommen.

Mit der linken Hand griff er nach den Kettengliedern der Rechten. Zwischen seinen Fingern fühlte sich der Stahl kühl an und als Kain der Schnur folgte, erblickte er über sich die Einbettung, in der die Fesseln verankert waren. Bereits ohne es zu versuchen, verstand er, dass er sich in einer Sackgasse befand. Er war zwar nicht schwach, trotzdem war es ein Ding der Unmöglichkeit die Ketten mit alleiniger Muskelkraft zu durchbrechen. Nur eine wahre Bestie wäre dazu in der Lage.

Der Auftragsmörder schloss erneut die Augen. Die Dunkelheit war erträglicher, als in das Angesicht seines Versagens zu blicken. Er fühlte sich beschämt, bekümmert und verzweifelt. Kain besaß kaum die Kraft sich aufzurichten, gar eine gemütlichere Haltung einzunehmen. Er wollte sich nicht bewegen, er wollte nicht versuchen, auszubrechen. Selbst wenn er den Fängen der Fesseln irgendwie entkommen könnte, versperrte ihm eine Armee aus Engeln den Weg. Wie sollte er sich gegen göttliche Geschöpfe behaupten können? Er war nur ein Mensch. Was brachten ihm Ansehen und Unsterblichkeit, wenn die Schwäche in seinen Genen verankert war? Das war also das Ende. Vor einigen Wochen hatte er noch geglaubt, dass er, wenn überhaupt, seinen Tod bei einem Auftrag finden würde, doch dieses Privileg besaß er nun nicht mehr. Wie schön die Tage gewesen waren, in denen er seiner Leidenschaft nachgehen konnte. Nun war er ein Gefangener. Das war mehr als ein Versagen, das war Verrat. Verrat an sich selbst. Verrat an seinen Prinzipien. Verrat an dem Versprechen, das er sich einst selbst gegeben hatte.

Die Krähe hatte gewusst, dass er mit dem Feuer spielte, trotzdem hatte er sich an Candela verbrannt. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und war gnadenlos geschlagen worden. Was sollte er nun tun? Was musste er tun? Der Gedanke an die Urgöttin entfachte eine ungeheure Wut in ihm. Das Inferno loderte so wild, dass sein Körper automatisch reagierte. Seine angespannten Muskeln, der finstere Blick und die Hände, die er zu Fäusten geballt hatte. Sie zeigten ihm, dass sich seine finstere Seele nach Rache verzerrte, doch konnte er diesem Wunsch nachgehen? Candela hatte ihm mehr als nur einmal den Machtunterschied zwischen ihnen bewiesen. Egal, wie er es drehte und wendete, Vergeltung war ein Ziel, das er nicht erreichen konnte. Letztendlich war er eben nur ein Mensch und sie eine Urgöttin.

Die blutrote KräheWhere stories live. Discover now