»Puff«, sagt Lovis verstehend nickend.

     »Puff«, stimme ich ihm lächelnd zu.

     Wir verständigen uns lautlos. Laufen immer weiter am Wasser entlang, während der Himmel immer heller und der Mond immer durchsichtbarer wird. Lovis holt sein Handy raus und es dauert nicht lange, bis sanfte Musik aus dem Lautsprecher ertönt.

     Ich lausche Lovis' aktuellen Lieblingsliedern und meine Gedanken hängen ein Jahr zurück, denn es ist fast genau 365 Tage her, dass Mathea, Ajax, Lovis und ich unseren Roadtrip angetreten haben. Und irgendwie ist es seltsam, weil es mir so vorkommt, als wären wir erst gestern zurückgekehrt, dabei haben wir zwischendurch sogar unser Abitur gemacht und, zu Lovis' großer Verwunderung, auch alle ziemlich gut bestanden.

     Vielleicht war es die Reise, die dafür gesorgt hat, dass wir alle etwas entspannter an unser letztes Schuljahr rangegangen sind. Denn die Welt geht nicht unter, wenn man etwas nicht schafft. Dafür ist keiner von uns wichtig genug. Alles läuft weiter, abgesehen von uns, denn wir bleiben stehen und hoffen, dass auch der Rest innehält. Aber das tut er nicht.

     Und immer, wenn ich angehalten und verängstigt nach Rettung Ausschau gehalten haben, brauchte es nur ein paar Schritte zu meinem Nachttisch, um das Fotoalbum zu finden, das Ajax und Mathea sowohl für mich, als auch für Lovis zum Geburtstag angefertigt haben.

     Es braucht nur ein paar Minuten, in denen ich die verschiedenen Bilder und Matheas Texte betrachte, bis ich wieder verstehe, dass die Welt nicht auf mich warten wird und es auch keinen Grund für mich gibt, stehenbleiben zu müssen. Denn letztendlich geht es immer voran, egal, wie unwahrscheinlich es auch scheint. Und irgendwann wird man dort ankommen, wohin man wollte.

     »Ajax hat geschrieben, dass er und Mathea noch kurz vorbeikommen«, teilt mir Lovis plötzlich mit und träge hebe ich den Kopf, hänge mit den Gedanken immer noch an den warmen Erinnerungen unseres kleinen Abenteuers.

     »Hm?«

     Mein Bruder schnalzt gespielt missbilligend mit der Zunge. »Mathea und Ajax kommen vorbei.«

     Meine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. »Cool. Dann sollten wir uns beeilen.«

     »Sind doch eh nur noch fünf Minuten bis nach Hause«, entgegnet Lovis unmotiviert, während er seinen dünnen Mantel noch etwas enger um seinen Oberkörper schlingt.

     Wer hätte gedacht, dass es im Hochsommer gelegentlich noch so kühl werden kann. Schon der Tag war frisch, aber die Nacht könnte mit ihren niedrigen Temperaturen auch gut in den Herbst passen.

     »Wenn wir rennen, wird uns schneller warm«, werfe ich grinsend ein.

     »Dann ist mir lieber kalt.«

     Ich lache und hake mich bei ihm ein, bevor ich meine Schritte beschleunige. Lovis leistet kaum Widerstand, aber jammert leise, als wir zu rennen beginnen, obwohl von Rennen wohl nicht wirklich die Rede sein kann. Wir kommen nur langsam auf dem nassen Untergrund voran und lachen mehr, als dass wir uns auf eine höhere Geschwindigkeit konzentrieren.

     Sechs Minuten später berühren meine Füße kalten Asphalt, als wir die Straße betreten und die wenigen Schritte auf das Haus zulaufen, in welchem wir vor einem Jahr von zwei sehr erleichterten Eltern empfangen wurden.

     Entgegen Mums Vorsatz war die Sorge um unser Wohlergehen größer, als erwartet – trotz täglicher Nachrichten und dutzender Bilder. Und Dad war sowieso schon komplett am Ende mit den Nerven, als wir schließlich komplett übermüdet vor der Tür standen und er uns überschwänglich um den Hals gefallen ist, bevor wir uns knapp eine Stunde anhören durften, wie verantwortungslos unser Verhalten gewesen war.

     Die ersten Nächte hat Ajax bei uns geschlafen, bis irgendwann auch er nach Hause gegangen ist und es ist wahrscheinlich das erste Mal gewesen, dass ich ihn wirklich glücklich in dieser Umgebung gesehen habe.

     Entgegen aller Erwartungen hat unser kleiner Ausflug keine sehr großen Konsequenzen mit sich gezogen, abgesehen davon, dass wir alle vier dazu verdonnert worden, vier Monaten im nächstgelegenen Altersheim auszuhelfen. Die Idee kam von Matheas Eltern und ich weiß noch immer nicht genau, wie das im Zusammenhang mit unserer Aktion steht.

     Allerdings war es wohl mehr Segen, als Fluch, denn die Geschichten, die einige der älteren Bewohner zu bieten hatten, bringen uns heute noch so sehr zum Lachen, dass nicht selten Tränen vergossen werden und es sich jedes Mal so anfühlt, als hätten wir ein extremes Bauchmuskelworkout hinter uns.

     »Was genau wollen die zwei denn noch machen?«, will ich von Lovis wissen, dessen Blick wieder auf den grellen Display seines Handy gerichtet ist.

     »Keine Ahnung«, seufzt mein Bruder nachdenklich. »Er meinte nur, dass sie gleich da sind und wir draußen warten soll.«

     »Aber es ist kalt und ich bin müde«, jammere ich, obwohl Lovis nichts für die Situation kann, und lasse mich auf dem Bordstein vor unserer Gartentür nieder.

     Gelangweilt stütze ich die Arme auf die Knie und meinen Kopf auf meine Hände, während ich leise ein Lied vor mich hin summe, von welchem ich seit gestern Mittag einen Ohrwurm habe, obwohl ich nicht einmal weiß, wie der Text genau geht, geschweige denn, um welches Lied es sich handelt.

     Glücklicherweise dauert es nicht lange, bis Lovis mich auf ein näherkommendes Licht am Ende der Straße aufmerksam macht. Irritiert komme ich wieder auf die Beine und beobachte mit ihm, wie die Scheinwerfer eines Wagens unsere Körper in weißes Licht tauchen.

     Geblendet kneife ich die Augen zusammen, bis das Brummen eines Motors in der Stille der Nacht verstummt und die Lichter sich im Morgengrauen auflösen. Zunächst neugierig, dann verwundert, betrachte ich den Wagen ─ den blauen VW-Bus, der noch immer eine Wäsche gebrauchen könnte, weil er zu lange Wind und Wetter ausgesetzt war.

     Die Fahrertür öffnet sich und das grinsende Gesicht das Franzosen erscheint. Seine blonden Locken werden von den ersten hauchzarten Sonnenstrahlen des Tages berührt, als er uns munter zuwinkt und Mathea die Beifahrertür öffnet, um auf die Straße zu springen.

     Fassungslos betrachten Lovis und ich unsere beiden Freunde, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass nicht nur ich ihr breites Grinsen mindestens genau so dionysisch erwidere. Denn da ist wieder Euphorie, die mit vor Begeisterung leuchtenden Augen eine neue Leinwand auspackt und eifrig die Farbtuben aufschraubt. Da ist wieder die kindliche Begeisterung, von der es noch immer viel zu wenig gibt.

     »Na?«, ruft der Franzose, uns verschmitzt zuzwinkernd. »Lust auf einen kleinen Ausflug? Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es sogar, Zale pünktlich vom Bahnhof abzuholen.«

─ 𝐄𝐍𝐃𝐄 ─

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WAS UNS HIGH MACHT | ✓Where stories live. Discover now