Teil III

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Ungeduldig stapfte ich über Aluminium und Plastik, den Weg zum Bach abkürzend, meine Stiefel auf dem Schrott lauter als das Donnergrollen und schneller als der Maschinenpuls. Die Sonne war noch nicht untergegangen und tauchte die Halde in feurige Glut. Der Rauch war deutlicher wahrzunehmen als zuvor.

Unbeirrt aber schritt ich voran. Ich hielt mich im Verborgenen, in einem finsteren Winkel am südlichen Ende der Halde. Ich traute mich nicht, meine Suche wiederaufzunehmen, sondern harrte der Ankunft des Mädchens. Das Wrack eines Kleinwagens, dessen roter Lack beinahe vollständig abgeblättert war, lag an einem günstigen Platz, um die Halde zu überblicken. Die Tür auf der Beifahrerseite fehlte, und dort setzte ich mich auf das zerfurchte Leder.

Dann wartete ich. Dem Donnergrollen und dem Puls der Maschinen mischte sich mein eigener Herzschlag bei. Obwohl ich ruhig dasaß, fiel mir das Atmen schwer, so sehr hatten Aufregung und Bangen mich ergriffen. Würde sie wirklich zurückkehren? Abermals ärgerte ich mich darüber, nicht schon in der letzten Nacht den Mut gefunden zu haben, meine Anwesenheit, ja, meine bloße Existenz zu offenbaren und Kontakt aufzunehmen. Wenn sie in dieser Nacht erneut käme, wollte ich es tun, ohne eine Sekunde zu zögern, und so hielt ich mich bereit, aufzuspringen, und ich räusperte mich immerzu, dass nicht im entscheidenden Moment meine Stimme mir versagte.

Es mag eine Stunde gewesen sein, vielleicht zwei, als ich die Bewegungen eines Schattens wahrnahm und im nächsten Augenblick das Weiß des Kleides, ein Beige in der Abenddämmerung – nein, nicht einmal das, denn sogleich fiel mir auf, dass etwas daran verändert war. Als das Mädchen nämlich ein wenig näherkam, erkannte ich, dass der Stoff, wie auch die lederne Tasche, über und über mit dunklen Flecken bedeckt war, teilweise fast schwarz, und zunächst nahm ich an, dass es sich um das Öl einer Maschine handeln musste.

Dann aber begriff ich, dass es Blut war. Dass mir das Naheliegende erst mit solcher Verzögerung in den Sinn kam! Zu lange schon hatte ich nur Maschinen gesehen, dass ich blind geworden war für das Symbol des Lebens – das gerade mir hätte vertraut sein müssen.

Ja, Blut war es, da hatte ich nicht den geringsten Zweifel! Doch woher? Von ihr selbst konnte es nicht stammen, denn wer eine solche Menge Blut verloren hätte, wäre zu keiner Anstrengung mehr imstande gewesen; zumindest hätte man eine noch viel deutlichere Einschränkung der Beweglichkeit wahrgenommen, die jedoch, verglichen mit der gestrigen Nacht, nicht im Geringsten vermindert schien. War das Mädchen also in eine Auseinandersetzung verwickelt worden, hatte sie dem Leben eines wilden Tieres ein Ende setzen müssen? Oder – auch dieses Szenario musste in Betracht gezogen werden – dem Leben einer Person? Mein Herz sagte mir, dass dieses zierliche Geschöpft mit den großen Augen keine Mörderin sein konnte und auch in Notwehr nicht zu tödlicher Gewalt fähig wäre. Mein Verstand hingegen ermahnte mich zur Vorsicht, erinnerte mich daran, dass der Schein trügen konnte, dass man sich nach dem Eindruck eines Menschen keine Vorstellung seines Seelenlebens machen sollte. Ja, war nicht sogar wahrscheinlich, dass die Psyche eines jungen Mädchens ins Chaos gestürzt werden konnte, wenn eine Welt zugrundeging?

So beschloss ich also, meine hehren Vorsätze verwerfend, vorerst im Verborgenen zu bleiben. Was immer dem Mädchen widerfahren war, zu was es sich gezwungen gesehen oder welche grässliche Tat es aus eigener Initiative begangen hatte, ich musste es herausfinden, ehe ich ihr gegenübertreten durfte.

Halb in den Fußraum gekauert, beobachtete ich das Mädchen, das wie erwartet die Suche der letzten Nacht fortsetzte. Mit gesenktem Blick wandelte sie in ihrem System über die Schrotthalde. Ab und zu kniete sie sich hin, um, den Kopf geneigt, ein Maschinenteil zu inspizieren, eine Apparatur zu wenden, ein Blech anzuheben. Dann stand sie wieder auf, ohne dass ihr die geringste Reaktion anzusehen gewesen wäre, und setzte den Weg fort. Von links nach rechts ging es, von rechts nach links, eine Bahn nach der anderen, bis sie schließlich das gesamte Areal in Augenschein genommen hatte. Dann und wann hatte sie eines der begutachteten Teile in der Tasche verstaut, die sie sich nun, mittlerweile von einigem Gewicht, klackernd und klirrend am Riemen über die Schulter warf. Ein kleiner Benzinkanister war ihr offenbar nützlich erschienen, ein etwa faustgroßer Elektromotor, etwas, das wie ein löchriger Blasebalg ausgesehen hatte, ein Drainagerohr, zwei offensichtlich nicht mehr funktionstüchtige Kameras und diverse Speichermedien – zersplitterte Disks, Sticks, eine Festplatte.

Anschließend stand sie eine Sekunde still und schien zu lauschen, und ich fürchtete bereits, dass sie auf mich aufmerksam geworden sein könnte. Dann aber wandte sie sich um und trat, so vermutete ich, den Heimweg an.

Ich wand mich aus meinem Sitz ins Freie. Leise nun! Mit einigem Abstand und vorsichtigen Schritten folgte ich dem Mädchen über die Halde. Immer wieder hielt sie inne und suchte, geduckt hinter Containern und Fahrzeugen, unter Kränen und Pressen den Schutz der Schatten. Wie konnte sie barfuß so zügig über die Trümmer schreiten, die scharfkantig waren und voller Scherben, wo ich es zuweilen kaum bewerkstelligte, das Gleichgewicht zu halten? Die Geschicklichkeit, mit der das hinkende Mädchen seinen Weg fand, war mir völlig unerklärlich. Erst jenseits der Halde gelang es mir, sie wieder einzuholen.

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