"Was ist mit deiner Familie? Du redest nie von ihnen." Jedes Mal, wenn ich das Thema anspreche blockt sie ab oder versucht abzulenken. Aber jetzt hat sie mich zuerst nach meiner gefragt. Vielleicht ist sie nun bereit mit mir darüber zu reden.
"Es ist keine schöne Geschichte", antwortet sie und schaut nach unten auf ihre Hände. Ich spüre die Trauer und den Schmerz, der sie umgibt und es bricht mir fast das Herz. Wenn sie diesen Schmerz doch nur mit mir teilen würde. Es würde ihr danach besser gehen. Aber wie soll ich das erklären?
"Du kannst sie mir trotzdem erzählen und ich verspreche dir, dass was du mir hier oben im Wald erzählst auch hier bleiben kann. Aber nur wenn du darüber reden möchtest und wenn du jetzt nicht dazu bereit bist, dann habe ich ein offenes Ohr, wenn du bereit dafür bist", schlage ich ihr vor und versuche so weiter Vertrauen aufzubauen.
"Ich möchte daraus kein Geheimnis machen. Es ist nur ein heikles Thema. Mir fällt es schwer damit umzugehen", erklärt sie mir und es zerbricht mir wirklich das Herz, als ihre traurige Stimme meine empfindlichen Ohren erreicht. "Meine Mum kenne ich eigentlich gar nicht. Es gab schon Probleme in der Schwangerschaft und dann kam es zu Komplikationen während der Geburt. Sie ist gestorben als sie mich zum ersten Mal im Arm halten konnte."
Es ist Still im Wald. Nicht einmal der Wind wagt es ein Geräusch zu verursachen und Meilenweit scheint kein Tier seine Pfoten zu rühren.
Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie tief dieser Schmerz geht, denn ich kann ihn selbst spüren. Doch ich versuche nicht zu sehr das Gesicht zu verziehen. Diesen Schmerz habe ich die vergangenen Jahr also gespürt, aber da war er nie so intensiv wie jetzt.
"Dad und ich waren sechzehn Jahre allein. Wir waren ein Team, aber offensichtlich habe ich noch nicht genug gelitten. Das Wissen meine Mutter ermordet zu haben, hat noch nicht ausgereicht." Ihre Stimme zittert und sie hat den Blick auf ihre Finger gerichtet, die sie immer wieder miteinander kreuzt und dann wieder die Verbindung löst. Sie ist wütend. Ich kann auch dies Wut fühlen, aber da ist noch etwas anderes. Hass. Sie hat Hass auf sich selbst. Mein Wolf wird ungeduldig und ich werde es auch.
"Du weißt, dass das nicht stimmt", wende ich schnell ein, um sie von diesem Gedanken abzubringen. Sie kann absolut nichts dafür. Ich habe auch keine Antwort darauf, warum manche Menschen so sehr vom Schicksal bestraft werden, doch Schuld trifft sie auf keinen Fall.
"Ja und Nein. Es fühlt sich zumindest manchmal so an", antwortet sie und schaut mich mit solch einer Kälte in ihren Augen an, dass sich meine Brust zusammen zieht. Kein Funkeln mehr und auch keine Begeisterung mehr.
"Milena-"
"Nein, du wolltest die Geschichte hören, also lass sie mich erzählen", unterbricht sie mich und wendet ihren Blick von mir ab. Es stimmt, ich möchte ihre Geschichte kennen. Aber ich ertrage es nicht, dass sie leidet. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Wenn ich nur gewusst hätte, was bei ihr vor sich geht, dann hätte ich sie aktiv suchen können. Vielleicht hätte ich ihr dann noch mehr Schmerz und Leid nehmen können.
"Vor ungefähr zwei Jahren. Es war ein normaler Schultag. Dad und ich haben gemeinsam gefrühstückt. Er hat mir gesagt, dass er Kopfschmerzen hat und wollte sich eigentlich noch mal ins Bett legen, wenn ich die Wohnung verlasse. Vorher wollte er sich aber krank melden. Am Telefon hat er dann so komische Worte benutzt. Nichts, das Sinn ergeben hat. Ich hatte Angst und habe ihn gefragt, was los sei. Aber er konnte nicht antworten. Vor meinen Augen ist er dann zusammen gebrochen. Von da an weiß ich nicht mehr genau was passiert ist. Aber ich muss wohl einen Krankenwagen gerufen habe. Das erste woran ich mich wieder klar erinnern kann, sind die Menschen die ich abends kennengelernt habe. Meine erste Pflegefamilie. Eine von drei übrigens. Ich erzähle die Geschichte nicht gerne, weil ich kein Mitleid möchte. Ich will meine Vergangenheit nicht als ausrede benutzen, wenn in meinem Leben etwas nicht funktioniert", erzählt sie ohne eine Träne zu verlieren und es gibt keine Worte, die ihr jetzt helfen können. Ich kann nichts sagen, dass ihr diesen Schmerz nimmt. Aber ich kann ihre Hand nehmen und ihr zeigen, dass ich für sie da bin. Dieses unsichtbare Band zwischen uns, sorgt dafür, dass sie sich zumindest ein bisschen besser fühlt und ich bin froh, dass wir diese Verbindung teilen, denn zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich hilflos.
Milena scheint es nicht zu stören, dass ich ihre Hand halte. Sie ist noch ganz in Gedanken versunken. Also lasse ich ihr die Zeit, die sie braucht und male kleine Kreise auf ihre Haut und ein warmes Kribbeln durchzieht meinen Körper.

MoonkissWhere stories live. Discover now