2 - Notlager

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Er stellte sich vor Max und mich, legte mir den Kompass in die Hand und zog ein langes Messer aus der Halterung an seinem Gürtel. »Ihr beiden bleibt hier, während ich herausfinde, wer sie sind. Wenn ihr mich rufen hört, rennt ihr dort lang, verstanden?« Er zeigte in die Richtung, die wir angestrebt haben, bevor wir von den Geräuschen abgelenkt wurden. Wahrscheinlich lag nicht weit von hier das Notlager.

»Verstanden«, antwortete ich und er setzte sich in Bewegung. Nach ein paar Schritten war er zwischen den Bäumen verschwunden und mein Bruder und ich blieben allein zurück.

Max umklammerte meine Hand, jederzeit bereit mit mir loszurennen, auch wenn er wusste, dass er nicht so gut Schritt halten konnte. Er sah sich immer wieder ängstlich um, doch ich starrte weiter geradeaus, wo unser Vater hingegangen war. Ich konnte keine Gespräche, Schritte oder Geraschel mehr hören, es war aber auch nicht totenstill. In einem der Bäume war ein Vogelnest, aus dem man Küken leise nach Futter rufen hören konnte, ein Eichhörnchen lief an uns vorbei, was Max' Aufmerksamkeit kurz auf sich zog, und irgendwo fiepste eine Maus.

Die Zeit verging ohne ein Zeichen. Hatte unser Vater sie weggelockt? Waren sie gefährlich? Oder angesteckt mit was auch immer die Testperson in sich trug? Wieso hatte er noch nicht gerufen? Was sollten wir machen? Hier bleiben? Rennen? Für was sollte ich mich entscheiden? Mein Herz klopfte gegen meine Rippen. Es konnte unser Leben bedeuten, ob wir warteten oder gingen. Ich musste für uns handeln. Mein Blick wanderte in die Richtung, in die unser Vater gezeigt hatte. Wie weit war das Lager entfernt? War es noch sicher? Waren überhaupt Leute vor Ort? Aber es war unser einziger Anhaltspunkt, wir mussten dorthin für unsere eigene Sicherheit. Ich würde Max nicht hier draußen sterben lassen.

Gerade als ich ihm meine Entscheidung mitteilen wollte, hörte ich Schritte. Schwere und laute, was mir verriet, dass ich sie hören sollte, denn unser Vater hatte beim Militär gelernt leichtfüßig zu gehen. Es folgte ein Pfeifton, der tief begann und hoch endete. Das hatte er uns ebenfalls beigebracht: ein Entwarnungszeichen. Somit wusste ich, dass alles in Ordnung war, was mich erleichtert ausatmen ließ.

Er war nicht allein, als er zwischen den Bäumen hervorkam. Neben ihm lief ein mittelgroßer, dunkelblonder Mann, der ein Holzfällerhemd mit einer dunkelblauen Weste darüber, eine helle Jeans und schwarze Stiefel trug. Die Falten in seinem Gesicht deuteten darauf hin, dass er mindestens schon in seinen Vierzigern war. Sein Kinn war glattrasiert und ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Sie blieben vor uns stehen.

»Das ist Alex«, stellte Papà ihn vor. »Er leitet das Notlager, zu dem wir unterwegs sind.«

»Wir haben es also gefunden?«, sagte Max mit einem hoffnungsvollen Glanz in den Augen.

Alex sah ihn warm an. »Allerdings, kleiner Mann. Du brauchst keine Angst mehr zu haben, ihr seid jetzt in Sicherheit.«

»Fürs Erste«, sagte ich, immerhin waren wir noch mitten in der Gefahrenzone.

Er schaute mir ins Gesicht, wodurch ich erkennen konnte, dass seine Augen genauso blau wie meine waren. »Bis das Militär uns abholen kommt, ja. Das erkläre ich euch aber alles im Lager in der großen Runde, wenn es euch recht ist. Wir sollten uns nicht lange im Wald aufhalten.«

Alex schritt voran, wir drei hinterher. So konnte ich erkennen, dass er eine Pistole in der hinteren Hosentasche stecken hatte. Ich trat näher an meinen Vater heran, Max' Hand weiterhin in meiner. »Wo ist der andere? Da waren zwei Stimmen vorhin«, flüsterte ich ihm zu.

»Er ist weiter in den Wald hineingelaufen, um nach anderen Überlebenden zu suchen. Das ist der Grund, weshalb die beiden überhaupt hier draußen sind.« Ich nickte und folgte Alex stumm weiter.

Nach ein paar Minuten des Marsches, kamen einige Blockhütten in Sicht. Sie standen im gleichen Abstand nebeneinander, verliefen weit nach rechts und waren durch Gestrüpp vom Rest des Waldes abgegrenzt. Alex bog ein wenig nach links und führte uns zu einem breiten Schotterweg, der den Eingang des Lagers bildete. Wir liefen auf den Platz, der sich durch die Aufreihung der Hütten zwischen ihnen gebildet hat, wo sich einige Menschen befanden und miteinander sprachen. Manche von ihnen schauten auf, als sie uns bemerkten, beachteten uns aber nach einem kurzen Blick nicht weiter. Wahrscheinlich hofften sie auf vertraute Gesichter, was ich nur zu gut verstand. Ich erkannte niemanden hier.

Hinter der Mauer Part IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt