18 | Nachtwanderungen

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     Er verstummt und ich spüre, dass es ihm schwerfällt, zu dieser Erkenntnis zu kommen. Sie ist wie ein Neonschild, welches genau vor seiner Nase steht: es blendet ihn und brennt in seinen Augen, aber er kann es nicht ignorieren.

    »Wie oft?«, fragt er im Flüsterton und schluckt hörbar. »Wie oft ist das schon passiert?«

     Seufzend zucke ich mit den Schultern und ziehe die Beine an, bis ich meine Arme um sie legen kann. »Oft, schätze ich. Keine Ahnung. Vielleicht nicht so oft, wie bei anderen, aber oft.«

      Wieder schweigen wir. Ich höre ihn französische Sätze vor sich hinmurmeln, die ich nicht verstehen kann, selbst wenn er lauter sprechen würde. Aber ich höre seine Verzweiflung und seine Wut, die kalt in seinen Worten mitschwingt.

      Die Nacht ist plötzlich nicht mehr warm.

     »Es tut mir leid«, flüstert Ajax dann bekümmert. »Ich hatte keine Ahnung.«

     »Du bist nicht schuld«, erwidere ich schulterzuckend. »Ich hab' dir ja auch nie davon erzählt.«

     »Darum geht es nicht. Nicht nur. Es geht darum, dass er dich angefasst hat, obwohl du es nicht wolltest. Dass schon viele vor ihm das getan haben. Dass es scheinbar normal geworden ist, Menschen gegen ihren Willen nahezukommen. Dass es für dich normal geworden ist.«

     Ich seufze, aber erwidere nichts.

     »Wieso nicht?«, fragt Ajax dann und verwundert hebe ich eine Augenbraue, während mein Blick den grauen Boden mustert.

     »Was?«

     »Wieso hast du nie was gesagt?«

     Ich zögere kurz, bevor ich antworte: »Keine Ahnung. Ich dachte, es wäre normal. Und als ich verstanden habe, dass es nicht normal ist, hatte ich keine Lust mehr, darüber zu reden.«

     Wieder dieses betäubende Schweigen, das sich über uns legt. Ich weiß, dass Ajax nachdenkt. Über all die Nächte, die wir in irgendwelchen Clubs verbracht haben. Über all die Stunden, in denen er mich nicht im Auge hatte; nicht wusste, was passiert ist.

     »Ich schätze, ich kann mich glücklich schätzen, dass es nie wirklich schlimm geworden ist«, fahre ich mit leiser Stimme fort. »Mathea und ich hatten immer Glück.«

     »Und sogar dieses Glück ist beschissen«, lacht Ajax freudlos. »Quel monde de merde.«

     Ein sanftes Lächeln umspielt meine Lippen. »Merde heißt Scheiße, richtig?«

     »Exactement.«

     Grinsend drehe ich mich zu ihm, boxe gegen seinen Arm und er lacht. »Nur, weil ich ein Wort erkannt habe, heißt das nicht, dass du mich weiter im Dunkeln tappen lassen musst.«

     »Eines Tages bringe ich dir Französisch bei«, erwidert Ajax daraufhin schmunzelnd, während er die Unterarme auf dem Gehweg abstützt und von der Seite zu mir hinaufblickt.

     »Das sagst du seit geschlagenen sechs Jahren«, erinnere ich ihn amüsiert und ziehe eine Augenbraue nach oben. »Außerdem wird das nichts. Ich bin miserabel in Sprachen, schon vergessen?«

     »Ach was«, antwortet der Franzose. »Du hattest nur nie den richtigen Lehrer. Die Sprache der Liebe wirst du mit meiner Hilfe im Nu erlernen, vertrau mir.«

      »Französisch und ich führen eine Hass-Liebe-Beziehung.«

      Belustigt kneift der Blonde die Augen zusammen. »Zum Glück hast du jetzt mich, als Therapeuten.«

WAS UNS HIGH MACHT | ✓Where stories live. Discover now