Prolog

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„Anruf bei der Selbstmord-Hotline. Bevor Sie etwas sagen, folgen Sie bitte meiner Anweisung und schauen Sie zuerst nach oben."

Stille.

Diese Stille folgte immer nach diesem Satz. Deshalb war Fiona auch nicht beunruhigt – sie wusste, dass die Anrufer in diesem Moment nicht auflegen würden.

Jeden Tag derselbe Satz, immer und immer wieder.
Es fühlte sich fast an wie in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Manche Anrufer fragten tatsächlich: Was soll ich da oben sehen?

Den Himmel? Gott?
Die Farbe ihrer Zimmerdecke? Pistaziengrün oder Babyblau?
Oder ob alle Glühbirnen in der Deckenlampe noch funktionierten?

Nein, das interessierte Fiona wenig. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie Zimmerdeckenfarben faszinierend fand – besonders Pistaziengrün, ihre Lieblingsfarbe. Aber in diesen entscheidenden Sekunden war das unwichtig. Viel wichtiger war es, die Anrufer für einen Moment von ihren Suizidgedanken abzulenken.

Fiona hatte schon vielen Menschen helfen können – sie vom Suizid abgehalten. Viele meldeten sich Wochen später wieder, um sich zu bedanken: für ihre Aufmerksamkeit, die Fürsorglichkeit, die kleinen Momente der Zuwendung – Dinge, die ihnen Familie und Freunde nie gegeben hatten.

So war es auch bei Tessa Hamshield, die vor sieben Tagen anrief. Fiona erinnerte sich noch genau an ihre ersten Worte.

„Ich schaue auf den Buchstaben F", flüsterte Tessa kaum hörbar in den Hörer.

Was sollte das bedeuten? Fiona war doch keine Rätsel-Hotline. Für einen kurzen Moment dachte sie an diese Saw-Filme, die Kai sich immer so gern ansah. Psychospielchen und Buchstabenrätsel – typisch.

Unter dem Buchstaben „F" fielen ihr sofort Begriffe ein: Fiona. Fett. Freunde. Hoffentlich meinte sie nicht Fett.
Also fragte sie vorsichtig: „Freunde?"
„Nein."
Wieder Stille. Dann hörte sie nur Tessa leise atmen.
„Ich muss auflegen", flüsterte sie. „Er kommt."

„Wer?", rief Fiona in den Hörer – aber da war die Leitung schon tot.

Fiona wollte zurückrufen, doch die Nummer war unterdrückt. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie musste die Polizei verständigen. Vielleicht war diese junge Frau in ernster Gefahr – gefangen? Missbraucht?

Sie wusste genau, an wen sie sich wenden musste: Kai Petersen.
Ihr bester Freund, Seelenpartner und Verlobter. Der Mann mit dem Saw-Film-Faible.

Hastig wählte sie die Nummer seines Reviers.

„Polizeirevier Hamburg, Petersen, hallo?"

„Hi Kai, ich bin's, Fiona."

„Hey Schatz, was gibt's?"

„Es geht um eine junge Frau. Tessa Hamshield. Sie hat gerade bei mir in der Hotline angerufen. Bevor ich richtig mit ihr sprechen konnte, war die Verbindung tot. Die Nummer war unterdrückt – ich konnte sie nicht zurückrufen. Sie klang... nicht so, als würde sie in einer heilen Welt leben. Bitte hilf mir. Vielleicht kannst du die Nummer zurückverfolgen."

Stille.
Typisch Mann. Kai war eben keiner vieler Worte.

„Gib mir zehn Minuten."
„Okay."

Fiona schickte ihm per Fernsystem die nötigen Daten. Jetzt hieß es: abwarten.

Doch Zeit dafür hatte sie nicht, denn der nächste Anruf kam bereits rein.

„Anruf bei der Selbstmord-Hotline. Bevor Sie etwas sagen, folgen Sie bitte meiner Anweisung und schauen Sie zuerst nach oben", sprach sie in gewohnter Routine.

„Ich hab was vergessen", sagte Kai plötzlich.

„Du schuldest mir eine Runde Saw 8. Samstag, 20 Uhr, bei mir."

Bevor Fiona etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt.

Er hatte sie gerade ernsthaft auf der Notfallnummer angerufen. Für einen Filmabend.

Wütend knallte sie das Headset auf den Tisch. Der hatte sie doch nicht mehr alle. So war er eben – mit all seinen guten und... seltsamen Seiten.

Erst kürzlich hatte er gesagt: „Verdreh deine Augen nicht immer so, sonst bleiben sie irgendwann stecken. Dann siehst du aus wie beim Exorzisten."

Ja, ist klar, Kai, dachte sie.

Von draußen hörte sie eine Trompete – schief, schrill, furchtbar. Sie wartete ungeduldig auf den nächsten Anruf, der sie vom Trompetenspiel ablenken würde. Ein Radio war laut Vorschrift verboten. Sonst hätte sie irgendeinen Sender aufgedreht – selbst Justin Bieber – Sorry wäre ihr lieber als dieser Trompeten-Lärm.

Da klingelte erneut das Telefon.
Hastig setzte sie ihr Headset auf und nahm den Anruf entgegen.

Für einen Moment vergaß sie ihren Standardsatz.

Dann hörte sie eine Stimme.
Bekannt.
Tessa.

„F bedeutet Freiheit. Und ich werde jetzt frei sein."

Fiona hörte ein Schluchzen.

Und dann – ein Geräusch, das sie nie vergessen würde.
Das grausame Knacken brechender Knochen.
War das... war das Tessas Schädel, der auf dem Asphalt zerschellte?

Das Geräusch hallte in Fionas Kopf wider, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Die Leitung war tot.

Stille.
Unbehaglich. Schwer.

Das Brummen des Kaffeeautomaten und das Klappern der Jalousien wirkten jetzt wie dröhnende Erinnerungen an eine Realität, in der sie versagt hatte.

Sie war allein. Nachtschicht. Niemand hatte Lust auf diese Stunden. Aber Fiona brauchte das Geld – als Studentin hatte sie keine Wahl.

Noch nie hatte sie so gezittert. Ihre Finger waren kreidebleich.
Sie umklammerte ihre Hände, um das Zittern zu stoppen – vergeblich.

Tränen sammelten sich in ihren Augen.
Tessa Hamshield war die Erste, der Fiona nicht helfen konnte.
Und das nagte an ihr.
Tief.
Schmerzhaft.
Wie ein Scheitern, das ihr Herz durchbohrte.

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