Er hat bereits eine Jagdanzug an und setzt sich zielgerichtet auf seinen Platz neben Heather. Kaum eine Sekunde später betritt auch sein Vater das Zimmer.

Sobald alle versammelt sind, dürfen auch wir mit dem Essen beginnen. Es sind die besten Pancakes, die ich je gegessen habe. Während ich mir einen süßen Pfannkuchen nach dem anderen in den Magen schlage, erzählt Benjamin: „Laura, Heather, die Veranstalter eurer Tour haben beschlossen, dass ich eurer gesamte Gruppe das Bogenschießen beibringe.“ Als er unsere entsetzten Blicke sieht, fährt er fort er: „Sie sagten, dass ihr nur auf Übungspuppen mit Pfeil und Bogen schießen werdet. Euch kann also rein gar nichts passieren! Wir haben hier im Ort eine Halle, in der man von bis zu 30 Metern Entfernung auf lebensgroße Puppen schießen kann.“ Seine Augen leuchten auf, während er davon erzählt. Wahrscheinlich ist das sein Hobby oder so. „Wer will kann danach auch noch mit Übungsleitern in den echten Wald gehen und dort schießen.“

„Wozu sollen wir das machen?“, stöhnt Heather lustlos.

„Ich schätze mal, um die Zuschauer im Fernsehen zu unterhalten“, meint er, zuckt die Schultern und schiebt sich einen Löffel voll Ei in den Mund.

Nach dem Frühstück schickt Benjamin uns in unsere Zimmer, um passende Kleidung anzuziehen, die er uns ausleiht. Darin sehe ich aus wie ein Soldat. Ich und Heather beeilen uns, zu unserer Limousine im Hof zu gelangen. Ich würde alles lieber machen, als jetzt in die Kälte hinaus zu gehen und auf Übungspuppen zu schießen.

Benjamin führt uns also auf den wunderschönen Hof, der das Haus umgibt. Er öffnet die Türe der schwarzen Limousine, die extra ein Chauffeur für uns fährt und wir steigen lustlos ein. Ich stelle mich darauf ein, dass die Fahrt in diesem luxuriösen Auto wohl das spannendste am ganzen Tag sein wird.

Auf der Fahrt erzählt Benjamin uns die ganze Zeit von irgendwelchen Jagderlebnissen. Am Anfang höre ich tatsächlich noch zu, doch irgendwann schweife ich mit den Gedanken ab und nicke nur noch ab und zu. Nur bei Heather erstaunt es mich ein wenig, dass sie so lange zuhört. Sie ist wie gefesselt von Benjamins Erzählungen.

Ich muss immer wieder an die Worte meines Vaters denken. Der Chef hat Böses vor. Was verdammt nochmal meinte er damit? Was soll der Chef schon machen können? Klar, er kann uns Regieanweisungen geben für das Videotagebuch und Workshops wie heute für uns veranstalten. Kann man damit „Böses“ anstellen?

Nachdem wir bei der Sporthalle angekommen sind, erklären uns zwei andere Übungsleiter und Benjamin, wie wir den Bogen halten müssen und was wir beachten müssen, wenn wir den Pfeil spannen und dann auf die Zielscheibe feuern. Ich höre gar nicht mehr richtig hin. Ich kann mich heute einfach nicht richtig konzentrieren. Vor allem nicht, wenn Daniel, der mir leider direkt gegenüber steht und mir ständig böse Blicke zuwirft. Ist es immer noch wegen der Sache mit dem Platten?

Ich muss wieder an das denken, was Jayden mir demletzt im Flugzeug erzählt hat. Über Daniel. Von wegen er hätte gewusst, dass das Flugzeug abstürzen wird und ist deshalb im Cockpit gesessen. Oder dass er den Suchtrupp manipuliert hat, damit ich, Jayden und Logan später gerettet werden. Ich weiß noch nicht so ganz, was ich davon halten soll. Wie soll er das überhaupt geschafft haben? Er hatte keinerlei Druckmittel wie Geld oder andere Dinge, um den Suchtrupp zu bestechen. Und wozu überhaupt? Um sich bei uns zu rächen? Wer denkt sich denn eine solch schwere Rache aus?

Die Leiter teilen uns in verschieden Gruppen auf. „Laura, Avery, ihr geht zu James!“ Benjamin zeigt auf einen kräftigen Mann mit Rastalocken und dunkler Haut. „Avery, ich weiß, dass du mit deinem Arm nicht schießen kannst, aber ich bitte dich, einfach zuzusehen.“ Erst jetzt fällt mein Blick auf ihren eingegipsten Arm. Er liegt von der Schulter bis zum Handgelenk in Gips. Ich bin froh, dass ich mit Avery allein in einer Gruppe bin. Doch wie so oft sollte man sich nicht zu früh freuen, denn Benjamin fügt noch hinzu: „Ach ja – und Daniel geh du doch bitte noch dazu!“

Er lächelt mich böse an und formt seine Augen zu Schlitzen. Wieso gerade er?

„Hast du dich schön erholt von deinen Verletzungen?“, fragt er widerlich grinsend. „Ooohh! Wie es aussieht hast du dir den Unterarm gebrochen! Tut es arg weh? Du siehst bestimmt, dass es mir gut geht? Ich war eben schlau genug, um beim Absturz richtig auf dem Boden zu landen!“ Will er mich jetzt auch noch provozieren? Meine Mutter hat mir früher immer gesagt: „Wenn dich jemand ärgert, dann ignoriere ihn einfach. Du wirst sehen, irgendwann verliert er die Geduld und Lust daran, dich zu ärgern.“

Ich tue einfach so, als hätte ich ihn nicht gehört und würde den anderen gespannt zusehen, wie sie ihre Bögen zugeteilt bekommen. Doch Daniel spricht weiter. „Wie lange lagst du noch da draußen? Ein Tag? Zwei?“ James drückt mir ebenfalls einen aus Holz geschnitzten Bogen in die Hand. Ich tue so, als wäre ich sehr interessiert daran und zupfe spielerisch an der Sehne.

James führt uns zu einem Schießstand mit etwa zehn Meter Abstand zur Zielscheibe. Es ist eine große Halle, in der drei Schießbahnen neben einander aufgebaut sind. Meine Gruppe bekommt den ersten Stand zugeteilt.

Mir fällt ein, dass Benjamin Avery gesagt hat, sie dürfe nicht schießen. Und ich? Mein Unterarm hat sich ebenfalls noch nicht erholt. „James?“, frage ich.

„Ja?“ Er hat einen starken französischen Akzent.

„Mein Unterarm ist gebrochen. Ist es möglich damit zu schießen?“

„Das kann ich nicht beurteilen. Du kannst es versuchen.“

Es sollte eigentlich ganz leicht zu treffen sein. James macht es uns vor und trifft genau ins Schwarze. Sieht nicht sehr schwer aus. Ich stehe als erste in unserer Reihe, also lege ich den Pfeil in die Sehne des Bogens. Ich ziele etwas unterhalb der Scheibe, wie James es uns gesagt hat, und gerade als ich es loslassen möchte, beugt sich Daniel zu mir hinüber uns flüstert mir ins Ohr: „Hat Jayden dir von unserem Streit erzählt?“ Er macht kurz eine Pause und meine Hand zittert vom langen Halten des Pfeiles. Dass der Arm, mit dem ich den Pfeil halte noch verletzt ist, macht es nicht gerade besser. „Oh dann hat er dir bestimmt auch erzählt, dass ich verhindern wollte, dass das Flugzeug abstürzt.“

Ich glaube ihm nicht. Jayden hat nie so was erwähnt. Nicht, dass er den Absturz hätte verhindern wollen. „Das hast du nicht!“, knurre ich mit zusammengebissenen Zähnen und lasse unachtsam den Pfeil los. Er fliegt, und fliegt. Aber nicht auf die Zielscheibe zu. Logan steht neben der Zielscheibe, an der er gerade übt, um einen Pfeil vom Boden aufzuheben. Mein Pfeil fliegt direkt auf ihn zu. „Logan!“, schreie ich, damit er schnell zur Seite springen kann. Er hört mich nicht und bückt sich nach dem Pfeil greifend zu Boden. „Logan!“, schreie ich nochmal. Diesmal lauter. Aber er kann mich nicht hören. Mit seiner linken Hand stützt er sich an der Wand ab, während er mit der anderen nach dem Pfeil greift. Der Pfeil saust direkt auf seine linke Hand zu. Wenn er sich selbst nicht bewegen will, bringe ich ihn eben dazu. Ich schleudere den Bogen in Daniels Arme und klettere über die Absperrung. Doch es ist schon zu spät. Der Pfeil ist kurz davor, einzuschlagen. Noch einmal rufe ich seinen Namen. Doch als er auch das nicht hört, kneife ich die Augen fest zusammen. Ich möchte das Blut nicht sehen, das gleich aus Logans Hand quillen wird. Es scheint, als würde der ganze Raum den Atem anhalten.

Und dann höre ich das Geräusch, mit dem der Pfeil aufschlägt.

WoodkissWhere stories live. Discover now