Ich esse einfach mein Sushi weiter, das uns in extra kleinen Portionen serviert wird, als wären wir in einem 5-Sterne-Restaurant. Eigentlich hasse ich Sushi, aber das hier ist das erste, das mir wirklich einigermaßen schmeckt.

„Den Fisch haben wir selbst gefangen, in dem See“, erklärt und Helene. „Wir haben ein eigenes kleines Fischerboot. Wenn ihr wollt, nehmen wir euch einmal auf eine Spitztour mit.“

Ich möchte gerade antworten, aber plötzlich schlägt jemand schnell und laut die Türe auf, sodass Heather so arg zusammenzuckt, dass die Gabel, mit der sie gerade ihren Salat essen wollte, hochfliegt und über ihren Kopf Räder schlägt bis sie am Ende in den Boden einschlägt.

„Das tut mir Leid!“, ruft Heather schnell und macht sich daran, aufzustehen und die Gabel wieder aufzuheben. Sie steckt mit den Spitzen in dem zentimeterdicken Teppich und zittert stark.

„Das geht schon!“, sagt plötzlich eine unbekannte Stimme und lässt sie nach oben sehen. Vor ihr steht ein Junge, der etwa 19 Jahre alt sein müsste und einen ganzen Kopf größer ist als sie. „Ich mach das für dich!“ Er lächelt sie an und Heather kann nichts weiter tun, als wieder auf den Stuhl zurück zu sinken.

Er reißt die Gabel aus dem Teppich und legt sie auf das Tablett, das der Butler ihm hinhält. Die beiden tauschen ein paar Worte aus, die so leise sind, dass ich es nicht hören kann. Nachdem er sich von dem Butler abgewendet hat, hält er Heather freundlich die Hand hin: „Ich bin Benjamin.“ Er tut fast so, als wäre gerade gar nichts passiert.

„Ich … ich bin Heather.“ Völlig überrascht und perplex schüttelt sie ihm umständlich die Hand. Er lacht freundlich.

„Das mit der Gabel ist nicht schlimm, wirklich!“, versichert er mir lachend. „Bei uns passiert das mindestens einmal im Monat!“, scherzt er und setzt sich auf den Stuhl neben ihr.

Plötzlich unterbricht ihn seine Mutter mit schneidender Stimme: „Benjamin! Wie oft sagte ich dir schon, du solltest deine Jagdkleidung vor dem Essen ausziehen!“ Erst jetzt fällt mein Blick auf die seltsame Kleidung, die er trägt. Komplett in einem dunkelgrünen Anzug, der mit einem Gürtel an den Hüften festgehalten wird und Abzeichen an der Schulter hat. Wie aus dem letzten Jahrhundert! Diese Familie macht mir langsam echt Angst...

Immer noch lächelnd erhebt sich Benjamin wieder von seinem Stuhl und verschwindet aus dem Raum. Kurz bevor die Tür sich hinter ihm schließt, ruft er noch hinterher: „Ich bin gleich wieder hier!“

Wenig später tritt er in komplett neuen Klamotten ein und hat einen Mann, der wahrscheinlich sein Vater ist, im Schlepptau. Beide sehen sich schrecklich ähnlich. Benjamin hat blaue Augen und pechschwarze Haare.

Seitdem Benjamin am Tisch sitzt, ist die Stimmung viel ausgelassener und nicht mehr so ernst. Johanna und Ethan reden jetzt plötzlich auch mit Heather und mir, obwohl sie vorher nur schüchtern geschwiegen haben. Plötzlich sind sie total verändert. Die Einzige, die sich nicht am Gespräch beteiligt, ist Helene. Sie sitzt nur noch mit einer sturen Miene da und schaufelt die winzigen Portionen in ihren Mund.

Ich erfahre, dass Benjamin vorher mit seinem Vater beim Jagen in dem Waldstück waren, das nur ihnen gehört. Leider hatten sie heute keine Beute gefangen. Und irgendwie bin ich froh darüber. Denn ich fände es echt gruselig, wenn hier irgendwo in diesem Haus ein totes Tier liegen würde, das sie gerade gejagt haben. Mir läuft ein kleiner Schauer über den Rücken.

Immer wieder fange ich ein paar von Helenes Blicken auf, wie sie Benjamin böse mit ihren Augen zusammengekniffenen anstarrt.

Er ignoriert sie und erzählt von seinen vielen Jagderlebnissen und von seinem Studium. Er sagt, er würde nicht hier leben, sonder auf die Universität in Ottawa gehen. Dort studiert er Medizin. Er meint, er sei nur in den Ferien hier. Normalerweise lebt er bei seiner Mutter in Ottawa.

WoodkissWhere stories live. Discover now