Seelenfaden

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Es ist zum Verzweifeln. Hier sitzt du nun, im Krankenhaus, und wartest auf die Ärzte, die dir den Zustand deiner Mutter übermitteln sollen. Heute am Morgen, als du in der Uni warst, bekamst du einen Anruf: Deine Mutter hatte sich den Arm ausgekugelt und einen Herzinfarkt erlitten.

Im Hintergrund läuft ein Fernseher mit einem speziell medizinischen Programm und die zwei anderen Wartenden vergraben ihre Nasen in den abgegriffenen Magazinen, die auf den weißen kleinen Tischen in der Mitte des Raumes ausliegen.

Verzweiflung macht sich erneut in dir breit – bis jetzt konntest du sie immer wieder in den hinteren Teil deines Kopfes zurückdrängen, aber diesmal ist es zu schwer.

Es kommen unlogische Fragen in deinem Kopf auf und du spürst, wie die Flut der Angst droht, dich mit sich ins offene Meer zu ziehen.

Deine Hand greift in deine Jackentasche, in der du die vertraute viereckige Form unter deinen Fingerspitzen fühlst. Schnell ziehst du die Zigarettenschachtel heraus und öffnest sie. Doch bevor du auch nur hättest hineingreifen können, ertönt eine skeptische Stimme.

„Du weißt schon, dass das wir hier in einem Krankenhaus sind? Hier raucht man nicht."

Ohne Aufzusehen analysierst du die Stimme. Die anderen zwei Wartenden in diesem Raum sind beide etwas älteren Männer, mit tiefen und kratzigen Stimmen.

Die Person, die dich angesprochen hat, ist zwar auch männlich, aber bedeutend jünger. Vielleicht um die Zwanzig. Um deine Vermutungen zu bestätigen, blickst du auf und siehst dem Neuankömmling in die Augen.

Ja, du hattest Recht.

Er hat ein faltenfreies, reines Gesicht und seine dunklen Augenbrauen geben seinem Aussehen einen härteren Schliff. Seine Augen sehen warm aus, doch im Moment schaut er nur kalt auf dich herab an und erwartet deine Rechtfertigung.

„Da sind keine Zigaretten drin", lachst du humorlos und zeigst ihm die Schachtel – gefüllt mit M&Ms.

Nun etwas peinlich berührt von seiner voreiligen Schlussfolgerung beugt der junge Mann seinen Kopf entschuldigend und setzt sich neben dich, den Blick starr nach vorne gerichtet.

„Tut mir leid. Aber ist schon ziemlich ungewöhnlich, M&Ms in einer Zigarettenschachtel aufzubewahren."

Du schüttelst lachend den Kopf, in einer Art Zustimmung. „Schon gut, kein Problem. Ich habe selber keine Ahnung, wieso ich das mache. Die Reaktion der Leute ist jedes Mal einfach viel zu lustig, vielleicht treibt mich ja das an."

Der Junge gibt ein belustigtes Schnauben von sich. Dann überkommt euch die unangenehme Stille des Wartezimmers und die rauschende Leere wird nur durch das Umblättern von Seiten der Magazine durchbrochen.

„Willst du einen?" Du streckst die Hand aus und hälst dem Fremden die Süßigkeiten hin.

„Oh ja, dankeschön."

Lächelnd greift er zu.

Er hat ein schönes Lächeln. Ein strahlendes, glückliches und herzliches Lächeln. Es gefällt dir, stellst du still fest. Es ist ein Lächeln, welches jede noch so dramatische Situation verblassen lassen kann im Angesicht seines Glanzes. Bestimmt löst er damit panische Herzattacken bei vielen Mädchen aus. Hätte er auch bei dir getan, wenn die Sorgen deiner jetzigen Situation in deinem Kopf nicht überwiegen würden, anstelle der Hormone.

Als du ihn genauer betrachtest, bemerkst du eine Art improvisierten Verband um seine rechte Schulter. Auch die Art, wie er sich bewegt, war seltsam abgehackt und wirkt irgendwie steif.

SeelenfadenWhere stories live. Discover now