GAME OVER

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Der Wind flüsterte eine geheime Botschaft, die nicht verstanden werden sollte. Die Bäume knarzten. Zwischen dem Grün des Blätterdachs blitzte hie und da ein leuchtend blauer Fetzen auf, wie das Loch in einer alten Socke. Das Sonnenlicht kleckste auf den Boden und malte goldene Kreise in den Staub.

Wahrlich, ein herrlicher Tag! dachte Asgar und bewunderte das Farbspiel. Seine mächtigen Schritte, die sonst schon von weitem zu vernehmen waren und vor seiner Ankunft warnten, verklangen im weichen Waldboden. Ein paar Vögel flogen erschrocken auf, als sein Schatten auf sie fiel.

Plötzlich erklang ein trommelfellzerreißendes Brüllen, so gewaltig, dass der Boden erzitterte und der Wind vor Angst verstummte. Jeder andere Mann hätte die Beine in die Hand genommen und wäre gerannt wie der Teufel. Doch nicht Asgar. Er beschleunigte seinen Schritt, wenngleich er sorgsam auf seine Umgebung achtete. Ein Rauschen erfüllte über ihm die Luft, ein Rascheln wie von altem Leder und ein Schatten verdunkelte einen Moment lang seine Sicht. Dann war es wieder still.

Noch zweimal hörte er dieses unmenschliche Brüllen und jedes mal blieb Asgar stehen und horchte, aus welcher Richtung es kam. Er hat mich gerochen! Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Mit einem singenden Ton zog er sein Schwert aus der Scheide. Lang und dünn, wie es war, wirkte es in seinen mächtigen Pranken wie ein Zahnstocher. Ein heftiger Wind kam auf, unter dem die Baumwipfel sich zur Erde beugten, und verschwand wieder. Ein Ahnungsloser würde denken, es sei eine einzelne Böe gewesen, die vielleicht einen nahenden Sturm ankündigte. Aber Asgar wusste es besser. Und so war er nicht überrascht, als das Grün über ihm in glühendes Rot aufging. Das Feuer war hungrig und fraß schnell, bald streckten sich seine Zungen gierig nach den Baumstämmen aus.

Asgar nahm Deckung bei einem wuchtigen Felsen. Bäume krachten hernieder, dass der Boden bebte. Er erkletterte den Fels, suchte Schutz vor der allesverschlingenden Hitze. Über ihm der Himmel, glasklar und blau; unter ihm wütete das Feuer.

„Na komm schon!", rief Asgar, mit grimmigen Augen das ewige Blau absuchend. „Ich bin hier!" Wieder vernahm der das Brüllen, so nah, dass er die Luft vibrieren spürte, und mit ihm erschien eine gewaltige Gestalt am Himmel, größer als ein Haus und eleganter als eine Schlange. Knapp flog die monströse Kreatur über Asgar hinweg, ihr kraftvoller Flügelschlag drückte ihn nieder. Sie sandte einen erneuten Feuerstoß aus, der ihn nur um Haaresbreite verfehlte und den Stein unter ihm zum glühen brachte. Hier stand er nun im Flammenmehr und über ihm kreiste die Bestie, doch er empfand keine Angst.

Als das Scheusal zum zweiten Angriff ansetze, hob Asgar sein Schwert. Siegesgewissheit ruhte in seinen Augen. Starr wie eine Statue stand er oben auf dem glühenden Felsen, selbst als er hinter den tödlichen Zähnen des Monsters das Feuer glühen sah, bewegte er sich nicht. Erst im allerletzten Moment, als es schon fast zu spät war, trat er einen Schritt beiseite, so leichtfüßig und schnell, wie man es seiner riesenhaften Gestalt nicht zugetraut hätte, und ließ sein Schwert niedersausen, um der Bestie den Kopf abzutrennen, und dann –

Paul Schmuck erwachte.

Für einen Moment fühlte er sich schwerelos, gedankenlos. Doch dann erwischte ihn die Wirklichkeit mit der Wucht eines Hammerschlags und die Erkenntnis durchströmte ihn wie bitteres Gift. GAME OVER. Er war tot. Von einem Drachen verschlungen. Ihn, den man ehrfürchtig Asgar, den Drachentöter genannt hatte. Ihn, dessen Taten bewundert wurden und gefürchtet waren. Ihn, auf dessen Haupt man Triumphlieder und Lobeshymnen sang. Es gab niemanden, der ihn nicht kannte oder fürchtete. Das konnte doch nicht so enden! Nein, nein, nein! Er fühlte sich, als sei er in einen Alptraum gefallen.

Mit müden Bewegungen setzte Paul sich auf, riss das NeuroControl-Stirnband runter und nahm die Elektroden ab. Tot. Das Wort hallte wie ein düsterer Fluch in seinen Gedanken. Er war eine so lange Zeit Asgar gewesen, dass sein eigener Körper ihm fremd war. Ja, er wünschte sich, Paul, der Nichtsnutz, sei gestorben und nicht Asgar, der gefeierte Held. Seine Wohnung war düster wie eine Gruft, unwirklich waren die Möbel in den grauen Schatten, bloße Vorstellung.

Paul verspürte einen großen Durst und so griff er nach der Tasse Kaffee, die er sich eben erst gemacht hatte. Bevor er losgezogen war, den Drachen zu töten. Doch der Kaffee war angetrocknet, öde klebte das Braun am Tassenboden. Paul runzelte die Stirn. Hatte er schon wieder die Zeit vergessen? Im Spiel verging sie anders, als in der Realität. Er stellte die Tasse zurück. Von dem Teller mit dem Sandwich daneben flogen Fliegen auf. Der Käse war gewellt und trocken. Er hatte gedacht, es seien höchstens zwei, drei Stunden vergangen, seit er sich frischen Kaffee aufgegossen und das Sandwich gemacht hatte.

Er stand auf und schlurfte in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Das Ticken der Wanduhr, einem uralten Teil, war das einzige Geräusch in der totenstillen Wohnung. Die Kälte des Glases, das Wasser, das seine Kehle hinunterlief, selbst das ewige tick, tack, alles erschien Paul unwirklich, unecht. Im Spiel, da hatte er das wirkliche Leben gespürt. Sein Blick fiel durch das schmutzige Fenster hinunter auf die Straße. Die kränklichen Sonnenstrahlen vermochten nicht, das unendliche, menschenleere Grau zu beleben, noch brachten sie Licht in die trostlose Wohnung. Die Unwirklichkeit zerrte an Paul, bedrängte ihn, begrub ihn. Ein Grab, dachte er. Das hier ist mein Grab.

Das Glas rutschte aus seinen schwachen Fingern und zerschellte auf dem Boden. Eine Explosion in der vom tick, tack bestimmten Stille. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Gestern, vorgestern, letzte Woche? Er wusste es nicht mehr und es war ihm egal.

Paul starrte in die Scherben.

Er war wie das Glas. Nur, dass sein Boden die Realität war.

Mit müden Bewegungen kehrte er die Scherben auf und schnitt sich dabei in die Hand, doch er merkte es nicht. Nachdem seine Frau und seine einzige Tochter verloren hatte, war ihm sein Leben sinnlos vorgekommen. Er hatte er sich mehr und mehr aus der Welt zurückgezogen, hatte erst seinen Job verloren und dann seine Freunde. Er war Stück um Stück zu Asgar geworden, dem gefürchteten und geachteten Drachentöter. Asgar, der Menschen rettete und etwas bewirkte. Mit ihm hatte er alles verloren. Geld, um neu zu beginnen, hatte er nicht.

Das Blut vermischte sich mit dem Wasser auf dem Boden, hellrosa Schlieren auf grauem Grund. Obwohl er alle Scherben aufgefegt hatte, blieb Paul auf den kalten Fliesen sitzen. Er wusste, er sollte aufstehen und die Scherben entsorgen. Etwas trinken. Etwas essen. Irgendetwas machen. Doch er fühlte sich innerlich so leer, so verdammt leer. Er schloss die Augen. In seinen Gedanken war er nicht Paul Schmuck, der Versager und Nichtsnutz, der alles verloren hatte, sondern ein mächtiger Krieger, der unter Ruhmesgebrüll in die Stadt einzog, die tote Bestie hinter sich her schleifend.

Er war ein Held.

GAME OVER.Where stories live. Discover now