Remember it.

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~Remember it.~
Hinter geschlossenen Türen

Es war ein ganz normaler Abend. Ich war Duschen und zog mir meine Lieblingsjogginghose an und trug den schwarzen, langärmeligen Pullover von heute. Ich saß im ersten Stock, in meinem Zimmer und lernte für den Vokabeltest, den ich am Montag schreiben sollte.
Es war schon spät. 21:00 Uhr, um genau zu sein. Unten in der Küche saßen meine Eltern. Sie stritten sich, wie so häufig. Ich hielt in meiner Bewegung inne und horchte. Meinen Blick richtete ich auf die Zimmertür, die sich von meinem Schreibtisch aus, am Ende der linken Wand befand. Gegenüber von meinem Schreibtisch, an der Wand, hing der Spiegel.
Ich sah mich selbst. Meine immer noch feuchten Haare und den besorgten Gesichtsausdruck in meinen Augen. Ich atmete laut aus und schaute links neben mich, wo mein Kalender an der Wand hing. Es war kurz vor Weihnachten.

In sieben Monaten und drei Tagen würden wir endlich zurückfahren. Zurück in das Land, dass mir so viel bedeutet. Darauf freute ich mich schon sehr, denn nur dort konnte ich all das hier vergessen. Meine Eltern, den Streit, den Lärm. In diesem Land konnte ich mich in die Sonne legen, entspannen, ein gutes Buch lesen und dabei Musik hören. Dort konnte ich frei sein. Alles hinter mir lassen. Alles hier für eine kurze Zeit vergessen. Unbeschwert sein. Frei sein. Es wäre das fünfzehnte Mal, dass wir dort sind und mittlerweile ist das mehr meine Heimat, als Deutschland es je sein könnte und sein wird. Dieser Ort ist mir so unfassbar wichtig, das kann sich keiner vorstellen und sein Verlust macht mich immer noch total fertig.

Erneuter Lärm. Mein Blick ging wieder gen Tür. Wie so oft schlich ich an meine Zimmertür und legte das Ohr darauf. So versuchte ich jedes Mal, zu erfahren, worum es diesmal ging.

Mein Bruder war an diesem Abend leider nicht da. Er war unterwegs mit Freunden und schaute sich im Kino den neuen Star Wars Film „Rouge One" an. Er hatte angefangen, sich vom Familienleben abzukapseln. So bekam er nur selten die ganzen Auseinandersetzungen zwischen unseren Eltern mit. So konnte er sich vor all den Problemen in unserer Familie retten. Das dachte er zumindest.
Wäre er hier gewesen, hätte ich ihm geschrieben und ihn gefragt, ob er es auch hören würde. Wäre er da gewesen, wäre vielleicht alles anders geworden. Aber das war er nicht und so nahm alles seinen Lauf.

Leise öffnete ich die Zimmertür, schlich weiter leise zur Treppe. Am Geländer blieb ich stehen. In der Hoffnung, so besser hören zu können.
„Akira?", drang plötzlich die Stimme meiner Mutter zu mir hoch.
Shit. Sie hatte die Tür gehört. Ganz leise, Zentimeter für Zentimeter, ging ich wieder zur Zimmertür zurück. Als sie dann begannen weiter zu diskutieren, ging ich wieder in mein Zimmer und schloss leise die Tür.
Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch. Ich würde einfach warten, bis es vorbei ist. So wie ich es immer tat. Ich schluckte hart.
Ein paar Minuten später ertönte unten ein lauter Knall. Ich zucke zusammen und ein paar Sekunden danach öffnete jemand plötzlich meine Zimmertür. Meine Mutter kam rein. Ihr Gesicht, ihr Haar und ihr hellblauer Pullover waren nass.
„Was ist passiert?", fragte ich sofort. Innerlich alarmiert.
„Papa hat gerade ein Glaswasser nach mir geworfen."
„Warum?"
„Ich weiß es nicht. Ich will nur, dass du es gesehen hast. Als Zeugin."
„Ok." Sie schloss die Tür wieder.
Ich stand auf und lief auf und ab. Dabei murmelte ich die ganze Zeit: „Alles wird gut, alles wird gut." Das sagte ich mir immer, wenn meine Eltern sich stritten. Es war zu meinem Mantra geworden. Genauso wie: „Du wirst den Moment erleben, in dem es vorbei ist."
Ich kämpfte mit den Tränen. Ich durfte nicht weinen. Ich hatte mir verboten zu weinen.

So oft kam meine Mutter abends nach Hause und weinte sich bei mir aus. Weinte wegen meinem Vater. Wie fertig er sie machte. Sie hatte schon genug mit sich selbst zu tun, da wollte, durfte ich ihr nicht auch noch zur Last fallen.
Ich weiß, dass das dumm ist. Wenn meine Mutter wüsste, dass es mich belastet, würde sie alles tun, damit ich mir keine Sorgen machte. Heute weiß ich, dass das nicht der einzige Grund war. Nein, ich dachte, wenn ich nicht weinte, nicht darüber rede, mich nicht daran erinnere und es einfach ignorierte, wäre es nicht real. Wäre es nicht passiert.
Das Einzige, was dann real wäre, wäre die Tatsache, dass ich meinen Vater hasste. Ich hasste ihn so sehr, dass ich in der siebten und achten Klasse ein Jahr lang depressiv war. Mehrmals am Tag habe ich mir geschworen mir irgendwann das Leben zu nehmen. So wie ich es mir heute manchmal noch vornehme. Oder wenn ich die Spülmaschine ausräume und ein Messer in Hand hielt, war die Verlockung sehr groß, mich zu verletzten. Ist sie heute manchmal noch.
Auf meinen Vater kann man einfach nur verzichten. Er denkt nur an sich selbst, interessiert sich nicht für meinen Bruder und mich. Weder schulisch oder sonst irgendwie. Oder für irgendjemand anderen in seiner Familie. Niemand, wirklich niemand konnte ihn leiden. Zu uns kamen nie Verwandte zu Besuch und Freunde hatte er nicht.
Sein eigener Bruder hat über ihn gesagt, dass mein Vater arrogant, schadenfroh, besserwisserisch und aggressiv ist. Das bringt es wohl so ziemlich auf den Punkt.
Mein Vater redet nur über die Arbeit oder Politik, weiß alles besser. Aber das Schlimmste waren seine Wutausbrüche. Wenn das geschah, wollte man nur noch weg. Man musste weg, aber man konnte nie schnell genug vor ihm wegrennen. Man hat es nie geschafft.

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