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Das monotone Freizeichen der, sich aufbauenden Verbindung nach Japan im Ohr, starrte Jungkook aus dem Fenster in die Wolkentürme. Seinen Kopf hatte er auf der Lehne des Sofas abgelegt, von dem er sich das ganze Wochenende immer nur für das Nötigste weg bewegt hatte.
Es war schon spät am Sonntagabend und noch immer schmerzte sein Kopf entsetzlich, während die Scham über das, was er am Tag zuvor, mit den Bildern seines Chefs angestellt hatte, immer tiefer zu sitzen schien.
Der Anruf des japanischen Krankenhauses, der ihm vermittelte, dass seine Schwester bereit für ein Telefonat war, kam ihm deshalb wie gelegen.
Die Sorge um Minsa war längst Alltag geworden und er kannte es nicht anders, als im Wissen zu leben, dass ihre Organe jederzeit zu schwach werden könnten und doch war es sein eigener Herzschlag der für einen Moment aussetzte, als sich die zitternde Stimme seiner Schwester meldete.
„Kookie, hey...", murmelte sie, wurde von ihrem eigenen, röchelnden Husten unterbrochen und entschuldige sich daraufhin schwach.
Sofort waren seine Sinne bis aufs Äußerste geschärft und sein Herzschlag setzte so ungesund schnell wieder ein, dass er begann zu schwitzen.
Noch nie hatte er seine Schwester so gehört und der Schreck darüber, wie rasant ihr Zustand sich verschlechtert zu haben schien, trieb ihm unbändige Angst in die Brust.
„Minsa, du hörst dich furchtbar an.", zischte er erschrocken und presste das Handy noch dichter an sein Ohr, um überhaupt verstehen zu können, was sie sagte.
„Na, spricht man so mit seiner älteren Schwester?", tadelte sie ihn und ihre Stimme hatte dabei nicht ansatzweise die selbstbewusste Stärke, die sie sonst immer gehabt hatte.
„Du hörst dich auch nicht gut an. Was ist mit dir?", fügte sie hinzu und kurz schloss Jungkook die Augen.
„Ich bin etwas erkältet, nichts Dramatisches. Sag mir lieber wie es dir geht. Sind die Ärzte nett zu dir und was sagen sie?"
Er konnte nicht verhindern, dass er außer Atem geriet, als er seiner Schwester die Fragen stellte, die ihm selbst so viel Angst bereiteten.
„Die Erkältung meine ich nicht."
Irritiert runzelte Jungkook die Stirn und öffnete die Lippen.
„Was?"
„Die Erkältung meine ich nicht, Kookie! Da ist etwas anderes, was dich belastet. Du klingst traurig. Was ist da los?"
Ertappt seufzte er auf, ließ sich mit dem Rücken zum Fenster, im Schneidersitz auf die Couch sinken und starrte auf die Stelle der Lichterkette, die Taehyung wenige Tage zuvor berührt hatte. Noch immer schien sie hin und her zu schwingen, auch wenn dafür nun wohl der Luftzug des gekippten Fensters verantwortlich war.
„Ich habe jemanden kennen gelernt. Er ist ein Idiot und es ist kompliziert. Ich möchte nicht darüber reden."
Jungkook konnte es sich bestens vorstellen, wie Minsa in diesem Moment beleidigt das Kinn reckte und misstrauisch die hübschen Augen zusammen kniff.
Sie mochte es nicht, wenn er Geheimnisse vor ihr hatte aber alles was dieser gerade wollte war, für sie da zu sein.
„Bitte Minsa, ich will mich nicht streiten. Was haben die Ärzte gesagt?"
Eine ganze Weile herrschte Stille und unfreiwillig fragte Jungkook sich, ob seine Schwester nun wirklich beleidigt oder vielleicht wieder eingeschlafen war, als sich ihre angestrengte Stimme erneut meldete.
„Die Ärzte sagen gar nichts mehr, Jungkook. Sie haben nichts mehr zu sagen und sie können mir auch nicht mehr helfen."
Es war, als hörte sich die Welt um beide, für einen kurzen Moment auf zu drehen.
Das, was die ganze Zeit schon zwischen ihnen gestanden hatte wie ein verheißungsvolles Damoklesschwert, war ausgesprochen worden und Jungkook riss es von einer auf die andere Sekunde den Boden unter den Füßen weg.
Schwindelnd klammerte er sich an seine Decke, welche zur Hälfte von der Couch gerutscht war und schüttelte immer wieder den Kopf.
„Blödsinn! Sag sowas nicht. Das... das hast du sicher falsch verstanden! Du musst die Ätzte nochmal fragen und ich werde dir Geld überweisen. Jetzt sofort überweise ich dir alles was ich habe und dann können sie die Operation machen, oder? Dann wird alles gut, habe ich recht?"
Jungkooks Kopfschütteln hatte sich in ein Nicken verwandelt und die Tränen, welche heiß in seinen Augen standen, blinzelte er wütend davon.
„Unser Vater wäre sehr stolz auf dich, Kookie. Du warst schon immer ein Kämpfer.", flüsterte Minsa und ihre leise Stimme war so erfüllt von Wärme, dass es beinahe einer Umarmung gleich kam. Aber eben nur beinahe.
„Was redest du denn da? Unser Vater ist nicht mehr hier und wir waren immer zusammen stark.", wiedersprach er und es war ihm, als vernahm er ein schwaches Lächeln vom anderen Ende der Leitung.
„Ich werde bald bei ihm sein und du wirst dein Leben genießen, hörst du? Mach dir um gar nichts mehr Sorgen kleiner Kookie. Ein sehr großzügiger Spender hat bereits gestern eine Summe überwiesen, die eigentlich für die Operation gereicht hätte aber es ist zu spät. Die Ärzte sagen, dass ich auf der Liste der Transplantationen noch ganz unten stehe und ein Flug nach China ist nicht möglich für mich."
„Nein!"
Mit bebenden Schultern kauerte Jungkook zwischen all den bunten Kissen, die seine Schwester teilweise für ihn genäht hatte, als er derart weit weg gezogen war. Lange war es noch gar nicht her gewesen, als die schlanken Finger den Saum des Stoffes, unter der Nadel der Nähmaschine geführt hatten. Genauso, wie sie ihn einst geführt hatten.
Stets war die warme Hand seiner großen Schwester da gewesen um ihm Halt und Sicherheit zu geben, auch wenn sie sich vermutlich selbst nicht mal in Sicherheit gewogen hatte.
Die zierlichen Silberringe hatten in der Sonne gefunkelt, wenn Minsa ihm in den vielen Sommern eine Waffel mit klebrig süßem Eis gekauft hatte und ihre Hände hatte immer nach wilder Rose geduftet, weil sie sich nicht von ihrer liebsten Handcreme trennen konnte, die sie stets in jeder Tasche mit sich herum trug.
Es waren kleine Dinge gewesen, die seine Welt so viel schöner gemacht hatte und seltsam ironisch wurde ihm bewusst, wie viel Ähnlichkeit seine Schwester mit dem anderen Menschen hatte, der ihm so wichtig geworden war.
Minsa hatte die gleiche Ausstrahlung wie Taehyung.
Sie war die Art von Frau, nach der sich jeder umdrehte und die es schaffte, die ganze Atmosphäre eines Raumes zum Strahlen zu bringen, wenn sie über die Schwelle trat.
Permanent stark in ihren Aussagen und in allem was sie tat.
Nun zu spüren, dass sie längst aufgegeben hatte und nichts von ihrer Stärke übrig geblieben war, konnte Jungkook nicht akzeptieren.
Natürlich ahnte er bereits als sie es aussprach, um wen es sich bei dem dubios großzügigen Sponsor gehandelt haben musste, doch diese Erkenntnis bot ihm nur wenig Trost.
„Minsa das darf nicht sein, hörst du? Das kann nicht sein! Ich werde dafür sorgen, dass sie dich auf der Liste nach ganz oben setzen! Ich werde mehr Geld besorgen und dann werden sie dich operieren können. Wie lange sagen sie denn, das du... das du noch hast?"
Trotz der Tränen, die nun doch über Jungkooks Wangen stürzten, klang er entschlossen und beherrscht. Eine Charaktereigenschaft die er sich vermutlich von ihr abgeschaut haben musste.
„Hör auf, Jungkook. Sie geben mir nicht einmal mehr ein halbes Jahr. Vielleicht noch drei Monate, wenn überhaupt. Du musst aufhören zu kämpfen, es hat keinen Sinn mehr und es ist okay so."
Zittrig klang die warme Stimme in Jungkooks Ohr und wiederwillig schüttelte er den Kopf.
Gerade noch war Minsa an einer der angesehensten Universitäten Japans für Medizin zugelassen worden und hatte alle, inklusive Jungkook, in den Schatten gestellt. Sie führte ihr Leben strahlend, auf der Überholspur, ohne dabei ab zu heben oder ihre Großzügigkeit zu verlieren. Die Krankheit schob sich wie ein gewaltiger, schwarzer Schatten über ihr Leben und riss ihr alles aus den hübschen Händen. Ihre Perspektiven, ihr strahlendes Lächeln und ihre unerschütterliche Stärke.
„Bitte pass einfach auf dich auf und mach keinen Blödsinn, ja? Bleib wo du bist und besuche mich nicht. Ich möchte nicht, dass du mich so siehst. Ich würde dich nicht rein lassen, wenn du nach Japan fliegst, also denk gar nicht daran."
Verzweifelt schluchzte Jungkook auf und die Machtlosigkeit lähmte ihn beinahe vollständig.
„Das kannst du doch nicht-„
„Ich bin müde. Ich habe dich lieb, okay? Wer auch immer dieser Mann ist, der dir den Kopf verdreht hat, lass ihm Zeit und gib nicht auf. Zeit ist ein Privileg, welches nur den lebenden unter uns gebührt also nutze sie und verschwende sie nicht mit Sorgen. Ich weiß wo mein Platz ist und es soll alles genau so sein, wie es ist."
Mit diesen Worten legte Jungkooks große Schwester auf und beim Klicken in der Leitung, brach er unter der Last des gigantischen Drucks auf seinen schmalen Schultern zusammen.
Schluchzend schlang er die Arme um seinen Körper und presste das Gesicht in die Kissen, bis er drohte an seinem eigenen Weinen zu ersticken.
Unter keinen Umständen konnte er zulassen, dass seine Schwester starb, weil er zu unfähig war um genügend Geld aufzubringen und zu veranlassen, dass sie auf der Liste der Spenderorgane ganz an die Spitze rutschen würde.
Minsa hatte Recht, er war schon immer ein Kämpfer gewesen und er würde erst aufhören zu kämpfen, wenn er seine Familie, bestehend aus seiner großen Schwester, gerettet hatte.

BLACK POISON [TaeKook] Où les histoires vivent. Découvrez maintenant