Sage Snowdrop | Kapitel 26

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Ich wusste nicht, wie lange ich, mit Valerian im Arm, da saß und vor mich hinstarrte. Lautlos liefen die Tränen über meine Wange, sammelten sich an meinem Kinn, bevor sie auf meine Verbündete fielen. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass ich ihr glückliches Lachen und ihre lebensfrohe Art nie wieder sehen und hören würde. Noch schlimmer war, dass ich diesen Alptraum nun alleine überstehen musste. Da war nun niemand mehr, der sich an mich kuschelte, mich warm hielt. 
Langsam starrte ich auf meine Hände die von Blut befleckt waren. Valerians Blut.
Das war also die Strafe für den Wunsch nach Freiheit, nach Gleichberechtigung.
Grausam aber effizient musste ich mir jetzt, wo die ersten Hungerspiele begonnen hatten, eingestehen.
Vor mich hin starrend, strich ich immer wieder über Valerians Haar. Irgendwie beruhigte mich diese Geste, ließ mich vergessen, dass sie Tod war. Ich sah auf sie herab ohne mit meinen Fingern innezuhalten. Mit entspannten Gesichtsausdruck sah sie aus, als würde sie nur schlafen. 
Mir war klar, dass ich mich eigentlich von ihr weg bewegen musste. Das war eine der Regeln, damit die Leiche abgeholt werden konnte, ohne das einer der anderen Tribute in der Nähe war. Was erwarteten sie, was wir tun würden? Versuchen mit in den Hovercraft zu kommen? Für was sollte das gut sein. Sie würden uns doch sowieso wieder zurück werfen. Es gab nur zwei Möglichkeiten aus dieser Arena wieder herauszukommen.
Tod oder als Gewinner. Ich wollte sie aber nicht alleine lassen.
Wütende Schreie durchrissen die Stille, in der Valerian mich zurück gelassen hatte.
Vetch und seine Meute schienen gemerkt zu haben, das etwas fehlte. Nach den Stimmen zu urteilen, waren sie nicht gerade bei bester Laune.
Von unverständlichen Schuldgefühlen geplagt, legte ich langsam Valerians schlaffen Körper in das Gras. Kurz überlegte ich, dass Messer aus ihren Rücken zu ziehen. Der Gedanke, ihrer zierlichen Gestalt noch mehr Schaden zu zufügen, ließ mich vor Ekel erzittern aber sie würde wollen, das ich es nahm und meine Gewinnchancen sich erhöhen würden. Mich überzeugte jedoch eine andere Idee. Ich würde es nehmen und Sylver, das bösartig lächelnden Mädchen, eigenhändig damit töten. Mir war nicht einmal genau klar, wo dieser Gedanke her kam, aber er gab mir die Kraft mich weiter zu bewegen. Ich drehte Valerians Körper leicht auf die Seite und umfasste den Griff der Klinge mit beiden Händen. Noch einmal atmete ich tief ein und schloss die Augen. Versuchte etwas anderes vor mir zu sehen, als meine kleine Freundin. 
Dann zog ich mit aller Kraft an. 
Im ersten Moment, hatte ich Sorge, dass es sich nicht lösen würde aber nach nur einen kurzen Augenblick löste es sich langsam. Das Geräusch dabei, ließ es mir eiskalt den Rücken runter laufen.
Reiß dich zusammen, befahl ich mir innerlich selber. Wie sollte ich einen anderen Menschen das Leben nehmen, wenn ich nicht einmal das hören konnte.
Ich versuchte zu schlucken, um den bitteren Geschmack in meinem Mund zu beseitigen, aber meine Zunge gehorchte mir nicht. Es war als wäre mein Mund und Rachen komplett ausgetrocknet. Nebenwirkung des Rauches. 
Tief durchatmend versuchte ich die Schmerzen im Hals und ein leichtes Schwindelgefühl zu ignorieren. Ich musste hier erst weg, bevor ich nach den Bogen und Köcher in Valerians Händen griff. Erst jetzt bemerkte ich die Flasche, die sie in ihrer Jackentasche hatte und die nun halb herausgefallen war. Sie hatte nicht nur den Bogen besorgt, sondern auch an Wasser für uns gedacht. 
Wieder wollten Tränen mir die Sicht verschleiern, aber ich musste mich konzentrieren. Ich griff, nach der Flasche und steckte sie selber ein. Ein weiteres mal legte ich meine Hände auf den Bogen und zog ihn aus den Fingern von Valerian. Langsam senkte ich meinen Kopf und drückte ihr noch einen sanften Kuss auf die Stirn, bevor ich aufstand.
Die Stimmen kamen näher und ich versuchte noch einmal einen Überblick darüber zu bekommen wo ich war. Der Rauch hatte mich bei meiner Flucht mehr verwirrt als ich gedacht hatte. Während ich der Meinung gewesen war, wieder in Richtung tieferer Wald geflohen zu seien, war ich genau in die andere Richtung gelaufen. 
Vom Wald aus kamen die Stimmen, also konnte ich nicht weiter dorthin laufen. Ich drehte mich um und schaute auf den steilen, steinigen Weg, der mich tiefer in die Berge und fort von den Bäume brachte.
Mit mulmigen Gefühl drehte ich mich noch einmal zu Valerian, bevor ich anfing zu laufen. 
Laufen war vielleicht das falsche Wort. Es war eher ein kriechen. Ich kam nur mühsam voran und konnte nur hoffen, dass die Anderen mich nicht entdecken würden, bevor ich außer Sichtweite war.
"Da ist sie!" Als ich Vetch Stimme laut unter mir hörte, verzog ich angewidert das Gesicht. War ja klar gewesen. Das Glück war wohl doch nicht mit mir.
Ich verschwendete wertvolle Sekunden um zurückzublicken. Vetch, Sylver und das Mädchen aus Distrikt 4 schauten wütend in meine Richtung. Kale stand knapp hinter mir und sah auf Valerian. War da so etwas wie Trauer in seinen Augen oder spielte mir mein leicht vernebelter Verstand nur etwas vor? Mir fiel auf, dass der Junge aus Distrikt Eins fehlte.
Der Kanonenschuss und Schmerzensschrei fiel mir wieder ein. Ich schauderte über den Gedanken, dass er vielleicht Opfer der Flammen geworden war. Ein Feuer, welches ich gelegt hatte.
Ich versuchte nicht weiter darüber nachzudenken und kämpfte mich weiter, den rutschigen Pfad hoch. Hinter mir hörte ich wie Vetch den Befehl brüllte mir zu folgen. Sein Fluchen kurz darauf bestätigte mir aber, dass ich mich nicht nur dumm anstellte, sondern es wirklich schwerer war, hier lang zukommen als es aussah.
Mittlerweile war das Atmen nur noch eine Qual und es kam schon lange nicht mehr genug Luft in meine Lungen. Ich durfte aber nicht anhalten. 
Anhalten würde den Tod bedeuten.
Also versuchte ich die Schmerzen in meiner Brust zu ignorieren und trotz Sauerstoffmangels zu klettern. Hand vor Hand, Fuß vor Fuß. Es war mein Wille der meinen Körper in Bewegung hielt und ihn vorwärts zwang.
Jedoch waren auch Vetch und seine Meute schnell unterwegs. Getrieben von Wut, kamen sie Millimeter für Millimeter näher. 
Endlich oben angekommen wäre ich am liebsten zusammengebrochen. Meine Sicht verschwamm immer wieder und ich kämpfte darum bei Bewusstsein zu bleiben.
Ich gab meinen Körper ein paar Sekunden Erholung, in denen ich mich umsah und feststellte, dass ich noch nicht ganz oben angekommen war, was mir jedoch vorher schon klar gewesen war. An beiden Seiten ragten hohen Steinwände auf, die nach hinten hin schmaler zusammenführten, bevor sie sich wieder öffneten. Stockend kämpfte ich mich wieder nach oben und schwankte weiter den Weg entlang. Meine Hoffnung bestand darin, dass die Schlucht so schmal werden würde, dass zumindest Vetch und mein Bruder mir nicht mehr folgen konnte. 
Immer wieder stieß ich schmerzhaft gegen die Wände, während ich hin und her schwankte. Die Stimmen hinter mir trieben mich an, weiter zu gehen. Meine Hoffnung wurden dieses mal erfüllt. Die Felswände gingen sogar so nah an einander, dass selbst ich nur schwer durchpassen würde. 
Ich unterdrückte einen Anflug von Klaustrophobie, als ich mich seitlich zwischen den Felsen durchzwängte. Einen kurzen Moment war die Enge zwischen den Felsen schmerzhaft. Es fühlte sich an, als hätten sie mich gepackt und würden nun nicht mehr loslassen. Doch schon im nächsten Augenblick rutschte ich weiter und stolperte aus den Spalt heraus. Nur um dann gerade so vor einen Abgrund abbremsen zu können. Dieses Gebirge war wirklich nicht der beste Ort für eine Verfolgungsjagd.
Vetch Stimme war wieder zu hören. Nicht einmal Sylver würde mir hierdurch folgen können, aber das Mädchen aus Distrikt Vier war zumindest schlank genug und auch willens genug. Sie hatte schon oft genug geschrien, dass sie ihren Bogen wieder wollte und ihn mir aus den toten Händen reißen würde. Ein sehr liebliche Person, wie ich feststellte.
Wenn ich mich nach links wenden würde, würde der Weg mich nur zurück zum Füllhorn führen. Offenes Gelände war nicht gerade ein Vorteil gegen vier wütende Jugendliche, die einen töten wollten.
Also wand ich mich nach rechts. Wenige Meter war es nur ein schmaler Grad zwischen Felswand und Abgrund aber mir blieb nichts anderes übrig. Vorsichtig schob ich mich vorwärts und hoffte, das mein Schwindel mir jetzt nicht zum Verhängnis werden würde. Kurzzeitig schien mein Körper jedoch wieder mir zu gehorchen und ließ mich die wenigen Meter überstehen, bevor der Schwindel zurück kam und ich nun gegen die Felswand stolperte, die den Abgrund ersetzt hatte. Auf der anderen Seite, war die Felswand jedoch, einen Plateau gewichen. 
Mehr konnte ich nicht ausmachen, da ein Keuchen in diesen Moment an mich heran drang: "Jetzt hab ich dich."
Ich drehte mich wieder in die Richtung aus der ich gekommen war, und sah in die grünen Augen, des Mädchens aus dem vierten Distrikt. Ihr blondes Haar war schmutzig und ihr ganzer Körper von Ruß bedeckt. Wahrscheinlich sah ich nicht besser als sie aus.
"Steeve war mein Freund.", knurrte sie mir entgegen und kam um Ecken eleganter über den Anhang als ich.
Verwirrt überlegte ich wer Steeve war und kam zu dem Entschluss, das es der Junge aus Distrikt Eins gewesen sein musste. Warum dachte ich in so einer Situation überhaupt darüber nach? Ich kicherte über meine eigenen Gedanken. Gut das keiner wusste was ich in meinen wahrscheinlich letzten Momenten gedacht hatte. So sehr mein Körper und ich vorher noch Freunde gewesen sind, war er jetzt mein Feind. Ich war schon allein stolz darüber das ich noch an der Wand lehnen konnte und nicht einfach umfiel. Immerhin würde ich stehend den Tod ins Augen sehen.
Plötzlich packte mich eine Hand grob an der Schulter.
Distrikt Vier war schon hier. 
Mit Kraft, die ich ihr gar nicht zugetraut hatte, warf sie mich zurück und ich landete schmerzhaft auf dem Boden des Plateaus. Allein durch den Schwung wurde die Luft aus meinen Lungen gepresst, aber ein Stein bohrte sie zu allen übel auch noch in meine Rippen.
"Zeit zu sterben Distrikt Sechs.", erklärte sie mir, als sie ein, meiner Meinung nach, viel zu sehr gezacktes Messer aus ihren Gürtel zog. 
Ich vernahm ein Knacken, welches ich aber meinen wirren Gedanken zu schob. Als kurz darauf noch eins zu hören war, und mein Mittribut sich verwirrt umsah, dämmerte es mir aber, dass ich es mir nicht einbildete.
Als der Boden unter mir nachgab konnte ich nicht reagieren und fiel, im Gegensatz zu dem Mädchen aus dem anderen Distrikt, die noch rechtzeitig in Sicherheit sprang. 
Mit zusammen gepressten Augen wartete ich auf den Aufprall und hoffte das mein Tod schnell eintreten würde. Doch der Flug war schneller zu Ende als ich gedacht hätte. Noch einmal schlug ich schmerzhaft auf. Einen kurzen Moment wartete ich, bevor ich erst ein Auge und dann das andere öffnete. 
Ich war in einer dunklen Höhle gelandet.
Verwirrt schaute ich auf, als ich gedämpft Vetchs Stimme hörte, die fragte, was passiert war.
Der Kopf meiner Feindin erschien am Abhang über mir, während sie einen Statusbericht an die anderen weiter gab. Sie ließ natürlich nicht aus, das ich noch am Leben war und trotzig zu ihr aufblickte.
Trotzig? Ich war doch nur damit beschäftigt geistig meinen Körper durchzugehen und zu schauen ob nichts gebrochen war. Dieses Mädchen hatte mich noch nicht trotzig gesehen. Trotzdem versuchte ich meinen Blick aufrecht zu halten, damit sie sich auf mich konzentrierte und so nicht den Gang entdecken würde, der mir aus den Augenwinkel ins Auge sprang.
Vetch tat genau das, was ich von ihm erwartete. Er war der Meinung, dass es nur ein Hohlraum war, und ich da unten ruhig von alleine verenden konnte. Das Mädchen war zwar wütend, dass so ihr Bogen verloren war, gehorchte aber den Jungen aus Distrikt Zwei, als dieser sie zurück beorderte.
Erleichtert seufzte ich auf, als das Gesicht von ihr verschwand. 
Ich ließ mich nach hinten fallen und atmete erleichtert auf, oder, besser gesagt, röchelte. Immerhin waren meine Chancen gerade wieder ein gutes Stück gestiegen.
Ein knurren drang an meine Ohren.
...
Wirklich jetzt? Das war nicht fair!
Auch wenn ich liebe wie ein kleines Kind die Augen zu gemacht hätte, um mir einzureden, dass alles was ich nicht sehe, auch mich nicht sehen konnte, zwang ich mich, mich auf meine Ellbogen aufzustützen und zu schauen, was mir dort Gesellschaft leistete.
Mein Blick kreuzte sich mit dem eines...Dinges.
Ich wusste nicht wie ich es sonst nennen sollte. Wie ein übergroßer Wolf aussehend, erinnerte sein Gesicht und seine Ohren eher an das einer Raubkatze.
Mutation, schoss es mir in den Kopf. Als die Rebellion dem Kapitol immer näher gekommen waren, hatte sich herausgestellt, dass sie schon seit längerer Zeit Experimente mit Tieren machten. Dabei waren manche zur Überwachung und andere zum angriff. Dieses hier war eindeutig zum Angriff. Wenn mir seine Klauen dies schon nicht bestätigten, dann doch das mit scharfen Zähnen besetzte Gebiss. 
Wieder knurrte das Wesen mich an und ich wurde wütend.
"Schau mich nicht so blöd an.", brüllte ich so laut es mein geschundener Hals zu ließ. "Bring mich endlich um!"
Meine Forderung löste keine Reaktion bei dem Wesen aus. Es starrte mich nur weiter mit diesen gruseligen, fast menschlichen, blauen Augen, die im Kontrast zu seinen schneeweißen Fell standen, an.
Ich merkte schnell, dass ich dieses Duell nicht gewinnen konnte.
Meine Lungen gaben nun endgültig ihren Geist auf und mein Blickfeld schränkte sich immer mehr ein. Immerhin würde ich so nicht mitbekommen wenn ich starb. Als ich ein weiteres mal das knurren hörte, begrüßte ich die Dunkelheit, die sich über mich senkte und in ein tiefes Nichts zog.

Sage Snowdrop | Die ersten Hungerspiele Where stories live. Discover now