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Er hatte den Park gerade erst betreten, als seine Augen sie bereits fanden. Er lief jeden Tag durch diesen kleinen, künstlich angelegten Wald, der seinen Nachhauseweg um einiges kürzer machte. Zumindest war das die Ausrede dafür, dass er oft auch eine halbe Stunde lang ziellos durch den Park lief und auf sie wartete, nur um dann wie zufällig an ihr vorbeizulaufen. Fast so, als wäre er gerade erst aufgetaucht und würde nach wenigen Minuten auch schon wieder verschwunden sein. Oft fühlte er sich dabei wie ein Verbrecher, obwohl er nur ein stiller Beobachter war. Er verstand nicht ganz, warum er so auf sie fokussiert war, immerhin hatte er nie mit ihr geredet, aber irgendetwas faszinierte ihn. Und zwar so sehr, dass er sich nicht von ihr trennen konnte. Dabei nahm sie ihn gar nicht wahr. Fast jeden Tag kam sie in den Park; setzte sich immer an einen anderen Ort und begann zu zeichnen. Gelegentlich konnte er einen Blick auf ihre Bilder erhaschen und war beeindruckt. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er sich für sie interessierte, aber soweit er das beurteilen konnte, waren ihre Zeichnung mehr als gut.

Er wollte sie kennenlernen. Dieses Bedürfnis stieg beinahe bis ins Unermessliche. Und wieder einmal fragte er sich, was ihn daran hinderte sie einfach anzusprechen. Er war nie von schüchterner Natur gewesen. Warum also zögerte er jetzt? Er wusste die Antwort. Sie würde ihn vermutlich für verrückt erklären. Er konnte schließlich nicht einfach auf sie zugehen und sagen, dass er sie schon seit einigen Wochen, ja sogar Monaten, heimlich beobachtete und Sehnsucht nach ihr verspürte. Sie würde schneller die Polizei gerufen haben, als er sich ihr vorstellen könnte. Es war hoffnungslos.

Seufzend lief er einfach an ihr vorbei, als sie plötzlich den Kopf hob und ihm genau in die Augen sah. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Seine Atmung fiel aus, und die Welt schien plötzlich verstummt zu sein.

Wow.

Er bemerkte nicht, dass er stehen geblieben war. Er war gefangen von ihren Augen. Noch nie hatte er so schöne Augen gesehen.

Erst als sie versuchte um ihn herum zu schauen erwachte er aus seiner Starre und ging weiter. Der Moment hatte kaum länger als eine halbe Minute gedauert. Und trotzdem fühlte er sich irgendwie leichter. Er hatte das Ende des Parks gerade erreicht, und war dabei ihn zu verlassen, als er plötzlich stoppte. Er drehte sich, um in das Innere der Anlage zu sehen. Sie saß immer noch auf der Bank und konzentrierte sich auf ihre Kunst. Immer wieder sah sie nach oben, bevor sie sich wieder ihrer Zeichnung widmete und erneut nach oben sah. Er folgte ihrem Blick und entdeckte eine alte Trauerweide. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihren Beobachter nicht wahrnahm. Sie hatte diesen Baum schon unzählige Male gezeichnet und doch konnte sie nie genug von ihm bekommen. Denn obwohl der Stamm nicht mehr gerade nach oben wuchs, sondern ein wenig zur Seite abknickte, strahlte er dennoch in seiner schönsten Pracht. In dem See, der um den Baum herum angelegt wurde, spiegelten sich die langen Blätter der Weide.

Die Sonne, die bald untergehen würde, tauchte die Umgebung bereits jetzt in ein angenehm warmes Licht und betonte die blühenden Pflanzen und das klare Wasser. Sie bekam nicht genug von diesem Anblick und konnte ihre Augen nur schwer wieder abwenden, um ihre Zeichnung weiterzuführen. Sie wollte es beendet haben, bevor es zu dunkel war, um weiter zu zeichnen.

Doch manchmal vermochte das Schicksal Wünsche und Ziele nicht zu erfüllen. Stattdessen schickte er sie auf einen anderen Weg. Und auf eben diesem Weg lief er gerade. Und zwar genau auf sie zu. Er würde sich diesmal nicht unterkriegen lassen und endlich seinen Mut zusammennehmen und sie ansprechen. Oder sich zumindest neben sie setzen und die Natur auf die gleiche Art bewundern, wie sie es tat. Sie sah kurz auf, als sie seine Bewegungen neben sich wahrnahm, doch sie wandte sich genauso schnell wieder von ihm ab wie zu. Er atmete tief ein und hoffte, dass sie sein nervöses Wesen nicht bemerkte. Entschlossen drehte er sich nach einer Weile des Starrens in ihre Richtung. Sie zuckte leicht zusammen, weil sie mit seiner plötzlichen Aufmerksamkeit nicht gerechnet hatte und unterbrach ihre Tätigkeit für einen kurzen Moment, um ihn anzusehen. Er lächelte sie leicht an und schien etwas zu sagen. Seine Lippen bewegten sich, doch sie verstand ihn nicht. Vorsichtig lächelnd schüttelte sie den Kopf und deutete auf die Kopfhörer, die sie im Ohr hatte. Er war beinahe erleichtert, dass sie sein Gestotter nicht gehört hatte, doch als sie sich wieder von ihm wegdrehte und ihre Arbeit wieder aufnahm, spürte er eine leichte Enttäuschung, die sich ihren Weg in sein Herz bahnte. Auch er setzte sich wieder gerade hin und sah abwesend auf die grüne Trauerweide. Ihre hängenden Blätter erinnerten sie stark an Tränen. Irgendwie konnte er das gerade nachvollziehen. Sie hatte scheinbar keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Er schalt sich selbst. Deswegen musste er jetzt nicht in Depressionen verfallen. Als er nach seinem Rucksack griff und aufstehen wollte, um zu gehen, kam ihm eine Idee. Wenn sie nicht mit ihm reden wollte, konnte sie doch auf andere Weise mit ihm kommunizieren. Er hoffte, dass sein Versuch Früchte tragen würde. Sie registrierte sein Vorhaben, von hier zu verschwinden, und war neugierig, als er sie doch wieder setzte und anfing in seinem Rucksack zu wühlen. Dennoch konzentrierte sie sich weiter auf ihre Zeichnung und versuchte seine Anwesenheit so gut wie möglich auszublenden. Das funktionierte sogar so gut, dass sie nach einigen Minuten sogar hätte schwören können, dass er doch gegangen war. Umso überraschter war sie, als plötzlich seine Hand in ihrem Blickfeld erschien und einen kleinen gelben Papierschnipsel auf ihren Zeichenblock legte. Erstaunt sah sie auf den Zettel, den er mit gut lesbarer Handschrift beschrieben hatte.

т a u в s т u м м  ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt