Glutrot

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»Ich habe dich lang nicht mehr gesehen. Ich muss die ganze Zeit an die Farben denken, von denen du mir erzählt hast.«
»Dann weißt du jetzt, wie es mir mit den Gedanken geht.«
»Waren das schon alle Farben?«
»Nein. Ich vermisse das Rot.«
»Was für ein Rot?«
»Ein warmes, energiegeladenes Rot. Ein Rot wie die Glut in einem Kamin, in dem kein großes Feuer mehr brennt. Wenn du im Winter vor dem Kamin sitzt und die kleinen, harmlos erscheinenden Funken beobachtest, die doch so viel bewirken können und du den Regen gegen die beschlagenden Fenster trommeln hörst, ist dir nichts wichtig, außer das intensive Glutrot, das von goldenen Funken gesprenkelt ist.«
»Wieso ist nur das wichtig? Die schweren Gedanken können doch nicht einfach weggehen, sobald man sich die Glut in einem Kamin anschaut.«
»Nein, so ist es auch nicht. Die Gedanken kreisen gerade in diesen ruhigen Momenten am schnellsten. Aber das Feuer wärmt dich auch von innen, so warm ist es. Du spürst, wie die beruhigende Wärme deine Lungen wärmt und sich bis in deine Fingerspitzen ausbreitet. Die Gedanken wirfst du in die Glut und die sorgt dafür, dass der Kummer im neu entfachten Feuer verbrennt. Und dann siehst du dabei zu, wie alles Schlechte in den Flammen vernichtet wird.«
»Aber Gedanken sind doch nichts Materielles. Wie kannst du dich so leicht von ihr en befreien und in die Flammen werfen?«
»Es ist nur eine Vorstellung. Aber wenn du dir diese so real vorstellst, dass es nicht mehr wie eine Fantasie ist, gelingt es dir. Und du kannst du dich befreien.
Weißt du, manchmal musst du gar nicht deine Gedanken in die Glut werfen. Manchmal, wenn es dir so richtig schlecht geht, sodass du das Gefühl hast, leer zu sein und nichts mehr zu spüren, holt die Glut sich die Gedanken und wärmt dich wieder auf. Ich kann nicht beschreiben, wie sie das macht, aber es passiert.«
»Das klingt so, als wäre das Glutrot ein Mensch, der dir das Leid nimmt und dich tröstet.«
»Solche Menschen habe ich leider nicht in meinem Leben.«
»Du hast mich. Ich bin für dich da und werde dich wärmen, wie das Feuer dich wärmt.«
»Danke. Wirklich. Ich habe noch nie zuvor jemandem von den Farben erzählt. Du bist wirklich wie das Glutrot. Zumindest so ähnlich.«
»Jetzt brauchst du das Glutrot nicht mehr. Du hast mich und kannst das Feuer löschen.«
»Ja, vielleicht muss ich es nicht mehr vermissen. Aber ich habe es schon vor langer Zeit verloren. Ich muss es nicht mehr löschen. Ich habe das Glutrot verloren. Aber möglicherweise hast du recht und ich habe dich dazu gewonnen.«

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⏰ Last updated: Feb 29, 2020 ⏰

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Verlorene FarbenWhere stories live. Discover now