< 1 > Was machst du hier? < 1 >

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Man spoilert das Ende einer Geschichte nicht, das ist ein absolutes Tabu.
Aber (welch süßes Wort der Uneinigkeit) lasst mich euch die Geschichte erzählen, zweier Jugendlicher, von denen einer den Tod finden wird.
Ach, und Timothy Morningstar.
Der 22 Jahre junge Mann stolperte zwischen baumhohen Bergen an Müll über kaputte Fernseher, Restmüllsäcke und so demolierte Gegenstände, dass sie nicht mehr identifizierbar und wohl aus dem letzten Jahrtausend waren.
Tatsächlich fand er einen Kühlschrank, welchen er nur wenige Meter zuvor in einem Katalog für Retrofans gesehen hatte, ein Nachbau eines Kühlschranks aus 1998. Wer auch immer einen zweihundert Jahre alt aussehenden Kühlschrank haben wollte. Oder wer auch immer sich in einer kaputten Welt im Jahr 2201 überhaupt Gedanken über die Optik seines Kühlschranks machte.
Er hatte kein Ziel bei seiner Wanderung durch den Schrott, doch sobald ihm das unpassende Stück auffiel, hatte er es sich ins Auge gefasst und steuerte schnurstracks auf es zu. Oder eher schnurstracks, um dann abzubiegen und sich hinter die kleine Gestalt zu stellen und den Oberkörper durchgebogen auf sie herabzuschauen, direkt auf den stacheligen blauen Kopf.
Langsam, als hätte er Angst vor dem leichten Bewegen der Figur, kniete er sich hinter ihr hin und streckte den Kopf über die schmale Schulter vor sich.
„Du siehst aber wirklich nicht aus wie ein Stück Müll.", sprach er die Auffälligkeit der schlafend zusammengehockten Person an, die in dem Moment noch die Arme um die herangezogenen Beine geschlungen und den Kopf dazwischen vergraben hatte.
Kaum hatte er sie jedoch aus dem Schlaf gerissen, schreckte sie in einer Sekunde auf und klatschte quiekend mit der flachen Hand gegen das Gesicht neben dem Ihren.
Timothy verlor den Halt auf seinen Zehenspitzen und fiel nach hinten auf die platte Erde, auf der er sich mit einer Hand abstützte, die Linke schützend vor die gerötete Wange gehalten. Nun hatte die kurze, blaue Frisur auch ein Gesicht. Schmal und länglich, schmaler Nasenrücken, schmale Lippen, „Hi, Schmale. Guter Schlag.", begrüßte er sie also.
Sobald er sich langsam aufrichtete, tat sie es ihm gleich, sodass sie beide standen und der junge Mann geradeaus ins Nichts schaute, bis er den Kopf ein wenig senkte.
Für ihre 1,55 Meter hatte sie eine gute Durchschlagskraft.
Und für seine 1,79 Meter hielt Timothy ziemlich wenig aus.
„Erschreck mich halt nicht so.", raunte sie mit einer Stimme, als würde ein warmer Meereswind die Worte tragen.
„Sorry, mir ist langweilig und zwischen dem ganzen Müll ist es mal schön, was Anschauliches zu entdecken.", durch ihre gehobene dünne Augenbraue bemerkte er den Ton in seiner Aussage: „Ähm, also, einen Menschen. Keinen hässlichen Menschen dazu, aber das ist kein Flirten. Nein. Ähm."
Er hatte schon deutlich unangenehmere Gespräche gehabt, aber nicht als allererstes Gespräch zum Einstieg. Immerhin lächelte sein Gegenüber mit zwei tiefen Grübchen, die verrieten, dass sie ein Grinsen oder gar Lachen unterdrückte.
„Schon gut, du bist auch schöner anzusehen als die toten Ratten und Kakerlaken."
Tatsächlich war der junge Mann in ihren Augen recht attraktiv für einen Fremden, mit seinen schwarzen Haaren, die unter einer Kapuze hervorschauten und leicht über seine Stirn ragten, der hellen Haut und den zwei braunen Augen, die wie Kastanien über seinen markanteren Wangen Augenringschatten warfen. Mehr als sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, da er komplett in schwarz gehüllt war. Ein Kapuzenpullover unter einem Ledermantel mit Laschen, Reißverschlüssen und anderen Accessoires-Krimskrams, ähnlich wie der blaue Flicken über dem rechten Knie seiner (wie seine gesamte Kleidung) schwarzen Jeans. Das linke Knie hatte keinen Flicken mehr bekommen und die Stiefel wirkten so, als bräuchten sie auch bald einen.
„Freut mich zu hören, aber ehrlich, was machst du hier Kleine?"
Ihr Lächeln verschwamm wieder zu einer leicht schläfrigen Gleichgültigkeit als sie antwortete: „Ich glaube, du wolltest fragen, wie ich heiße. Claude, du darfst mich aber auch gerne Claude nennen. Und bis eben hab ich hier geschlafen. Als ich herkam hats geregnet und das Regal da oben hat für ne etwas trockenere Stelle gesorgt."
Timothy schielte kurz nach oben und erkannte nun das modrige Regal, das halb herausragte und zur anderen Hälfte unter dem Schrottberg begraben fixiert war.
„Um deiner Nachfrage, warum ich hier geschlafen hab, vorzubeugen."
Sie musste also letzte Nacht hier angekommen sein, dämmerte dem Schlafstörer, „Dann schläfst du hier ja schon bestimmt seit 10 Stunden.", stellte er fest.
„Was, wie spät ist es?"
„Naja, wir haben 12:46", antwortete er auf eine Armbanduhr am rechten Handgelenk schielend, „und geregnet hat es etwa bis 3 Uhr, aber nicht sehr lange."
Sie zuckte mit den Schultern, „Naja. Ich hab ja eh nicht viel vor."
„Was denn?"
„Nichts."
Und genauso viel hatten sie nun zu sagen. „Oke, ich muss in nen Ort in der Nähe und was machen."
„Also in der Nähe gibts hier keine Stadt und kein Dorf, bei so nem Gestank will nämlich niemand wohnen, also jetzt sag schon endlich, was macht eine junge Dame wie du hier draußen?", hakte er weiter wie eine Platte mit Sprung.
„Ich bin kein Mädel."
„Achja. Du hast aber eine Brust.", zu der er kurz blickte und ihr dann wieder ins Gesicht. Bedeckt war sie von einem beigen Langarmshirt, war aber doch erkennbar genug im Kontrast zu der kleinen Person.
„Willst du, dass ich dir gleich noch eine scheuer?"
Die Zeit, die er zum Überlegen brauchte, bereitete Claude ein wenig Sorge.
„Lass mal, ich bin schon wach genug, also. Was bist du dann?"
„Enby."
„En- wie?"
„Enby. Oder auch Nonbinary. Also weder Mädel noch Typ. Ich identifizier mich als gar kein Geschlecht, einfach nur- ich. Nix Spektakuläres, aber so ist es eben."
„Ah, verstehe."
Sie verschränkte nun die Arme vor ihrer Brust und musterte dabei skeptisch seine Augen, die entgegen ihrer Erwartung aber in ihrem Gesicht blieben. „Hast du ein Problem damit?"
„Was, nein nein, warum sollte ich."
Dass es so Leute mit Problemen damit in 2201 überhaupt noch gab konnte Timothy nicht verstehen.
„Aber langsam drehen wir uns echt im Kreis.", kapierte sogar er jetzt, dass er die immer selbe Frage stellte. Also kam sie ihm zuvor: „In der Nähe ist etwas übertrieben. Ich will zum Marko's Markt."
„Der Laden? Das ist zu Fuß bestimmt ne Stunde, wenn nicht mehr, entfernt, zumindest wenn du den in Wasserbeck meinst. Und außer dem alten Marko gibt niemand seinem Geschäft so nen behämmerten Namen."
Claudes Mundwickel zuckte, „Ja, das stimmt. Und ne Kette hat er auch nicht. Aber ich kann mich wenigstens nicht verirren, ich muss nur weiter die Elbe hinauf und dann komm ich schon irgendwann an. Und nein, bevor du nochmal fragst, ich sag dir nicht, was ich da mache."
„Gut. Musst du auch nicht. Das kann ich ja sehen, wenn wir dort sind."
„Wir?!"
„Ich begleite dich."
Sie zuckte mit den Augenlidern, eine Art schockiertes Blinzeln, obwohl sie den Fremden leiden konnte. „Was, nein, ich geh alleine."
„Das ist ein ordentlicher Weg durch ne miese Gegend, du kannst jemanden zum Schutz in Begleitung gut gebrauchen."
„Ich brauch keinen Schutz!"
„Hast du mal gesehen, wie klein du bist?"
Sie reichte ihm kaum bis über die Schulter und musste ein wenig nach oben schauen, um in seine Augen blicken zu können, dabei bezeichnete er sich selbst nicht als sonderlich groß.
„Ich kenn meine Größe, du stehst auf Schläge, kanns sein?"
Doch Claude ließ ihn gar nicht antworten: „Weißt du was, wenn du jetzt wirklich drauf bestehst mich zu begleiten, will ichs nicht wissen."
Timothy grinste und Claude fragte sich, ob sie nicht doch weiter widersprechen sollte.
Stattdessen lief sie einfach los und zog einen guten Meter hinter sich den jungen Mann mit, der nun den Weg, den er gekommen war, wieder zurückging. „Und was machst du hier?", spiegelte sie die Frage, die ihr schon im Kopf stecken geblieben war. „Hab nur geschaut, ob hier was Brauchbares rumfliegt.", weswegen es nicht schlimm für ihn war, wieder zurückzugehen.
Claude nickte. Und sie schwieg. Und er schwieg. Und die unangenehme Stille nagte an Claude, wie die Sorgen, mit einem Unbekannten zu reisen, was seine Gründe dazu waren, was seine sonstige Beschäftigung im Leben war, was seine Sicht zu ihr war und dann vor allem: „Was ist eigentlich dein Name?"
Er hob die Augenbrauen, als hätte sie ihn diesmal aus einem Schlaf geweckt, schoss dann aber sogleich mit seinem Vornamen hervor, den ihr bereits kennt.
„Aber jetzt bin ich wieder dran mit fragen, dann darfst du.", startete er, damit die Stille fernblieb.
„Wie alt bist du eigentlich?"
„17."
Eine knappe Antwort nach der nächsten, „17?"
„Lisple ich?"
„Sicher, dass das deine nächste Frage sein soll?"
„Nein, aber jetzt bin ich ja eh wieder dran.", konterte die Jugendliche. Sie warf einen Blick über die Schulter, um ihren spontanen Begleiter vor lauter ins Gesicht geschriebenen Fragen nicht mehr erkennen zu können. „Oke, frag halt."
„Wie kommts, dass eine Siebzehnjährige.", dann stockte er, „Moment, du bist ja Enby. Ist „sie" dann überhaupt dein Pronomen?", fiel ihm ein, da er die Erzählung nicht hören und daher nicht wissen konnte, dass sie das Pronomen ihres angeborenen Körpers bevorzugte. „Jo, einfach sie und ihr und auch, wenn ichs nicht abkann als Mädel bezeichnet zu werden, bin ich deine Begleiterin. Also was hats mit meinem Alter und deiner eigentlichen Frage auf sich?"
„Gut, ja. Wieso bist du mit 17 auf der Straße mitten in der Pampa unterwegs? Da wohnt man doch eigentlich noch bei seinen Eltern."
„Nich wenn die tot sind.", erwiderte sie so emotionslos und trocken, dass er kleinlaut wurde als er wieder sprach: „Oh.. das.. tut mir leid."
„Passt schon, du hast sie ja nicht getötet."
Er zuckte ein paar Mal mit den Lippen, hielt eine Frage drinnen, die rauswollte, was sie bemerkte. Er lief mittlerweile neben ihr, wodurch ihr seine Gesichtszüge deutlicher auffielen. Kantig, aber doch kein Klotzgesicht, wie ein Würfel mit weichen Ecken. Und ihrem ähnlich länglich und schmal, nur weniger filigran. „Du musst nicht fragen.", seufzte sie, „es war ein Hausbrand."
Timothy schluckte, etwas verlegen, dass er dieses Thema angerissen hatte. Claude wies keinerlei Grund auf, dass er dies sein müsste, ihr schien es egaler als ihm, als sie weiter erzählte, obwohl er nicht mal vorhatte, nachzufragen: „Ich wollte mir den Stress mit dem Jugendamt nicht geben, wie das kleine traumatisierte Mädchen in ein Heim gesteckt zu werden, oder was auch immer die mit Sechzehnjährigen machen, wie ich damals halt war. Also bin ich weggelaufen und leb seit ner Weile da, wo ich halt was finde."
Langsam glaubte Timothy, dass ihm von Claudes Art zu erzählen unwohl wurde und nicht von dem Thema. Ein wenig versuchte sie unterbewusst auch, ihn zu verschrecken, doch das war beiden nicht bewusst und so gelang es auch nicht.

„Hey, ersten Ort gemeinsam passiert- Ende des Schrottplatzes- erreicht!",
Claude schmunzelte, was wie ein abrupter Wechsel zu eben wirkte. „Wuuu. Bleiben noch zehn Minuten zum Fluss und dann ne Stunde. Da haben wir ja schon echt gut bewiesen, dass wirs aushalten, in den fünf Minuten? Oder warens sogar zehn?"
„Oh jetzt tu nicht so", quengelte der junge Mann und brachte das Schmunzeln auf ihrem Gesicht zu einem leichten Grinsen, das ihre Zähne entblößte und die Grübchen wieder bohrte. „Außerdem schaffen wirs auch in ner halben Stunde."
„Wie das denn bitte?", fragte sie ungläubig lachend, die Hände in den Hosentaschen der dunkelgrauen Jeans vergraben. „Bei Autofahrten und guter Musik kann man sich doch am besten kennenlernen. Oder?", lächelte Timothy mit ausgestreckten Armen und einer halben Verbeugung, während er in kleinen Schritten rückwärts tappte, ehe er sich umdrehte, wobei sein knielanger Mantel herumwirbelte und Claude beinahe einen revanchierten Schlag verpasste. Beinahe. Sie musste dennoch erstmal etwas Staub aus den Augen blinzeln, doch hörte schon das metallische Klopfen, noch bevor sie erkannte, wie Timothy stolz beide Hände auf die Motorhaube eines steinalten Cadillacs gestützt hatte. Zwischen all den toten Autos auf dem Platz vor der Müllhalde war er ihr erst nicht aufgefallen, doch sobald er in ihren Fokus gefallen war, fiel auf, dass der schwarze Lack mehr glänzte als der, der anderen Autos und jede Scheibe noch ganz war. „Der ist zwar schon fast 250 Jahre alt, aber fährt besser als die ollen Magnetbahnen überall.", prahlte er mit geschwollener Brust von seinem 59er, „Merkst du daran, dass die nimmer fahren. Oh Mann, bin ich froh, dass ich in der Zeit, als Autos verboten waren und nur diese Magnetbummler fuhren noch nicht gelebt hab."
Claude hatte mit offenem Mund einen der Mundwinkel angehoben, „Naja, mittlerweile juckts ja keinen mehr, also."
„Also auf nach Wasserbeck würd ich sagen", eröffnete Timothy den Beginn ihrer Reise.

Zwei AlleinWhere stories live. Discover now