Ein Recht auf Dummheit

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Die ersten Sonnenstrahlen reflektierten von den Glasscheiben der Hochhäuser, als die Landeshauptstadt langsam aber sicher an diesem Sonntagmorgen erwachte. Es war so früh, dass die letzten Tautropfen noch immer auf den Grashalmen glitzerten und dass die kalte Nachtluft, die von letzter Nacht noch übrig war, noch unverbraucht und frisch roch.

Denn noch hatte kaum ein Auto die Straßen durchquert und lediglich eine einsame Straßenbahn und ein etwas fehl am Platz wirkender Bus ratterten langsam durch die ruhige, leicht abseits gelegene Einkaufsstraße.

Die Lichter der meisten Geschäfte blieben heute dunkel, die Doppel-Glastüren geschlossen und versperrt mit verschiedenen Verkaufs-Ständern um der potentiellen Kundschaft, die an diesem schönen Tag zufällig vorbei kam auch deutlich zu suggerieren, dass hier definitiv nicht geöffnet war.

Nur vereinzelt sah man einige Gestalten durch die Straßen wandeln, die meisten von ihnen lediglich auf einem kurzen Trip zum Bäcker, um möglichst schnell wieder in die eigenen, warmen vier Wände zu gelangen und sich nicht mit der Welt da draußen befassen zu müssen.

Sie klatschte ihre Stirn schon zum dritten Mal gegen die Scheibe. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hörte sie ihre Mutter den mahnenden Zeigefinger heben und ihr Gebeten doch bitte die Scheibe nicht zu berühren, denn die sei ja dreckig. Man wüsste ja nicht wer das schon alles angefasst hat.

Unrecht hatte sie dabei nicht, denn Glasscheiben im Bus waren nicht unbedingt für ihre Hygiene bekannt. Und vielleicht wäre es wirklich klüger gewesen, auf die imaginäre Stimme ihrer Mutter zu hören. Doch ihre Mutter war gerade nicht hier.

Sollte sie eine dumme Entscheidung treffen wollen, so war das ihre eigene Verantwortung. Und das allein war Grund genug für Erin, ihre Stirn ein weiteres Mal gegen die Scheibe zu klatschen. Einfach weil sie endlich auch die dummen Entscheidungen treffen konnte.

Als der Bus sie abgesetzt hatte und mit quietschenden Reifen die unebene Straße weiter ratterte, stand sie fast etwas verloren vor den riesigen Gebäudekomplexen, die anscheinend bald ihr Zuhause darstellen würden. In diesem Moment konnte sie sich das noch überhaupt nicht vorstellen, dass dieser absolut fremde Ort sich bald so gewohnt anfühlen würde wie ihr eigenes kleines Heimatdorf.

Sie schmollte unweigerlich bei dem Gedanken an ihre kleine Siedlung, mitten im Naturschutzgebiet. Tja, die war jetzt hunderte von Kilometern entfernt. Und sie war hier. Warum auch immer. Eigentlich war es nicht wirklich ihre eigene Entscheidung gewesen, so weit weg zur Uni zu gehen.

Doch nach ewigem Auf-Sie-Einreden hatten es ihre Eltern anscheinend doch irgendwann geschafft, sie davon zu überzeugen, dass dies hier genau das ist was sie unbedingt wollte. Dass es ja kaum etwas passenderes für sie gäbe. Sie wäre hier ja so gut aufgehoben, könnte ihre Talente entfalten, neue Leute kennenlernen und so wunderbar heranwachsen wie die Blumen auf Mutters Fensterbrett.

Am Arsch.
Wenn überhaupt hatte sie diese ganze Prozedur nur mitgemacht, weil das bedeuten würde, dass sie endlich nicht mehr 24/7 unter Beobachtung stehen würde. Sie hatte sich ursprünglich sehr darüber gewundert, dass die beiden von der Idee, sie so weit weg zu schicken so begeistert waren.

Dann könnten sie ihr Baby doch nicht mehr bei jeder Kleinigkeit unterstützen und unter die Arme greifen. Weil sie das auch so sehr benötigte. Aber jetzt?
Sie hatte sich immer noch kein Stück vom Fleck bewegt, als erwartete sie jede Sekunde, dass ihre Eltern aus dem nächsten Busch springen würden, laut „Überraschung!" schrien und ihr freudig erklärten, dass sie eine Möglichkeit gefunden hätten, mit ihr ins Wohnheim zu ziehen.

Sie presste die Lippen zusammen und drehte sich einmal kurz zu dem Gebüsch hinter ihr, an der Bushaltestelle um. Nichts. Gut. Blöde Gedanken. Sie war frei. Auch wenn sie das noch nicht wirklich begreifen konnte. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem wohlbehüteten Leben war sie tatsächlich... frei.


Und da klingelte ihr Handy. 'Mutter ruft an'. Naja fast frei.
Sie drückte den Anruf weg und versuchte sich zu merken, von ihrer Wohnung aus zurück zu rufen, dann setzte sie sich endlich in Bewegung in Richtung neues Zuhause.

Einen nervtötenden Anruf voller besorgter, wenn auch gut gemeinter, Fragen später, stand Erin endlich vollkommen allein in ihrer noch spärlich möblierten Wohnung und sah sich um. 'Spärlich' war noch nett gesagt.

Bisher besaß sie nicht viel außer einer Couch, die sich praktischerweise zu einem großen Bett ausklappen ließ, einem eher praktischen als schönen Schreibtisch und einem kleinen Kaffee-Tischchen. Das, zusammen mit der Küche die sie sich mit ihrer neuen Mitbewohnerin teilte, war zwar mehr als genug um ihre rudimentären Lebensansprüche zu befriedigen, ließen jedoch sowohl an der Ästhetik als auch der generellen Gemütlichkeit zu wünschen übrig.

Mit anderen Worten, es passte schon, aber schön war es nu' nicht. Dennoch, für Erin war dies gerade der wunderschönste Moment seit langem. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Die ganze Welt stand ihr offen!

Für einen Moment lang war sie fast überwältigt weil sie gar nicht wusste mit welchen Dingen sie anfangen sollte und – nein im Ernst. Womit sollte sie anfangen? Sie blickte sich um, verzog das Gesicht. 'Hier könnte man eigentlich mal Staubsaugen. Das ganze Möbel aufstellen hatte eine Menge Dreck hinterlassen.

Sie war sich sicher, ihre Mutter würde sie dafür loben. Ein schelmisches Lächeln flog über ihr Gesicht und mit erhobenem Kopf tat sie im Anschluss genau das, eben nicht.
Letztendlich verbrachte sie den Nachmittag damit, sich einzuleben und einen Plan für die kommende erste Uni-Woche zu schmieden.

Ein kleiner Spaziergang durch die Nachbarschaft half ihr die Gegend etwas besser kennenzulernen und herauszufinden, wo sie demnächst ihre Einkäufe erledigen könnte. Und als sie dann abends wieder auf ihrer Couch saß, war ihr Boden immer noch genauso dreckig wie er es am Vormittag gewesen war. Sie war stolz auf sich.


Dennoch hatte die Stimme der Vernunft sie nicht ganz verlassen. Im Stillen hatte sie sich vorgenommen, sich die erste Woche komplett auf die Uni zu konzentrieren. Keine Dummheiten, kein Ausnutzen der neu gewonnen Freiheit. Sie wollte sich erst ein festes Standbein hier errichten, bevor sie sich kopfüber ins tatsächliche Studenten-Leben stürzen würde. Das ganze war auch so schon aufregend genug. Die nächste würde auf jeden Fall eine vollkommen normale Woche werden.

Und dann klopfte es an ihre Tür.  

Obsession - Die Asbest VerschwörungWhere stories live. Discover now