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Aurel war der Kerl, dem ich meine Vorstrafe zu verdanken hatte und der jetzt besser schnell seine Wohnungstür öffnete, bevor ich sie eintrat.

„Mach auf, du Wichser, ich bin's!", brüllte ich und schlug mit der Faust gegen das weiß gestrichene Pressholz. Die Sommerhitze stand im engen Hausflur und durch das gekippte Fenster drang das Lachen und Kreischen der Kinder rein, die sich gegenseitig vom Klettergerüst schubsten oder benutzte Spritzen aus dem Sand ausgruben.

Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht, dann öffnete sich die Tür vor meiner Nase und ich erblickte Aurel im düsteren Flur. Er trug nur eine Jogginghose und sein Haar stand zerschlafen von seinem Kopf ab.

„Alles Gute zum Geburtstag, Bruder", grinste er, streckte die Arme aus und zog mich an seine muskulöse Brust.

„Danke, Mann", sagte ich und klopfte ihm mit meiner freien Hand auf den Rücken. In der anderen hielt ich eine Sporttasche, die alle meine Habseligkeiten beinhaltete.

Aurel ließ mich los und schloss die Tür hinter mir ab, während ich ins Wohnzimmer durchging. Decke und Kissen lagen zerknautscht auf der Couch, Tabak- und Grasreste bedeckten den Glastisch, auf dem ein paar leere Bierflaschen standen und eine Fernbedienung lag.

Ich schmiss mich in die Polster und schaltete den Fernseher ein.

„Da läuft eh nur Schrott", meinte Aurel und setzte sich neben mich. Er zog eine schmutzige Bong unter dem Tisch hervor und befüllte sie.

„Scheiß egal", sagte ich, denn im Heim hatten wir nie Fernsehen dürfen. Nur die fette Kuh von Betreuerin, die auch den Großteil der Spenden für sich behielt.

„Hier, dein Geschenk", grinste Aurel und hielt mir die fertige Bong und sein Sturmfeuerzeug hin. „Mein bestes Gras, das rauch sonst nur ich, hundert Prozent ungestreckt."

„Du vertickst mir sonst also gestreckte Scheiße?", fragte ich mit einem Grinsen und nahm die Bong entgegen. Bei ihm war es besser gar nicht erst auf krass zu machen oder aufzumucken, seine Faust brach Kiefer schneller als man Hurensohn sagten konnte.

„Nein", erwiderte er, dabei wusste ich genau, dass er es tat. Zu Asi TV im Fernseher lehnte ich mich zurück, hielt die Flamme an die Bong und saugte den Rauch in meine Lungen, wo ich ihn solange hielt bis mir schwindelig wurde.


Ich verbrachte meinen Geburtstag zugekifft auf Aurels Couch. Mit jeder Menge Pizza und Süßigkeiten und schlechtem, aber verdammt witzigem Fernsehen. Aber irgendwann kam der Abend und mit ihm wurde es ernst. Ich war jetzt 18 und damit offiziell erwachsen, was mich nicht nur mein Zimmer im Heim, sondern auch den Welpenstatus in der Rotte kostete.

„Du solltest mal los", meinte Aurel und stopfte sich eine Hand voll Chips in den Mund.

„Hmh", murmelte ich zustimmend. Die Couch war so bequem, so verdammt bequem. Ich hatte nie an einem gemütlicheren Ort gesessen. Meine Arme und Beine fühlten sich an, als gehörten sie mir gar nicht. Als hätten sie keine Verbindung zu meinem restlichen Körper.

Aurel schaute mich von der Seite an und grinste.

„Du bist so dicht, Junge. Vero wird dich ficken."

„Scheiße." Ich lachte, auch wenn mir gar nicht nach Lachen zumute war. Aurel hatte recht, verdammt. Wenn ich nicht bei einer der Mutproben draufging, würde Vero dafür sorgen, dass ich keinen ruhigen Tag mehr hatte.


Aurel begleitete mich nicht. Alleine schleppte ich mich zur U-Bahn und lehnte mich gegen die Plexiglasscheibe neben der Tür, weil ich im Sitzen bestimmt eingeschlafen wäre. Dunkelheit, Dunkelheit, Bahnsteig. Türen auf, Menschen raus, Menschen rein, Türen zu. Dunkelheit, Dunkelheit, Bahnsteig. Türen auf, Menschen raus, Menschen rein. Türen zu. Dunkelheit.

Ich schloss die Augen und atmete. Scheiße, wo kam diese Übelkeit her? Die Bahn wackelte, mein Kopf schlug gegen die Scheibe hinter mir.

Scheiße.

Ich schlug die Augen wieder, das verschwommene Licht der Oberlichter blendete mich. Ein Kerl kam auf mich zu und grinste, aber ich war nicht fähig irgendwas in meinem Gesicht zu bewegen. Vielleicht würde die Kotze einfach in meine Luftröhre laufen, wenn ich mich jetzt übergab.

„Hey, Baby, alles klar bei dir?", begrüßte mich der Kerl im roten Hoodie, der sein fettiges Haar unter seiner Kapuze versteckte. Er hielt eine Bierdose in der Hand und biss mir in den Hals, als ich nicht reagierte. „Du bist vollkommen dicht, kann das?", fragte er und schaute mir in die Augen.

„Verpiss dich", brachte ich hervor und Daniel grinste breit.

„Vollkommen dicht", lachte er und nahm einen Schluck aus seiner Bierdose. Er lehnte sich mir gegenüber gegen das Plexiglas und verschränkte die Arme.

„Grins nicht so, ich sterb' bestimmt heute", meinte ich, als ich die Kontrolle über meine Gesichtsmuskeln zurück hatte. Vielleicht klang's wie ein Scherz, aber Scheiße, ich hatte Schiss.

Aram hatte sein Bein verloren, als er von einem fahrenden Zug gefallen war, und angeblich war wirklich mal einer drauf gegangen. Früher, bevor ich Teil der Rotte gewesen war.

„Hundertpro, Mann. Ich weiß schon was Vero vorhat, dein Zustand ist dafür echt nicht gut", grinste Daniel, leerte seine Dose und warf sie am nächsten Halt auf den Bahnsteig.

Wir trafen uns auf dem Dach einer Fabrikhalle. Eine Feuerleiter an der Rückseite führte bis ganz nach oben und ich verließ mich darauf, dass Daniel die Umgebung sicherte, bevor wir hochkletterten.

„Komm, du bist schon zu spät!", rief er mir zu. Er stieg vor mir die Sprossen hinauf.

Wir hatten unterwegs zwei Mal angehalten, weil ich glaubte das ganze Essen, das ich mir auf Aurels Couch reingeschaufelt hatte, wieder auskotzen zu müssen.

Die gesamte Rotte war versammelt, als wir uns an den Lüftungsschächten vorbeischoben. Vero stand ein paar Schritte vor den anderen, die teils saßen, teils standen, und stützte sich auf einen Baseballschläger.

„Janko, wie schön", sagte er, richtete sich auf und kam auf mich zu. Er breitete freundschaftlich die Arme aus. „Alles Gute zu deinem 18." Er schloss mich in die Arme und klopfte mir kräftig auf den Rücken, dann machte er einen Schritt zurück und schaute mir in die Augen. „Bist du bereit?"

Ich nickte, aber ich war es nicht.

Vero holte eine Wodkaflasche heran und drückte sie mir in die Hand.

„Trink", sagte er.

Mein Blick blieb an Daniel hängen, der sich bei den anderen auf den Kieselsteinboden gesetzt hatte, dann drehte ich den Deckel ab und nahm einen tiefen Schluck.

„Mehr", sagte Vero. Er nahm mir den Deckel aus der Hand und warf ihn schwungvoll vom Dach. „Diese Flasche ist heute dein Begleiter. Wenn du einen Tropfen verschüttest bist du raus. Du musst sie nicht austrinken, du darfst nur nichts verschütten, alles klar?"

Ich setzte die Falsche wieder ab und nickte. Der Wodka brannte in meinem Hals, erwärmte meinen Magen. Meine Finger zitterten. Scheiße.

„Du weißt wo das neue Einkaufszentrum gebaut wird?"

Ich nickte erneut.

„Wir fahren jetzt dahin und dann kletterst du bis an die Spitze des Krans. Schaffst du das ohne einen Tropfen zu verschütten, bist du drin. Vollwertiges Mitglied."

Er hielt mir die Hand hin und ich schlug ein wenig zeitverzögert bei ihm ein. Vero grinste. Er pappte eine GoPro an die Flasche, richtete das Objektiv auf den Flaschenhals und schaltete sie ein.

„Auf geht's."

Mamakind [pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt