Kapitel 1

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An einem Sonntagnachmittag wie diesem verirrte sich selten jemand auf den Friedhof. Die Familien waren aus dem Urlaub zurückgekehrt und verbrachten den letzten Tag der Ferien am See oder in einem der nahegelegenen Freizeitparks.

Meine Sporttasche, in der sich ein Badeanzug und ein Badetuch befand, lag direkt neben mir im Gras. Obwohl ich heute nichts weiter tun wollte, als das Grab meiner Mutter zu besuchen und mir im Bett Filme anzusehen, hatte ich die Bitte meiner Freundinnen, ebenfalls zum See zu kommen, um dort den Tag mit ihnen zu verbringen, nicht ausschlagen können. Außerdem würde Caleb auch dort sein. Ein Seufzen entwisch meinen Lippen. Caleb ... mein Caleb. Seit einem halben Jahr waren mein bester Freund aus Kindheitstagen und ich ein Paar.

Das Vorzeigepaar der High School. Der Quarterback des Footballteams und die Königin des Herbstballs. Ich wusste, was Caleb von mir erwartete. Er war durch und durch ein Romantiker. Er stellte sich das Leben so einfach vor. Heiraten und Kinder kriegen. Zusammen alt werden und unseren Enkeln beim Spielen im Garten zusehen. Zu Beginn hatte seine Einstellung zum Leben und die Tatsache, dass er andere Mädchen nicht einmal mehr ansah, derart begeistert, dass ich mir vorstellen konnte, für immer an seiner Seite zu sein und diesen Traum tatsächlich mit ihm zu leben. Doch der Tod meiner Mutter vor vier Monaten hatte meine Einstellung zu diesem Thema in vielerlei Hinsicht verändert. Das Leben war zu kostbar, um jede Minute zu planen und nichts dem Schicksal zu überlassen. Meine Mutter hatte genau das getan. Sie hatte ihren High School Freund geheiratet, mich bekommen und zusammen mit meinem Vater ihre eigene Arztpraxis auf die Beine gestellt. Aber auch all die Planung konnte sie nicht vor dem Tod bewahren. Nur einen Wimpernschlag später war sie tot. Ihr Leben beendet von einem rücksichtslosen Autofahrer und einer nassen Straße an einem verregneten Abend.

Ich wollte immer wie meine Mutter sein, hatte sie immer für ihre Stärke und ihr Talent, auch in brenzligen Situationen ruhig zu bleiben und alles genau zu planen, bewundert. Doch in Momenten wie dieser einer war, wenn ich alleine auf dem Friedhof saß, mein Blick starr auf den kühlen Marmor vor mir gerichtet, in den der Name meiner Mutter eingraviert war, wurde mir bewusst, dass ich vielleicht gar nicht für dieses Leben geschaffen war. Ich wollte alles auskosten, es besser machen. Leben.

Kopfschüttelnd erhob ich mich und sah nach oben. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen und die Sonne tauchte alles in ein strahlendes Gelb. Hier zu sitzen und einem Leben nachzutrauern, dass ich niemals haben würde, brachte mich nicht weiter. Ich musste nach vorne sehen, dem Leben eine neue Chance geben. Und nichts eignete sich dafür besser, als das letzte Schuljahr.

Vom Friedhof zum See war es nicht weit und bereits wenige Minuten später trat ich aus dem Schatten der Bäume, die den See zu allen Seiten umgaben. Blinzelnd hielt ich mir eine Hand vor die Augen und hielt Ausschau. Schon von Weitem konnte ich Samanthas kichern hören und fand sie und Ashley schließlich auf einem Badetuch sitzend, umringt von einer Horde Sportler vor. Offenbar genossen die beiden die Aufmerksamkeit.

Mit zitternden Händen fischte ich das Handy aus meiner Hosentasche und entsperrte das Display mit meinem Fingerabdruck. Auf dem weg hierher hatte ich Caleb eine Nachricht geschrieben, in der ich ihn bat, mich am Waldrand zu treffen.

Und wie aus dem Nichts tauchte sein Gesicht vor mir auf. Der Knoten in meiner Brust wurde bei seinem bloßen Anblick enger und ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunter. Am liebsten wollte ich dieses Gespräch auf einen anderen Tag verschieben. Einen Tag, an dem er nicht so unverschämt gutaussah und seine braunen Augen mich nicht so liebevoll musterten. Doch stattdessen nahm ich all meinen Mut zusammen und zwang mich zu einem Lächeln.

Caleb musste gespürt haben, dass etwas nicht stimmte. Denn er legte den Kopf leicht schief und sah mich argwöhnisch an. „Alles in Ordnung bei dir?"

Hunter - A fallen AngelWhere stories live. Discover now