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05. Mr. Professor

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Dieser Augenblick, wenn die Welt stehen bleibt und diese eine Sekunde in Dauerschleife abgespielt wird. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Wie kann mein entjungfernder One-Night-Stand plötzlich vor mir stehen, wenn ich ihn tausend Kilometer entfernt von hier in Kalifornien kennengelernt habe?

»Ich, ähm, ich-«, stottere ich, nachdem ich halbwegs meine eingeschüchterte Stimme wiedergefunden habe. Er schließt für einen Moment seine Augen und massiert seine Schläfen, weil ihn diese Situation scheinbar gerade genauso überfordert. Keiner von uns beiden hätte damit gerechnet, sich so schnell wieder zu sehen. Himmel, ich habe gedacht, dass ich ihn nie wieder zu Gesicht bekomme, weil ich nicht gewusst habe, dass er hier lebt. Es gibt insgesamt fünfzig Bundesstaaten und er lebt ausgerecht in meinem.

»Sag mir bitte nicht, dass du eine Studentin bist?«, fragt er unruhig, während er seinen Kiefer anspannt, weil er sich vor meiner Antwort fürchtet.

»Doch, wieso?«

»Porca miseria«, flucht er auf Italienisch und fährt sich aufgebracht durch seine dunkelbrauen Haare, die dadurch leicht verwuscheln. Er will gerade etwas erwidern, doch schließt seinen Mund und schaut sich kurz um, weil wir von unzähligen Menschen umgeben sind. Klar, es ist nicht gerade angenehm, seinem One-Night-Stand von vor wenigen Tagen gegenüber zu stehen, doch es ist auch kein Weltuntergang – zumindest nicht, solange mein Vater nichts davon mitbekommt. »Wir können hier«, fängt er an und nickt zu den ganzen anderen Studenten. ».... nicht reden«, sagt er leise.

Seine Paranoia ist nicht wirklich nachvollziehbar, weil es einfach keinen Sinn macht, wieso wir hier nicht reden können. Es kann natürlich auch sein, dass es etwas mit dem Grund zu tun hat, wieso er heute Abend hier anwesend ist. Ich bezweifle, dass er ein Student ist, denn dafür ist er wahrscheinlich zu alt. Es ist außerdem unmöglich, dass er der Vater eines Studenten ist, denn so alt ist er immerhin auch wieder nicht. Doch wenn er die Begleitung, Freund oder Ehemann von einem Anwesenden ist, würde das gerade einiges erklären, da es bedeuten würde, dass er ein elender Betrüger ist.

»Büro 132, in zehn Minuten!« Damit stürmt er in seinem schwarzen, eleganten Anzug davon und lässt mich verwirrt im Festsaal zurück. Ich überlege, ob ich ihm direkt folgen soll, obwohl er es ausdrücklich verboten hat. Allerdings habe ich bereits meinen Vater, der mich immer herumkommandiert, weshalb ich das nicht von einem fremden Mann akzeptieren werde, völlig egal, ob wir nun vor wenigen Tagen miteinander geschlafen haben oder nicht. Ich nehme also meine Beine in die Hand und verfolge ihn, damit ich dieses Büro nicht von allein finden muss. Es stellt sich heraus, dass es eine gute Entscheidung war, weil ich etliche Fluren durchqueren und ungefähr hundertmal abbiegen muss. Alles immer in sicherer Entfernung, damit er nicht bemerkt, dass ich mich unmittelbar hinter ihm befinde.

Kaum haben wir den Bereich der Büros erreicht, hört er allerdings meine klackernden Absätze. Er schnalzt mit seiner Zunge und kommt mir entgegen, um mich dann in eins der Büros zu zerren. »Du kannst aber auch nicht hören, oder?«, fragt er unzufrieden und vergewissert sich, dass uns niemand zusammen gesehen hat.

»Ich werde dir doch nicht gehorchen, nur damit dein falsches Spiel nicht auffliegt!«, erwidere ich anklagend, weil ich mich auf die Idee eingeschossen habe, dass er in einer festen Beziehung ist.

»Wie bitte? Wovon redest du?«, fragt er verwirrt, kann meiner Anschuldigung ganz offensichtlich nicht folgen.

»Na, weil du mit mir fremdgegangen bist und nicht willst, dass es herauskommt.«

»Merda«, sagt er genervt, während er seine Augen verdreht, und schüttelt dann an meinen Schultern. »Ich bin einer der Professoren!«, flucht er.

Auch wenn ich alles gehört habe, will ich diese Worte nicht verinnerlichen. Es fühlt sich an, als wäre ich gerade im falschen Film. Ich schließe für einen Moment meine Augen und kneife sicherheitshalber in meinen Arm, um aufzuwachen. Doch als ich diese wieder öffne, steht er noch immer vor mir und sieht mich ernst an. Nun ist klar, weshalb er vorhin so dermaßen besorgt war, dass uns jemand zuhört. »Oh«, hauche ich sprachlos, weil ich nicht weiß, was ich sonst von mir geben soll.

Craving Life - Begehrt (Wattpad@Piper)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt