2. Oktober 1940

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So schlagartig das Kokettieren zwischen den Pariser Damen und den deutschen Soldaten eingesetzt hat, so jäh hat es auch wieder ein Ende genommen. Mit den ersten Herbstblättern kamen die ersten Repressalien und Einschränkungen. Im August begann alles noch mehr oder weniger harmlos; für Rachelle und mich damit, dass wir eines Tages unsere beiden Briefe, die wir am 31. Juli an unsere Eltern schicken wollten, im Briefkasten fanden. Auf den beiden Umschlägen prangte ein hämischer, schwarzer Stempel: INADMIS, ZONE LIBRE.

Urplötzlich war es verboten, Briefe in die unbesetzte Zone zu schicken – oder aus der unbesetzten Zone zu empfangen. Als wären wir abgeschnitten vom Rest der Welt. Rachelle und ich haben daraufhin überlegt, ob wir nicht in den Süden fahren, um unseren Eltern ein Lebenszeichen von uns zu geben, um sie wiederzusehen und sicherzugehen, dass es ihnen gut geht. Doch am 13. August verhängten die Nazis ein Einreiseverbot für Juden in die besetzte Zone. Wir wären vielleicht rausgekommen, mit Betonung auf vielleicht, aber garantiert nicht mehr rein.

Mit anderen Worten hätten wir unsere Studien an den Nagel hängen können. Diesen weiteren Triumph wollten wir den Nazis allerdings nicht gönnen. Ich bin mir sicher, dass sie früher oder später etwas gegen die jüdische Studentenschaft in Frankreich, insbesondere an der renommierten Pariser Sorbonne, unternehmen werden, schließlich geht das ja gar nicht, dass das bolschewistische, internationale Finanzjudentum die Luft an den Universitäten verpestet. Aber ich lasse mir von denen nicht meine Zukunft nehmen und solange mich kein Gesetz daran hindert, werde ich meinen Abschluss machen. Das soll mein Beitrag für de Gaulles sogenannte Résistance werden, eine weitere Jüdin mit abgeschlossenem Studium.

Aber das waren noch geradezu lächerliche Maßnahmen im Vergleich zu dem, was dann folgte. Tatsächlich lesen sich die Bedingungen des Waffenstillstands von Compiègne so ähnlich wie der Versailler Vertrag. Allerdings war im Sommer noch niemandem klar, was genau das nun für uns alle bedeuten würde.

Die Franzosen sollen die Besatzungsarmee durchfüttern und das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Franzosen für die Deutschen hungern müssen. Seit diesem Monat wird das Essen rationiert, was man sich als erniedrigende Prozedur vorstellen darf, bei der man sich jeden Tag seine Stempel abholen muss, um dann gerade so viel Essen kaufen zu können, dass man sein Essen noch für längere Zeit mit den Deutschen teilen kann. Hat der große, starke Siegfried vor wenigen Wochen noch die französischen Kinder auf den Plakaten beschützt und mit ihnen gespielt, so stiehlt er ihnen jetzt das Essen quasi aus dem Mund.

Fröstelnd laufen Françoise und ich nach der letzten Vorlesung für heute zu mir nach Hause, Yvette hat sich entschuldigt und ist irgendwo anders hingerannt. Françoise schiebt ihr Fahrrad neben sich her, aus dem Lenkrad befestigten, geflochtenen Korb ragt ein riesiger Haufen Bücher heraus. Der Herbstwind ist diesem Land in diesem Jahr besonders ungnädig gestimmt – nicht nur politische Veränderung brachte er, sondern im Moment auch klirrende Kälte, wohl ein Vorgeschmack auf das, was uns noch erwartet. Schon der letzte Winter war streng. Auch dieser scheint sich mit den Besatzern gegen uns verschworen zu haben. Dabei waren die Temperaturen vor wenigen Tagen noch sommerlich. Andererseits war das Verhältnis zwischen Besetzten und Besatzern auch etwas wärmer.

Plötzlich bleibt Françoise wie angewurzelt stehen. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie auf das Schaufenster eines Ladens vor uns, auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck entsetzten Unglaubens. Stutzend folge ich ihrem Blick – und fühle mich mit einem Mal selbst so, als hätte man mir gerade ins Gesicht geschlagen. Bilder von bellenden SA-Männern mit Knüppeln in der Hand bahnen sich mit aller Macht einen Weg in mein Bewusstsein, vor meinem inneren Auge kann ich sie sehen in ihren Braunhemden, wie sie mit hasserfüllten Mienen die Leute anbrüllen. Los, weiter, man kauft nicht bei Juden! Mir ist, als würde ich die gellende Stimme direkt neben mir hören. Eine Gänsehaut lässt mich erschaudern und wie automatisch die Arme um meinen Körper schlingen.

Von Blut und Tränen - Le Prix du Sang et des LarmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt