Ein begehbarer Weg

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»Hm«, taucht die lilafarbene Sprechblase im Chat auf. Dein Blick wandert zum Profilbild deines Gesprächspartners, auf welchem dir eine Frau mittleren Alters mit langen, braunen Haaren zulächelt. Darunter steht ihr Benutzername: ›Medium Safina‹.

»Hm?«, schreibst du schließlich zurück. Du bezahlst dieser angeblichen Hellseherin keine 6 Euro pro Minute, um von ihr ausgeschriebene Verzögerungslaute zu erhalten, wenn du sie nach einer Vorhersage fragst.

»Ich sehe eine Brücke in Ihrer Zukunft«, fährt sie fort.

Aha, denkst du du dir, wirst du unter einer Brücke enden, oder dich womöglich von einer stürzen? Du wartest zunächst ab, denn Safina lässt sich bereits ohne Nachfragen deinerseits genügend Zeit.

»Sie wissen ja, was man über Brücken sagt.«

»Natürlich«, erwiderst du. Natürlich hast du keinen blassen Schimmer, was Brücken in der Welt der Esoterik symbolisieren können oder sollen. Du schaust auf deine Smartwatch, um die Menüleiste zu aktivieren, dann verweilt dein Blick zwei Sekunden lang auf dem X-Symbol, und das Fenster schließt sich. Du bist um 36 Euro ärmer, ohne an neues Wissen bezüglich deiner Zukunft reicher zu sein.

Als du, so wie jeden Tag, die Fußgängerbrücke überquerst, die in die Neuburger Innenstadt führt, bist du dir nicht sicher, worauf du warten sollst. Ein lebensveränderndes Ereignis, eine Epiphanie, oder dein plötzliches Ableben? Es ist untypisch für dich, eine Wahrsagerin zu kontaktieren und im Nachhinein bist du dir nicht sicher, was dich dazu geritten hat. Du begegnest deiner Zukunft eigentlich mit bewusster Gleichgültigkeit. Es gibt Menschen, die in der Zukunft leben – Erfinder, Wissenschaftler, Philosophen und andere große Denker. Du allerdings gehörst zu einer anderen Gattung, nämlich den Zweiflern, den ›Overthinkern‹. Personen, die sich den Kopf über die Zukunft zerbrechen und gleichzeitig verpassten Chancen in der Vergangenheit nachtrauern, sodass sie es verpassen, im Hier und Jetzt zu leben.

Eine eisige Windböe weht dir die Haare aus dem Gesicht, und du bleibst stehen, um den Reißverschluss deiner Jacke zu schließen. Das Herbstwetter macht sich bemerkbar, und bald wird es zu kalt sein, um jeden Tag zu Fuß zu gehen. Das Monatsticket wird dich einen nicht unwesentlichen Teil deines Lohns kosten. Öffentliche Verkehrsmittel waren nie günstig, doch seitdem in der Stadt nur noch autonome E-Busse fahren, sind die Preise noch mehr angestiegen. Du fragst dich, wann die benzinbetriebenen Busse abgeschafft wurden, und kannst dich, wenn du ehrlich sein willst, nicht erinnern. Wann hast du das letzte Mal einen Busfahrer gesehen? Ist es mehr als 5 Jahre her? Nicht einmal das kannst du sicher beantworten. Dein Gedächtnis war auch schon mal besser, denkst du dir. Du könntest schwören, du wärst sogar mal intelligent gewesen, zumindest hatten das deine Lehrer immer zu dir und deinen Eltern gesagt. Jedoch war das, bevor du an die Uni kamst und dich die Erkenntnis, dass du bestenfalls durchschnittlich bist, komplett aus der Bahn geworfen hat. Es ist lange her, dass dein Bildungsweg ein jähes Ende gefunden hat, und seitdem hältst du dich mit einem Nebenjob über Wasser.

Deine Smartwatch piept, und über deine In Ear-Kopfhörer informiert MILA dich, dass du jetzt losgehen musst, wenn du es pünktlich zu besagter Arbeitsstelle schaffen möchtest. Du setzt dich in Bewegung und denkst weiter an nichts Besonderes. Dein Arbeitstag geht recht ereignislos vorüber. Du unterhältst dich mit deinen Kollegen und einigen Kunden, doch als du abends zu Hause bist, stellst du fest, dass nichts hängen geblieben ist.

Am nächsten Tag hast du nichts vor, also lässt MILA dich etwas länger schlafen. Obwohl MILA dich nie in einer Tiefschlafphase weckt, fühlst du dich beim Aufstehen erschöpft. Du meinst, gestern einen Gedanken gehabt zu haben, den du weiterführen wolltest, doch er will dir nicht einfallen. MILA hat Kaffee gekocht, und während du diesen trinkst, erzählt sie dir, wie das heutige Wetter aussehen wird, und dass du – natürlich – keine anstehenden Termine hast. Du hast allerdings zwei Nachrichten, eine von einem Bekannten, die du seit zwei Tagen ignorierst, und eine gerade erst empfangene von Dr. Spielseher bezüglich deines nächsten Termins bei ihm. Er ist dein Psychiater, und er ist einer der wenigen praktizierenden Mediziner, der tatsächlich ein Mensch ist. Ärzte, die du für physische Probleme aufsuchst, sind mittlerweile fast ausnahmslos Roboter. Diese haben sich als weitaus effizienter, genauer und verlässlicher bei der Diagnose und dem Verschreiben von Medikamenten und Therapie erwiesen und sich in den letzten Jahren mehr und mehr durchgesetzt. Den sozialen Aspekt des Berufs haben sie bis jetzt jedoch nicht ersetzen können. Du triffst dich nicht persönlich mit Dr. Spielseher, sondern unterhältst dich per Chat mit ihm, was du immens bevorzugst. Dir fällt es allerdings noch leichter, deine Probleme MILA in einem nächtlichen Anfall von Gesprächigkeit mitzuteilen, als dich ›face-to-face‹ mit einem Therapeuten zu unterhalten und dessen prüfenden Blick auf dir zu spüren. Du fühlst dich nicht verurteilt, wenn MILA dir in ihrer roboterhaften Stimme mitteilt, dass du mehrere Symptome für irgendeine depressive Störung zeigst, und sie dich fragt, ob sie Kontakt zu einem Psychologen in der Nähe aufnehmen soll. Obwohl du dies stets verneint hast, hat die elende Maschine eure Gespräche trotzdem an Dr. Spielseher weitergeleitet. Vertraue niemals einer künstlichen Intelligenz.

Ein begehbarer WegWhere stories live. Discover now