Rotkäppchen ist fort! Teil 1

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April

Es war ein kühler Frühlingsmorgen als ich Teeschlürfend auf meinem Lieblingssessel sass .Tief in meine kuschelige Tagesdecke eingewickelt, lauschte ich den ersten Vogelklängen, und sah, wie der Morgennebel langsam von den ersten Sonnenstrahlen vertrieben wurde. Ich liebe den Frühling. Er spriesst so sehr vor Leben, als hätte er nur darauf gewartet nach einem unbarmherzigen und trostlosen Winter aus seinem Versteck zu kommen, um uns mit seinen Farben und Düften und Klängen zu beleben. Und gerade dieser Morgen und dieser Tag schien mir so verheissungsvoll.

„Philippa, kannst du mir bitte meine Brille holen? Ich glaube sie liegt noch im Wohnzimmer auf der Kommode." Meine Grossmutter. Seit 3 Jahren wohne ich jetzt bei ihr. Ich brauchte eine Wohnung in der Nähe meines Arbeitsplatzes. Obwohl meine Eltern nicht mehr als 20 min. von hier entfernt wohnen, wollte ich ausziehen. Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Klar, die Grossmutter ist ja auch wieder eine Mutter, eine Verwandte, aber hier ist es anders. Ich wollte nicht alleine wohnen, und Grossmama brauchte eine Unterstützung im Haushalt. So hat es sich für uns beide gut ergeben.

Im Dorf werde ich deswegen „Rotkäppchen" genannt. Und zu allem Überfluss besitze ich tatsächlich einen roten Mantel mit Kapuze, den ich total gerne trage, obwohl er schon recht abgenutzt ist. Ok, ich bin mir nicht sicher wie gerne ich ihn noch trage, sagen wir, ich habe mich an den Mantel gewöhnt. Ohne ihn fühle ich mich nackt. Sogar im Sommer ertappe ich mich dabei, wie ich hilflos den Saum meines Mantels suche. Er gibt mir irgendwie halt.

„Also, bis dann, Grossmama. Ich muss zur Arbeit." Nach ihrem ‚Tschüss' tauchte ich in die frische Morgenluft hinein. Arme Grossmama. Seit etwa 3einhalb Jahren ist sie Witwe, und sie scheint sich einfach nicht davon zu erholen. Bevor ich einzog fing sie an alles Mögliche zu sammeln. Leere Plastikflaschen, Zeitungsartikel, Plastiksäcke, Figuren, Glasflaschen , Kerzen, Esswaren und allerlei Krimskrams. Bevor sie sich total zugemüllt hat bin ich eingezogen. Ich glaube es geht ihr besser dadurch, aber ich bin mir fast sicher, dass sie sofort wieder damit anfängt sobald ich ausgezogen bin. Glücklicherweise besteht zurzeit kein Anlass dazu.

Vielleicht war Grosspapa wirklich Grossmamas grosse Liebe, und sie kommt deshalb nicht über ihn hinweg. Oder sie hat sich so sehr an ihn gewöhnt und ihr Leben auf ihn ausgerichtet, dass es für sie schwer vorstellbar ist, ein Leben ohne ihn zu führen. So wie ich und mein Mantel. Ich bleibe aber lieber bei der Vorstellung von der wahren Liebe. Denn ich bin Romantiker.

So, jetzt bin ich endlich da. Am Arbeitsplatz. Ich kann nicht behaupten dass ich eine Workaholikerin bin. Im Gegenteil. Ich liebe es irgendwo zu verweilen, mich in kleine Dinge zu vertiefen und einfach zu sein. Ach, wär ich nie erwachsen geworden!

Ich finde das Leben als Erwachsener schwer. Ständig müssen Entscheidungen getroffen werden, ständig muss man an was denken, ständig ist man unter Druck. Als Kind konnte ich mich einfach im Moment verlieren, ich musste an nichts denken; zumindest solange nicht, bis ich eingeschult wurde.

Ich arbeite zurzeit in einem kleinen Spezialitätengeschäft. Es sind vor allem Lebensmittel die wir verkaufen. Es ist nicht das, was ich mein Leben lang tun möchte, aber ich habe mein Ding einfach noch nicht gefunden in der Welt. Ich finde das total schwierig. Wieder so eine Unart des Erwachsenwerdens. Ich mag es gar nicht wirklich zu arbeiten. Ich bin wohl ziemlich faul. Ausser etwas gefällt mir sehr, dann kann ich sehr effizient sein. Es ist aber auch schwierig überhaupt Arbeit zu finden. Es kommt mir vor, als würden die Ansprüche und Anforderungen jedes Jahr steigen, und ich bin mir nicht immer sicher, ob ich diesem Druck gewachsen bin. Aktuell hab ich noch keine richtige Ausbildung absolviert. Ich hab ein paar Praktikum und Kurse besucht. Mal mit Kindern, mal was Gestalterisches, mal mit älteren Menschen.

Rotkäppchen ist fort!Where stories live. Discover now