Kapitel 13

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Die nächsten Wochen zogen ohne Zwischenfälle vorüber. Je näher der Herbst und Winter und damit das Ende der Bauzeit rückte, desto geschäftiger wurde es im Lager. Obwohl die Tage kürzer wurden, wollte Carson die tägliche Arbeitszeit der Gleisbauer so lange wie möglich ausdehnen, um bis zum Wintereinbruch North Platte zu erreichen, wo er mit den Arbeitern überwintern wollte. Ich hatte mir noch keine Gedanken darüber gemacht, wie und wo ich den Winter verbringen würde. Während des Sommers war mir das alles wie ein großes Abenteuer erschienen - das freie Umherstreifen in der Prärie, die Arbeit mit den Pferden. Doch würde ich bei Schnee und Kälte mehrere Monate auf engstem Raum mit tausenden von Arbeitern verbringen wollen, die nichts zu tun hatten, außer zu trinken und dem Glücksspiel zu frönen?

Seit einigen Tagen weilte ein Fotograf im Lager, der die Fortschritte der Gleisbauarbeiten dokumentieren sollte. Seine Name war Horace Nightingale. Ich beobachtete ihn gern aus der Ferne dabei, wie er seine Kamera aufbaute, eine Gruppe von Arbeitern ablichtete und anschließend mit dem Oberkörper unter einem schwarzen Vorhang vor einem großen Kasten verschwand. Das war sein transportables Dunkelzelt - eine geniale Erfindung, um selbst auf Reisen und ohne Studio die empfindlichen Fotoplatten sofort entwickeln zu können.

Er hatte rotblondes Haar und Bart und war elegant, aber praktikabel gekleidet. Carson behandelte ihn respektvoll und hatte ihm sogar ein eigenes Abteil in einem Waggon als Unterkunft zur Verfügung gestellt. Dennoch schien der Mann sich gerne unter den Arbeitern aufzuhalten und war sich nicht einmal zu schade, mit ihnen zusammen zu essen. Ich hatte über mehrere Ecken gehört, dass Mr. Nightingale ein „Indianerfreund" zu sein schien, wie Nelson es abfällig nannte. Er war angeblich schon bei vielen Stämmen zu Besuch gewesen und hatte diese abgelichtet. Ich hätte mir zu gern einmal die Fotografien angesehen.

Als Bird und ich eines Abends zum Lager zurückkehrten, trug die mittlerweile herbstlich kühle Brise den Duft nach gebratenem Fleisch zu uns heran. Die Jäger der Union Pacific hatten Büffelfleisch mitgebracht und der Koch bereitete zum Sonntag ein Festmahl für die Arbeiter zu. Er hatte ein großes Lagerfeuer entfacht, über dem Fleischstücke am Stock geröstet wurden. Entsprechend gehoben war die Stimmung unter den Männern. Auch ich hätte mich über die Abwechslung auf unserem Speiseplan gefreut, wenn mir nicht der Anblick der abgeschlachteten Büffel, die wir vor einigen Wochen gefunden hatten, noch allzu gut im Gedächtnis gewesen wäre.

Bird und ich versorgten unsere Pferde und stellten sie zu den anderen. Wir hatten heute nichts Ungewöhnliches gefunden und konnten somit auf einen ruhigen Abend hoffen. Stu winkte uns und kam auf uns zu. Er hatte Birds Position als leitender Cowboy übernommen und scherzte immer, dass er Rattler jetzt endlich herumkommandieren konnte.

„Hey, ihr kommt gerade rechtzeitig", rief er. „Ich soll euch ausrichten, dass Mr. Nightingale euch heute zum Dinner in seinem Waggon einlädt."

Ich wechselte erstaunt einen Blick mit Bird.

„Uns?", fragte ich.

Stu hob seinen Hut und wuschelte sich durchs Haar. „Ja. Offenbar hat Carson ihm erzählt, dass ihr unsere Kundschafter seid und Mr. Nightingale wollte euch ... dich gerne kennenlernen", sagte er mit einem vorsichtigen Blick auf Bird.

Bird runzelte die Stirn. „Was will er von mir?"

„Ich weiß es nicht", sagte Stu. „Aber er ist ein anständiger Kerl. Ich habe mich auch schon mit ihm unterhalten."

Bird zögerte noch immer, doch dann siegte vermutlich die Neugier über sein natürliches Misstrauen. Wir wuschen uns Gesicht und Hände und klopften den Staub von unserer Kleidung. Mehr konnten wir in der kurzen Zeit nicht tun, um uns zurechtzumachen, und Mr. Nightingale würde wohl damit vorlieb nehmen müssen, wenn er uns einlud.

Der Wind des WestensWhere stories live. Discover now