2. Wer braucht denn eine KI im Auto?

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Es war furchtbar früh am Morgen, als ich das Waisenhaus verliess. Gab schliesslich keine Hausordnung, die das frühe Ausgehen verbot. Eigentlich mochte ich es nicht, früh aufzustehen, aber ich hatte keine Lust, das gleiche Theater wie gestern über mich ergehen zu lassen. Schlussendlich war ich mit einem blauen Auge davongekommen, da sie mich nur unter die Dusche geschubst und das Wasser aufgedreht hatten. Ich hatte sowieso noch baden wollen, zwar nicht in voller Montur, aber ich hatte ja zum Glück auch was anderes zum Anziehen. Ausserdem hätte mein Kapuzenpulli sowieso noch gewaschen werden sollen.

Heute, zu dieser Uhrzeit an einem Sonntag, waren die Strassen wie ausgestorben. Eigentlich war ich ganz froh darüber. Auf dem Weg Richtung Central Park staubte ich ein paar Donuts ab, die aber nicht lange überlebten. Donuts waren das Beste auf der Welt, jedenfalls meiner Meinung nach und das nicht nur zum Frühstück. Ich holte ein Buch hervor, das ich gerade erst aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, und setzte mich in den Schatten eines Baumes. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich das Buch zuklappte und mich auf den Rückweg machte. Da ich es fertig gelesen hatte, machte ich einen kleinen Umweg und gab es gleich zurück. Da ich ausserdem an meiner Lieblingsbuchhandlung vorbei kam, schaute ich prompt hinein. Natürlich gab es unglaublich viele Bücher, die ich gerne mitgenommen hätte, aber ich hatte nicht mehr genug Geld dafür. Vielleicht hätte ich einen Donut weniger kaufen sollen. Oder zwei. Der Verkäufer Mr. Brunnel kannte mich schon und lächelte mir zu, als ich mich mit einem ganzen Stapel in einer Ecke verzog, um mich zu entscheiden, welches ich bei meinem nächsten Besuch wohl mitnehmen sollte. Das Problem dabei war, dass sie auch noch gerade Ausverkauf hatten. Während andere ganz aus dem Häuschen bekam, wenn wieder Final Sale bei H&M war, konnte ich mich nicht zurückhalten, wenn ein Bücherladen wieder einmal sein Lager leerte und alles zum halben Preis verscherbelte.
Ich seufzte, konnte mich absolut nicht entscheiden, da jedes einzelne Buch seinen ganz eigenen Reiz hatte und ich irgendwie keines zurücklassen wollte. Wahrscheinlich musste ich wieder irgendwelche Hunde Gassi führen, um an das Geld zu kommen. Bedauernd legte ich den Stapel wieder zurück, versteckte aber die Bücher, die ich haben wollte, also so etwa alle, unter ein paar anderen, damit sie nicht allzu schnell ausverkauft sein würden. Ich schenkte Mr. Brunnel ein letztes wehmütiges Lächeln, dann verschwand ich aus dem Laden und trat hinaus in die Nachmittagssonne, nur um gegen Tony Stark zu prallen. Mein erster Gedanke war natürlich: «Oh mein Gott, er weiss, wer ich bin!», dann fiel mir auf, dass er den Anzug nicht trug und sich auch keinen Deut um mich scherte. Er stiefelte einfach weiter und mitten in den Laden hinein. Ein Mann in schwarzem Trenchcoat und mit einer Augenklappe folgte ihm. Ich blieb verwundert stehen. Iron Man und der Zyklop. Das wäre doch ein gelungener Titel für eine Komödie.
Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich ihnen nicht hinterherspionieren wollte, warf einen Blick zurück, sah zu, wie sich die beiden seltsamen Gestalten angeregt mit Mr. Brunnel unterhielten, der den Zyklopen überraschenderweise beinahe so behandelte, als wäre er sein Chef, aber dann entschied ich mich dagegen. Ich wollte mich schliesslich nicht verdächtig machen.

Langsam stieg ich also die Stufen zur Strasse hinunter und grübelte darüber nach, was ein milliardenschwerer Geschäftsmann und ein Zyklop wohl in einem Buchladen wollten. Konnte man mit einem Auge eigentlich vernünftig lesen? Wahrscheinlich schon. Es war ja nur das dreidimensionale Sehen beeinträchtigt, so viel ich wusste, jedenfalls. Ich stellte mich an die Strasse und wartete, bis ein Auto stehen blieb und mich durchliess. Genervt geduldete ich mich noch weiter und verfluchte leise den New Yorker Verkehr. Ich bemerkte erst, dass das Auto, von dem ich gedacht hatte, dass es an mir vorbeiziehen wollte, eigentlich auf einem Parkplatz am Rand der Strasse stand, als ein Mann neben mir einfach die Strasse überquerte, so sehr war ich in Gedanken über mögliche Gründe für den Buchladenbesuch von Stark und dem Zyklopen versunken. Verwirrt sah ich das Auto an. Natürlich fuhr es nicht. Ich hoffte, dass mich niemand gesehen hatte, denn es war ziemlich peinlich, vor einem offensichtlich geparkten Wagen zu stehen, den Verkehr zu verfluchen und darauf zu warten, dass es wegfuhr. Das Nummernschild schrie «Stark» in die Welt hinaus. Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Schliesslich war der Superheld für die Liebe zu extravaganten Autos bekannt. Und der Wagen war nicht wirklich unauffällig.

Stark Chronicles: First TryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt