4. Kometen schlagen ein

65 10 5
                                    

In den nächsten Tagen funktionierte ich wie eine Maschine. Es war als wandelte ich gefühllos durch die Stunden, ging zur Arbeit, kochte, wusch und kümmerte mich nur distanziert um Julians Wohlbefinden - das seiner Schwester entglitt mir hingegen vollkommen. Ich fühlte einfach nichts, nach diesem Moment in der Küche. Und doch zugleich alles, was es gab. Dieses Ereignis schlug in mir, in meiner Welt ein, wie ein ganzer Kometensturm, hinweg durch die Oberfläche und fraß sich tief ins Innere. In meine Gedanken, meinen Kopf. Warum? Ich konnte es schlichtweg nicht auf sich beruhen lassen, es vergessen. Denn es war nicht mehr unwichtig - sie hatte damit eine unsichtbare Grenze überschritten, unsere stumme Vereinbarung gebrochen. Wahrscheinlich war es dieser Verrat, der so an mir nagte. Aber ich konnte nicht einfach, musste daran denken, denken, denken. Dabei wirkte sie nicht als hätte es weitere Bewandnis: nein, sie verhielt sich als wäre gar nie etwas passiert! Kehrte zurück zu ihrer kalten Ausstrahlung, vergrub sich in unserer alten Besenkammer und hielt immer eines ihrer Bücher in den Händen. Also versuchte ich schließlich, sie auch zu ignorieren. So wie immer, so wie es normal zwischen uns war. Als hätten sich unsere Welten nie berührt, als wären sie nie mit einem lauten Knall zusammen gekracht. Und irgendwie, ich weiß nicht wieso, missfiel mir das.

Es verging immer mehr Zeit, in der wir zusammen lebten. Irgendwann konnte ich die Tage nicht mehr zählen. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag … Immer lief alles gleich ab. Zusammen essen, abräumen und sie war verschwunden. Manchmal redete sie kurz mit Julian, aber ich hörte weder zu, noch sah ich sie überhaupt an. Wir hatten uns arrangiert mit einander, zumindest irgendwie. Sie hatte wieder ihr Leben und ich meines.
Umso überraschter und geradezu aufgewühlt war ich, als sich unsere Wege unvermittelt wieder kreuzten; es war an einem Freitagnachmittag, ungefähr zwei Wochen nach ihrer Ankunft. Ich saß im Wohnzimmer, Skizzenblock auf dem Schoß, Stift in der Hand und arbeitete an neuen Entwürfen. Eigentlich tat ich dies immer im Büro, wo ich genug Platz und Ruhe hatte, aber an diesem Tag hielt ich es dort nicht mehr aus. Brachte keinen Bleistiftstrich zustunde. Und hier, auf meiner geliebten Couch, war es leider nicht anders. Meine Gedanken schwiffen ab, zu Julian, unserer Beziehung, zu dem was ich wollte. Aber dann kam sie und zerstörte die Luftschlösser, die ich mir aufgebaut hat. Ich hörte eine Tür ins Schloss fallen und sah erschrocken auf. Sie war aus ihrer Kammer gekommen. Und sie musterte mich, unschlüssig, stand mitten im Raum. Rechnete nicht damit, dass ich schon hier war. Keiner von uns beiden sagte etwas. Es war unnötig, das offensichtliche auszusprechen - jeder von uns wollte, dass die andere verschwindet. Oh ja, wie sehr ich das doch gewollt hätte.
»Willst du auch eine Cola?«
Ihre Stimme weckte mich erneut aus meinen Gedanken, mit all ihrer Frostigkeit. Überrascht schüttelte ich den Kopf. Sie tat es schon wieder!
»Nein danke.«
Meine Antwort ignorierend stolzierte sie also weiter zur Küche, ich hörte die Kühlschranktür auf und zu schlagen. Inzwischen saß ich ganz verkrampft, umklammerte meinen Stift und war verloren in meinem Karussel aus Gedanken und Empfindungen. Warum zum Teufel tat sie das? Warum brach sie unsere Regeln? Dabei musste sie doch wissen, was sie damit anrichtete. Idiotin. Ich hörte ihre tappsenden Schritte auf den Dielen, während sie zurück kam. Ins Wohnzimmer. Zu mir. Die Getränkedose locker in der Hand schlenderte sie auf mich zu, setzte sich auf die andere Seite des Sofas. Sie setzte sich! Schnell starrte ich wieder auf das Blatt vor mir, begann mit unnötigen Strichen und Schraffierungen, um etwas zutun zu haben. In meinem Kopf kreiste nur eine Erkenntnis: Sie ist hier. Sie ist hier. Sie ist hier! Ich schluckte. Alles in mir sträubte sich, die Kometen schlugen überall ein in meinen Körper.
»Was ist das?«
Das Mädchen mit den eisblauen Augen beugte sich herüber und begutachtete die Zeichnung auf meinem Schoss. Ich atmete tief durch, suchte vergeblich nach meiner Stimme, nach Worten, die ich sagen konnte.
»Es … es ist ein Entwurf. Für ein Kleid«, krächzte ich schließlich. Und ich wollte, dass sie ging. Jetzt sofort. Sie hatte kein Recht, sich in meine Arbeit einzumischen. Mit mir zu reden. Überhaupt hier zu sein. Bitte geh, geh, geh!
»Schön.«
Ein Wort, ein simpler Atemzug der meine Seifenblase der Verzweiflung zum Platzen brachte. Ich sah hoch, in ihr Gesicht.
»Was?«
»Es ist schön«, wiederholte sie ungerührt.
»Ich mag es.«
Sie öffnete ihre Dose und nahm einen Schluck Cola. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie falsch lag. Dass dieser Entwurf nur halbherzig gezeichnet war und grausig wirkte, dass ich kaum über dieses Kleid nachgedacht hatte. Aber ich konnte nicht. Meine Kehle war wie zugeschnürrt. Also starrte ich wieder aufs Blatt, die schwarze Silhouette, den fein gezeichneten gerafften Stoff. Und plötzlich musste ich Lächeln - die Kometen in mir schienen jetzt geradezu zu tanzen.
»Danke«, sagte ich halblaut.
»Das freut mich.«

Die Entdeckung der WeltWhere stories live. Discover now