#14 - Außergewöhnlich Wertvoll

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LOUISA

Sie hatte aufgehört, die Tage zu zählen. Aufgehört, sich Sorgen zu machen. Vergessen, was ihr ursprüngliches Ziel war. Nick und sie hatten seit langem nichts Neues mehr herausgefunden und sich länger nicht mehr in der Bibliothek getroffen. Seit Tagen konzentrierte sie sich auf ihr Training und sie spürte, wie sie von Tag zu Tag besser und stärker wurde. Manchmal vergaß sie, dass ihre Mutter grausame Menschenexperimente durchführte. Manchmal vergaß sie, dass das Militär mit St. Cloud zusammen arbeitete. Manchmal dachte sie darüber nach, einfach in Minneapolis zu bleiben und ihr Leben hier zu verbringen. Es fühlte sich schon beinahe richtig an, als würde sie hier hingehören. Das wäre so einfach. Doch dann erinnerte sie sich an ihr eigentliches Ziel.

Unaufhörlich schlug sie auf den Sandsack ein und ihre Schläge waren kräftig und sauber. Plötzlich flog die Tür zur Trainingshalle auf und Louisa hob den Blick.

Leutnant Travis Blackstone betrat die Halle, gefolgt von einer kleinen Einheit junger Soldaten.

"Das sind die aus dem letzten Jahr der Ausbildung", flüsterte John, der sich neben sie gestellt hatte und Leutnant Travis Blackstone salutierte. Louisa tat es ihm gleich, auch wenn es ihr nicht besonders gefiel. Sie mochte diese strenge Hierarchie nicht, dieses System, mit dem man andere Menschen kontrollieren konnte. Auch in St. Cloud hatte sie das System infrage gestellt. Wieso waren die Menschen aus der dritten Ebene so viel besser als die aus der ersten Ebene?

"Rührer", sagte Travis desinteressiert. "Was meinen Sie, Morgan, ist Ihre Schülerin bereit für einen vernünftigen Kampf? Schließlich hatte sie jetzt genug privates Training." Seine Augen funkelten gierig, als er auf Louisa hinabsah.

Louisa hatte Leutnant Travis Blackstone schon einige Male beobachtet und wusste, dass er ein "Nein" nicht akzeptiert hätte. Wenn Travis zum Kampftraining ging, dann wollte er Blut sehen. Und diesmal war es wohl Louisas Blut, welches er sehen wollte.

"Denk dran: sei schnell und finde seine Schwäche", flüsterte John ihr noch zu, bevor sie in den Ring stieg. Sie konnte Johns Blick im Rücken spüren, als sie sich kampfbereit aufstellte und ihre Arme in Position brachte. Der junge Mann gegenüber ihr war breit gebaut und etwa einen Kopf größer als sie. Er sah sie mitfühlend an, doch Louisa wusste, dass er sie nicht gewinnen lassen und nicht verschonen würde. Sie umkreisten sich einige Male mit großem Abstand. Louisas Blick flog zu Travis, der den Kampf amüsiert beobachtete, dann zu John, der sie mit sorgenvollem Blick musterte.

Sie blickte zurück zu ihrem Gegner, sah den Schlag im letzten Moment noch kommen und duckte sich unter ihm weg. Louisa hielt einen sicheren Abstand ein, bis sie sich in eine Ecke drängen ließ.

"Nicht so passiv, Griffin!", rief jemand aus den versammelten Zuschauern. Sie lachten, doch Louisa ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Erneut griff ihr Gegner an und Louisa schaffte es, den starken Schlag abzublocken, wurde jedoch direkt vom nächsten Schlag links erwischt und ging zu Boden. Benommen blieb sie einige Momente liegen, nach Luft schnappend.

"Komm schon, Lou." Johns Stimme drang zu ihr durch und sie sah ihm in die Augen. Es dauerte einige Momente, bis sie sich wieder orientieren konnte. "Er strafft vor jedem Angriff die Schultern. Du musst schneller sein", flüsterte er und trat wieder zurück. Louisa hievte sich wieder auf die Beine, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und stellte sich kampfbereit auf. Sie fokussierte ihren Gegner, sah, wie er die Schultern straffte. Louisa duckte sich, schnellte vor und schlug mit aller Kraft in Richtung der Kehle ihres Gegners. Dieser taumelte zurück und hustete. Sie ergriff die Chance und stürzte sich auf ihn, schlug links und rechts, bis ihr Gegenüber zu Boden ging und Travis' Trillerpfeife den Kampf beendete. Louisa keuchte, wischte sich das Blut aus den Augen. Ihr Gegner kam wankend auf die Beine und starrte sie wütend an. Sofort hob Louisa die Hände, um einen weiteren Angriff abwehren zu können. Doch ihr Gegenüber nickte ihr nur ehrfürchtig zu. Louisa nickte respektvoll zurück und kletterte aus dem Ring.

"Guter Kampf, Griffin", lobte Leutnant Travis sie grinsend. "Gehen Sie sich umziehen. Der Colonel möchte mit Ihnen sprechen. Er wartet in seinem Büro."

Mit diesen Worten wandte sich Travis ab und stolzierte davon.

"Ich denke, ich sollte mich beeilen", meinte Louisa an John gewandt, der vor den Umkleiden auf sie gewartet hatte. Louisa hatte schnell geduscht und sich frische Klamotten angezogen. Die Wunde an ihrer Wange brannte zwar noch, blutete aber nicht mehr.

John lehnte an der Wand und betrachtete sie.

"Du hast wirklich gut gekämpft." Er lächelte und zog Louisa zu sich ran.

"Ich habe einen guten Trainer", entgegnete sie und sah zu ihm auf. Seine warmen Hände fuhren ihre Taille entlang und er zog sie noch ein wenig näher. Es war, als hätte jemand ein kleines Feuer in Louisas Herzen entfacht, als sie in seine warmen, braunen Augen blickte. Doch sie löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück.

"Ich sollte den Colonel nicht warten lassen", meinte sie und sah John ein wenig traurig an. Doch er nickte verständnisvoll.

Vorsichtig trat sie in das Büro des Colonels ein. Ihr erster Blick fiel auf den Bärenkopf an der rechten Wand. Ihr zweiter Blick auf die breite Gestalt des Colonels, der sich gemütlich in einem schwarzen Sessel zurücklehnte. Louisa fiel auf, dass sie seinen Namen gar nicht kannte. Überall wurde er nur "der Colonel" genannt. Ihr machte der Mann irgendwie Angst. Man konnte gut erkennen, wie viel Kraft hinter seinen breiten Schultern steckte. Sein Gesicht und Kopf waren von Narben überzogen. Am unheimlichsten fand Louisa jedoch die verschiedenfarbigen Augen, die einen so durchdringend ansahen, als würden sie direkt in die Seele schauen können.

Leutnant Travis Blackstone trat hinter ihr in den Raum und schloss die Tür. Louisa schluckte nervös.

"Louisa Griffin", sagte der Colonel langsam und er ließ sich den Klang ihres Namens auf der Zunge zergehen. "Setz dich doch." Seine Stimme war freundlich, was Louisa noch mehr verunsicherte.

Sie befolgte die Anweisung und setzte sich auf den zweiten schwarzen Ledersessel. Ein kleiner Glastisch stand zwischen ihr und dem Colonel, darauf zwei Gläser. Der Colonel nahm eine Flasche Whisky und füllte ihn in die Gläser.

"Trink", befahl er mit rauchiger Stimme. Mit zitternden Fingern griff Louisa nach dem Glas und nahm zögernd einen kleinen Schluck. Sie unterdrückte ein Husten und stellte das Glas zurück auf den kleinen Tisch.

"Louisa Griffin", wiederholte er und musterte sie. "Ich weiß, wer du bist. Und ich weiß, wer deine Mutter ist." Louisas Magen zog sich krampfhaft zusammen, sie versuchte, keine Emotionen zu zeigen. Sie wusste, dass ihre Herkunft kein Geheimnis bleiben würde. Ohne etwas zu sagen, starrte sie den Colonel an. "Ich weiß auch, weshalb du verbannt wurdest", fügte er hinzu.

"Ich ..." Louisa versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. "Ich weiß nicht, was dort in St. Cloud vor sich geht, das schwöre ich. Ich habe nichts gesehen."

Der Colonel bedeutete Travis, er solle den Raum verlassen und wandte sich wieder an Louisa, als sie nur noch zu zweit waren. Louisa wurde schlecht. Würde er sie jetzt umbringen? Oder schlimmer noch?

"Nein, das weißt du wirklich nicht", flüsterte er und beugte sich ein Stückchen zu ihr vor. Seine Stimme klang teils bedrohlich, teils amüsiert. "Aber das möchte ich dir jetzt erzählen."

Irritiert starrte Louisa ihm in die verschiedenfarbigen Augen.

"Es ist eigentlich lustig", begann er. "Seit Jahren suchen wir nach einem Gegenmittel oder einem Hemmungsmittel gegen den Virus, dabei war es die ganze Zeit vor unserer Nase."

"Was meinen Sie, Colonel?" Louisa hatte zwar Angst, doch jetzt hatte sie die Möglichkeit, alles herauszufinden. Jetzt hatte sie die Chance, die Puzzleteile zusammenzusetzen.

"Als du hier ankamst, haben wir dir eine Blutprobe entnommen, erinnerst du dich?" Louisa zögerte und fasste sich an den Nacken, wo sie den kleinen GPS Chip fühlte, dann nickte sie. "Seit Jahren versuchen wir, die Skrim zu zähmen und frisch angesteckte Menschen zu heilen. Und jetzt haben wir herausgefunden, dass dein Blut der Schlüssel zu unserem Erfolg ist." Der Colonel senkte die Stimme und lehnte sich vor. "Irgendetwas in deinem Blut tötet beziehungsweise hemmt den Virus. Du bist gegen ihn immun." Louisa zitterte und versuchte krampfhaft, das Wippen ihres Beins zu unterdrücken, während sie den Colonel anstarrte. "Und das, meine Liebe, macht dich außergewöhnlich wertvoll."

Der Tag An Dem Wir StarbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt