25.2 Ktíni - Bestien

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„Jetzt halt den Mund und lauf!", schrie Lyra sie an, ihr Dolch wie ein mahnender Finger vor sich gehoben. „Ich weiß, wie ich diese Klinge nutze, also reiz mich nicht."

„Tu es doch", erwiderte ihre Schwester katatonisch. „Dann ist es vorbei."

„Streitet später", brüllte Aineas mit solch einer Wucht in der Stimme, dass Eos für einen Moment zu atmen vergaß. Es hatte beinahe etwas Beruhigendes an sich. Aineas' Wut stand im Gegensatz zu Eos' Furcht und vielleicht war es die Kombination beider Dinge, aber Eos fühlte sich besser. Sicherer. Er könnte später seinen Gefühlen erliegen. In diesem Moment war das nicht wichtig.

Lyra blickte den Jungen irritiert an, dann nickte sie verhalten. „Du hast Recht. Los!" Sie stieß Medeia an, damit sie loslief und dieses Mal protestierte das Mädchen nicht, sondern ließ das Echo ihrer Schritte mit denen von Aineas und Calypso verschmelzen.

Kaum waren sie allerdings losgerannt, erschien das Verderben hinter ihnen. Der Minotaurus schnaufte und derselbe widerwärtige Luftzug durchzog den Steingang, ließ Eos innerlich verrotten. Mit einem Schritt seines massiven, behuften, haarigen Beines ließ es die Erde erzittern, mit dem nächsten ließ es den Himmel zerbrechen. Zwei gierige, blutrünstige Augen funkelten durch den von der Decke rieselnden Staub zu ihnen herüber, Geifer tropfte von den spitzen Reißzähnen. Das Feuerlicht ließ die Hörner auf dem Haupt des Untiers wie die Klingen von Schwertern wirken; bereit, ihre Körper zu zerfetzen und ihr Fleisch zu zerreißen. Mit klauenbesetzen Pranken griff es nach einer der Steinsäulen und zerquetschte sie wie einen dünnen Ast, ließ Geröll zu Boden krachen und ganze Wolken aus Staub durch die Welt fegen.

Ein Atemzug des Minotauren war stark genug, dass er Eos und die anderen Kinder vom Wegrennen hinderte, das Ausblasen der Luft hingegen ließ sie straucheln; dieses Mal verlor Lyra mit einem spitzen Schrei das Gleichgewicht.

„Er hat mich eingeholt", konnte Eos die Stimme von Medeia hören, allerdings war er sich überhaupt nicht mehr sicher, von wo sie kam. „Ich bin mit dem Leben geflohen, aber eine Beute lässt er nicht entkommen." Sie wimmerte.

„Du bist ihm begegnet?", schrie Lyra panisch und rappelte sich auf. Ihr Gewand war an den Knien blutig.

„Nicht die richtige Zeit!", erinnerte Aineas sie.

„Richtig!" Lyra packte ihren Dolch fester. An weglaufen war nicht mehr zu denken. Der Minotaurus hatte sie eingeholt, starrte sie mit seinen hungrigen Augen an und er würde sie nicht gehen lassen.

Eos packte die kalte Angst im Angesicht des Ungeheuers des Labyrinthes. Die Geschichten machten dem Untier zwar alle Ehre, doch sie konnten die furchterregende Realität, die der Minotaurus war, nicht einfangen. Es war viel schlimmer, als er es sich je vorgestellt hatte. Es war, als wäre der Tartarus entzweigebrochen und hätte diese Abscheulichkeit geboren. Dichtes, schattenschwarzes Fell bedeckte den Körper der Monstrosität und schon bald würde es mit dem frischen, roten Blut seiner Opfer verschmiert sein. Der Junge konnte beinahe vor seinem Auge sehe, wie der Minotaurus mit seiner riesenhaften Pranke nach einem von ihnen greifen würde. Die schiere Kraft hinter seinem Griff würde ausreichen, damit ihre Rippen brechen und ihre Körper zerquetscht würden, noch bevor das Untier überhaupt zudrücken konnte. Es musste sich nicht anstrengen, um sie zu töten. Sie waren wie Fliegen vor der Katze; leichte Beute, nichts weiter als ein kleiner Happen. Sein Hunger würde nicht gestillt werden. Der Minotaurus würden brüllen und wüten während er sie einen nach dem anderen verspeisen würden.

Angstschweiß tropfte ihm von der Stirn, als die Hoffnung seinen Kopf durchfloss, dass er der erste sein würde, der dem Monster zum Opfer fiel. Wenn er tot war, müsste er nicht mitansehen, wie Calypso auseinandergerissen werden würde. Er müsste nicht sehen, wie der Minotaurus Lyras Versuche zu kämpfen unter seinen Hufen begrub. Er würde Medeias erstickten Schrei nicht hören, während das Untier ihr den Schädel zerdrückte –

LavýrinthosWhere stories live. Discover now