23.1 Mystikó - Geheimnis

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„Medeia", sagte der Junge erneut. „Du bist endlich wach." Er klang erleichtert.

Der Wunsch, sich aufzurichten und etwas zu erwidern ging in einem klägliche Husten unter. Die Luft brannte in ihrer Lunge und als Medeia versuchte, den Atem lang genug anzuhalten, damit sie sich wieder daran gewöhnte, kam ihr die Galle in einem widerlichen Schwall hoch. In einer schnellen Bewegung drückte sie den Kopf von Aineas weg und spuckte auf den Boden.

Die Erinnerung an Alekto kamen genau so rasant in ihr auf, wie ihre Magenflüssigkeit, die nun den Stein bedeckte. Eine der Erinnyen hatte versucht, sie von Aineas töten zu lassen und als das gescheitert war, war sie auf die mentale Folter übergestiegen. Noch immer schmeckte sie die dunklen, schweren Haarsträhnen in ihrem Mund und konnte die weißen Augen der Raben vor sich sehen, die sie durch die Dunkelheit hinweg anstarrten. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich vor Ekel und Angst zu schütteln.

„Wie geht es dir?", fragte der Junge neben ihr vorsichtig, doch an seiner matten Stimme erkannte sie bereits dass er sich der überflüssigen Frage durchaus bewusst war und sie lediglich der unangenehmen Stille wegen stellte. „Hier, trink etwas." Er drückte ihr eine Hand unter den Rücken und half ihr, sich aufzurichten, während er ihr mit der anderen Hand den Trinkschlauch in die zittrigen Finger presste, weiterhin aber darauf achtete, dass sie nichts von ihrem kostbaren Gut verschwendete.

Medeia schluckte das lauwarme Wasser gierig herunter und kam dann wieder zu Atem. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Augen flogen durch den Gang. Sie blieben an jedem Stein hängen, sodass sie sich selbst davon überzeugen konnte, dass sie sich nicht mehr in dem Raum befanden, in dem es geschehen war. In dem sie Theia umgebracht hatte. Das Blut ihrer Schwester hatte sie bereits so gut es ging von ihren Händen geschrubbt, aber das Gefühl der Schuld wollte sie nicht verlassen. Wie könnte es auch, wenn sie noch immer dasselbe Blut teilten und Medeia das ihrer Schwester vergossen hatte?

„Danke", hauchte sie heiser und wandte sich von ihm ab. Aineas hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Schwester, sie hatten nicht einmal dieselbe Größe, aber sie konnte ihm trotzdem nicht in die Augen sehen. Er musste sich vor ihr ekeln. Musste Angst und Schrecken empfinden, wann immer er sie ansah und bei einer Berührung müsste ihm das Blut im ganzen Körper gefrieren.

„Ist schon gut", murmelte er und nahm die Hand langsam von ihrem Rücken. „Hast du schlimm geträumt?"

„Mehr als das", erwiderte Medeia mit klammen Händen. „Ich – ich kann nicht darüber reden, tut mir leid."

„Ist schon gut", wiederholte Aineas vorsichtig. Sie konnte hören, wie er mit den Fingern am Stoff seines Hemdes raschelte. Das Schaben seiner Füße über den Boden ertönte, als er sich aufsetzte. „Iss etwas. Dann sollten wir weitergehen."

Der Kloß in ihrem Hals wollte auch nach zweierlei schwerem Schlucken nicht verschwinden, deswegen sagte sie: „Du solltest ohne mich weitergehen. Ohne mich wärst du sicherer. Und schneller."

Die Pause, die er sich für seine Antwort nahm, war eigentlich schon genug, damit Medeia wusste, dass er bereits darüber nachgedacht hatte. Es wäre für den Jungen ein einfaches Unterfangen gewesen, sie im Schlaf zurückzulassen und die stetige Gefahr, die sie ihm bot, hinter sich zu lassen. Aber er hatte es nicht getan. Noch immer blieb er an ihrer Seite, obwohl ihn nichts hielt. Er hätte gehen können, als Medeia Theia getötet hatte. Er hätte gehen können, als Alekto ihn aufhetzen wollte, ihr, Medeia, etwas anzutun. Aineas hatte mehrere Chancen gehabt, die ihm ein sicheres Entkommen geboten hätten, aber er hatte keine von ihnen genutzt und genau das war es, was Medeia nicht verstehen konnte.

„Das geht nicht", sagte der Junge schließlich, auch wenn seine Stimme vorsichtig und dünn war. „Nichts für ungut, aber du würdest ohne mich nicht lange überleben."

LavýrinthosWhere stories live. Discover now