Von Freude und von vergangenem Schmerz

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Am nächsten Morgen schüttete es immer noch vom Himmel. Lucius war froh, frei zu haben, denn so konnte er sich mit Stirrius, einer warmen Milch und den , Comentarii de Bello Gallico', die er als Lektüre für die Schule lesen sollte, unter seiner Decke verkriechen. Es war schön kuschelig und angenehm warm, außerdem liebte es Lucius zu lesen, während draußen das schlechte Wetter tobte. Er hatte auch gar kein Mitleid mit seinem Bruder, der in diesem Moment irgendwo auf dem Übungsfeld stand und Soldaten befehligte. Lucius las Stirrius laut aus dem ersten Kapitel vor, denn auch das musste er gut üben.

Stirrius lehnte entspannt, mit geschlossenen Augen an der Wand, die Decke um seine Schultern gelegt. Seine Arme waren um Lucius Oberkörper geschlungen, der vor ihm an seine Brust gelehnt saß. Lucius' Beine waren angewinkelt, sodass er das Buch darauf ablegen konnte. „Ganz Gallien ist in drei Teile geteilt. Den einen bewohnen die Belger, den anderen die Aquitaner, der dritte ist von denen bewohnt, die sich in ihrer eigenen Sprache Kelten, in unserer Sprache Gallier nennen." So hatte das erste Kapitel angefangen. Mehr hatte Stirrius gar nicht mitbekommen. Er kannte natürlich das Buch so gut wie auswendig, aber er hatte einfach nicht mehr auf Lucius' Worte geachtet. Er hatte sich einfach entspannt und seiner Stimme zugehört. Er liebte Lucius' Stimme. Sie war ruhig und gleichmäßig, perfekt zum Erzählen von Geschichten.

Stirrius wurde erst wieder aufmerksam, als Lucius das Buch zuklappte. „Ich glaube das reicht für heute", meinte Lucius und legte die Lektüre auf den Tisch, der neben seinem Bett stand. Stirrius kommentierte leise: „Wir müssen aber aufpassen, dass die Milch da nicht draufkippt." Die Becher standen nämlich daneben. Lucius schmunzelte. „Dann trink ich sie eben jetzt", erwiderte er gut gelaunt und griff nach seinem Becher. Dann lehnte er sich wieder zurück an die Brust seines Sklaven. Insgeheim genoss er diese Momente sehr, aber er fühlte sich auch schlecht dabei, einfach auszunutzen, dass Stirrius nichts gegen seine Handlungen sagen konnte. Er glaubte nicht, dass es der Sklave als genauso angenehm empfand, in seiner Nähe zu sein. Doch manchmal redete er sich das ein, genauso wie jetzt, als Stirrius seine Nase in seinem Haar vergrub. Sein Blut wanderte in seine Wangen und Lucius war froh, dass niemand ihn sehen konnte.

Was er nicht wusste war, dass Stirrius die Situation genauso ausnutzte. Er hatte bisher immer versucht, Lucius unauffällig zu berühren, aber nur so, dass es immer Zufall hätte sein können. Denn er wusste, dass sein Vater ihn jederzeit beobachten könnte. So weit wie jetzt war er noch nie gegangen, aber er hatte sich nicht helfen können. Lucius roch so gut, nach Honig und Ölen und dem Gebäck, das es zum Frühstück gegeben hatte.

Da fiel ihm aber noch der Plan ein, den er am letzten Abend ausgearbeitet hatte und er hob seinen Kopf wieder, um mit dem Sprechen anzufangen: „Ich habe mir gestern noch überlegt, wie wir dich bis zum Sommer trainieren können." Lucius nickte, während er an seiner Milch nippte. Auch Stirrius griff nach seinem Becher, sprach aber weiter und trank noch nicht. „Ich würde vorschlagen, dass wir im Winter erstmal mit Treppenlauf oder Bauchmuskeltraining anfangen, eben den Dingen, die man drinnen machen kann. Ein bisschen Theorie kann sicherlich auch nicht schaden. Sobald es dann wärmer wird, können wir auch rausgehen und laufen, Speerwerfen... Und vor allem müssen wir dich noch mal auf ein Pferd setzen." Bei den letzten Worten verspannte sich Lucius deutlich und riss seine Augen angstvoll auf. Das Ereignis im Sommer hatte bleibende Spuren hinterlassen. Stirrius strich beruhigend über seine Arme.

„Weißt du noch, was ich dir im Sommer versprochen habe? Ich habe gesagt, dass ich nicht zulassen werde, dass dir etwas passiert. Ich glaube, das habe ich letztens auch schon zur Genüge bewiesen. Und daran werde ich mich auch weiterhin halten. Vertrau mir." Lucius nickte leicht. „In Ordnung." Er lehnte sich langsam wieder entspannt an Stirrius. „Willst du nicht langsam aufstehen? Und dir etwas anziehen?" Lucius hockte nämlich die ganze Zeit nur in seinem Lendenschurz herum. Lucius brummelte leise und murmelte dann: „Es ist doch so schön warm und weich hier. Nur noch ein bisschen." Stirrius lachte leise. „Das hast du aber doch auch schon gesagt, bevor du angefangen hast, zu lesen. Komm, hoch mit dir." Er trank den letzten Schluck aus seinem Becher, stellte ihn neben den leeren von Lucius und setzte sich dann so auf, dass Lucius zwanghaft aufstehen musste. Dieser seufzte, bevor er sich schließlich doch erhob und sich in die Mitte des Zimmers stellte. Er fröstelte ein wenig, weil es in dem Zimmer, im Gegensatz zur Wärme unter der Decke und mit Stirrius, doch ziemlich kalt war. Darum war er froh, dass Stirrius schnell mit einer warmen Wolltunika und einem großen Tuch ankam. Die Tunika bekam er wie immer übergezogen, das Tuch bekam er um die Schultern, Oberarme und Brust gewickelt. Es lag relativ locker und war warm, mit seiner waldgrünen Farbe gefiel es Lucius sehr gut. Er hatte es mal von seiner Mutter bekommen.

„Also", Lucius klatschte in die Hände, „was steht heute an?" Stirrius räusperte sich einmal, dann fing er an: „Als erstes solltet ihr heute Morgen eure Hausaufgaben in Griechisch machen. Dann würde ich empfehlen, noch ein Kapitel aus den ‚Commentarii de Bello Gallico' zu lesen. Anschließend gibt es Mittagessen. Am Nachmittag können wir mit dem Trainingsprogramm anfangen." Lucius nickte eifrig und stürmte dann in sein Arbeitszimmer, den Raum direkt neben seinem Zimmer. Dort setzte er sich an den Schreibtisch und kramte in seiner Schultasche, die auf dem Boden stand, nach dem Blatt mit den Aufträgen darauf. Er sollte verschiedene Sätze ins Griechisch übersetzen, sowohl grammatikalisch richtig, aber auch sinngemäß. Wenn es sich also um Redewendungen handelte, sollte er schreiben, was man dazu in Latein sagen würde, und keine wörtliche Übersetzung machen.

Also suchte er in der Schublade des Schreibtischs nach einer leeren Pergamentrolle, dann griff er zu Feder und Tinte und fing an zu schreiben. Stirrius hatte sich währenddessen im Hintergrund auf einen Schemel gesetzt. Nach einer Viertelstunde etwa wurde es ihm zu langweilig und er klaute sich unbemerkt Lucius Schreibtafel und den Griffel aus seiner Tasche. Der junge Römer war viel zu konzentriert, um irgendetwas zu merken. Stirrius warf noch einmal einen prüfenden Blick auf seinen Herrn, dann erst fing er an zu schreiben. Lucius wusste nicht, dass er schreiben konnte, denn es war für einen Germanen mehr als unüblich. Also wollte Stirrius es auch nicht zeigen, sondern nur heimlich seine Ideen für neue Lieder aufschreiben. Und da er gerade einen Geistesblitz hatte, musste nun die Tafel seines Herrn herhalten.

Er fing damit an, fünf gerade Linien übereinander zu zeichnen. Dies tat er mit einigem Abstand mehrmals untereinander. Unter diese Linien schrieb er nun den Text. Das Lied bekam einen traurigen Inhalt. Er schrieb es mit dem Gefühl im Bauch, das er erwartete zu haben, wenn er Lucius verlassen müsste. Somit wurde das Lied eher langsam und handelte von einer für immer verlorenen Liebe. Insgeheim dachte er auch ein wenig an Hyakinthos. Er war früher mal in ihn verliebt gewesen. Er hatte ihn wirklich geliebt. Doch dann war der junge Mann gestorben. Und das auch noch sehr jung. Stirrius, damals noch Apollo, und Hyakintos waren beim Diskuswerfen gewesen. Doch Zephyros, der Gott des Westwindes, war eifersüchtig gewesen und hatte Apollos Diskus in der Luft abgelenkt, sodass er Hyakinthos am Kopf traf. Er war sofort tot.

Stirrius hatte noch nie zuvor so viel getrauert. Es war zwar eine beschämend kurze Zeit gewesen, aber auch eine Schmerzvolle. Doch er war bald darüber hinweg gekommen und hatte sein Leben weiter gelebt, das ließ sich nicht leugnen. Das war nur ein anderer Mensch gewesen und die starben alle irgendwann.

Doch wenn er daran dachte, dass er Lucius irgendwann verlieren könnte, da brach sein Herz schon fast auseinander. Und dieses Gefühl wiederum ließ seinen Kopf nur so mit Inspiration voll werden. Die Worte flossen nur so aus seiner Hand.

Ein wenig Kopfzerbrechen bereitete ihm nur die Melodie. Er hatte letztens ein neues System für sich entwickelt, um Melodien festzuhalten. Dafür schrieb er verschiedene Punkte auf und zwischen die Linien. Für diese hatte er ein langsames Tempo vorbestimmt. Traurig und mit viel Gefühl. Nach einiger Zeit war auch diese auf der Schreibtafel festgehalten.

Erst dann sah Stirrius wieder auf und bemerkte erleichtert, dass sein Herr immer noch an seinen Griechischaufgaben schrieb. Er ließ die Tafel vorsichtig unter seiner Tunika verschwinden und legte den Griffel vorsichtig so hin, als wäre er aus der Tasche gekullert. Er würde seinem Herrn einfach später die Tafel wieder gesäubert zurück stecken.

Nach einer Weile war Lucius mit den Aufgaben fertig und drehte sich zu Stirrius um. „Wie wär's, wenn ich dir noch ein Kapitel vorlese?", fragte er vorfreudig. Er kannte die Antwort so oder so schon. „Ja, das wäre nett", meinte Stirrius lächelnd und ließ sich von dem Jüngeren in das Lesezimmer mit den gemütlichen Sesseln ziehen.

Venimus, vidimus, amavimusWhere stories live. Discover now