Part 2

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Die letzte Ferienwoche raste nur so dahin und allmählich nahmen die Zimmer wohnliche Gestalt an. Ethan bekam ich nie wieder zu Gesicht. Ich vermutete, weil er einen kilometerweiten Bogen um unser Haus machte, damit er ja nicht noch mal mit anpacken musste. Sollte mir nur recht sein, Oliver war sowieso viel netter. Im Laufe der Woche kam er noch zweimal vorbei, half beim Möbelrücken und zeigte mir die Einkaufsmöglichkeiten in und um Houston. Dabei entdeckten wir gemeinsame Interessen wie Marvel-Filme und Netflix-Serien. Außerdem fand ich heraus, dass Oliver 18 und Ethan 21 waren.

Ich lernte auch ihren Vater kennen, einen hochgewachsenen, stattlichen Mann mit strengen Gesichtszügen. Er war Navy-Offizier und nur etwa alle drei Monate für wenige Tage zu Hause. Den Rest der Zeit verbrachte er auf See. Ich fragte Oliver, ob es nicht schwierig für ihn wäre, seinen Vater nur so selten zu sehen – zumal er das einzige Elternteil war, das Ethan und er noch hatten –, aber die Brüder hatten sich angeblich schon so sehr an ihren Freiraum gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr missen wollten.

Aber ob ich ihm das so einfach abnehmen konnte?

Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass es sehr belastend sein konnte, seinen Vater nur selten zu sehen. Mit den Jahren hatte ich mich daran gewöhnt, aber es hatte viele Situationen gegeben, in denen ich mir gewünscht hätte, Dad wäre dabei gewesen. Und bei den Brüdern war es noch extremer, da sie monatelang allein waren. Zumindest wusste ich jetzt, von wem sie die einschüchternde Größe geerbt hatten.

Am Montag fuhren Oliver und ich zusammen zum College, und ich war total happy, dass ich den Einführungstag nicht allein überstehen musste. Niemand mochte den ersten Uni-Tag. Man hatte das permanente Gefühl, angestarrt zu werden und irrte wie ein kopfloses Huhn durch die Gänge, weil man sich nicht auskannte. Schade nur, dass wir nicht dieselbe Fachrichtung studierten, daher wohl auch nicht jeden Tag zusammen fahren würden. Mit etwas Glück hatten wir ein paar allgemeinbildende Fächer zusammen und saßen dabei im selben Hörsaal.

Das hieß, falls Oliver überhaupt Interesse daran hatte, neben mir zu sitzen und nicht lieber mit seinen High School-Freunden abhängen wollte, die er mir im Bus vorstellte und die mit ihm zusammen Jura studieren würden. Auf keinen Fall wollte ich Oliver ein Klotz am Bein werden, deshalb musste ich mir auch dringend eigene Freunde suchen. Vorzugsweise welche in meinem Hauptfach.

Das South Texas College bestand aus drei Gebäuden, die jeweils vier Stockwerke hoch waren und ganz unterschiedliche Fachrichtungen lehrten. Die Gebäude waren durch verglaste Gänge im Erd- und Obergeschoss miteinander verbunden, wobei das mittlere Gebäude das Zentrum bildete. Dank der zentralen Achse der Gänge fanden wir uns erstaunlich schnell zurecht, und das trotz der Betriebsamkeit in den Fluren.

Das Treffen der Erstsemester fand im großen Hörsaal im Mittelgebäude statt.

Es wurden ein paar Begrüßungsworte gesprochen, dann begann der mehrstündige Rundgang, bei dem wir jeden Winkel des Colleges erkundeten und alteingesessene Studenten mit Fragen bombardieren konnten. Unsere individuellen Stundenpläne, so sagte man uns, könnten wir im Laufe des Tages auf der Homepage einsehen. Den Zugangscode würde man uns per E-Mail schicken. Eine Elite-Uni war das South Texas College nicht, aber es punktete mit einer beachtlichen Auswahl an Freizeit- und Sportangeboten, und der Knaller war die hauseigene Galerie im Kellergeschoss.

Nach dem Rundgang wurden wir in die große Halle geschickt, um mit dem Rest der Studentenschaft zu Mittag zu essen. Hier fackelte man offenbar nicht lange, sondern schmiss uns Ersties kopfüber ins Collegeleben. Die große Halle war – wie der Name schon vermuten ließ – groß. Das musste sie auch sein, denn hier trafen sämtliche Studenten des dreigliedrigen Gebäudekomplexes aufeinander.

Zwei Brüder, plus ich, gleich ChaosWhere stories live. Discover now