Versammlungshalle Vanessa Payton 03.01.69 n.S. - 21:48 Uhr

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Es war heiß und eng. Das Dröhnen der Musik echote durch die Halle und gab den Takt vor. Die Menge bewegte sich ähnlich den Wellen des Ozeans, tanzte im Sturm der Lichtblitze. Die Party näherte sich ihrem heutigen Höhepunkt. Die Halle war ein Rundbau mit vierzig Metern Durchmesser. Es gab fünf Zugänge, die allesamt innerhalb eines Halbkreises angeordnet waren. Blaue Strahler tauchten die sonst kahle Stahlwand in schimmerndes Licht und über allem thronte eine gewaltige Kuppel, die sich zwanzig Meter in die Höhe erstreckte. Bunte Farbenspiele projizierten auf dem Halbrund malerische Effekte. Zwischen den Eingängen waren Stände mit Getränken aufgestellt worden und auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich eine Bühne über die Masse.Vanessa war nassgeschwitzt. Das weiße Hemd klebte auf ihrer Haut und die Haare hingen in Strähnen in ihr Gesicht. Ihr war heiß, das Herz klopfte aufgeregt in ihrer Brust. Sie lebte, sie genoss den Moment, den Augenblick der Freiheit und obwohl sie mit vielen anderen gemeinsam tanzte, fühlte sie sich allein. Die tiefen Beats vibrierten durch ihren Körper. Für sie war es die letzte Möglichkeit lange zu feiern, denn morgen früh plante sie die erste Begehung der Felder. Die Zeit war knapp und zwischen eisiger Kälte der Nacht und trockener Hitze des Tages gab es nur eine kleine Spanne.Die Aussaaten waren speziell genetisch verändert, wuchsen schnell und es störte sie nicht, dass es zu Beginn teils frostig kalt war und am Ende trockene Hitze herrschen würde. Nur heute Abend galt es zu feiern!Ihr Bruder winkte ihr von der Bar aus zu und deutete auf ein Glas. Er hatte Nachschub besorgt. Sie schob sich geschickt durch die Reihen. Normal war sie eher zurückhaltend, nur an dem letzten Abend, ehe die Pflicht rief, sah sie es anders. Sie kostete diesen vollends aus und kam aus sich heraus. Die Nähe der vielen Menschen war ihr dennoch unangenehm. Solange sie tanzte, blendete sie die unausweichlichen Berührungen aus. Dann bemerkte sie die Hände nicht, die nach ihr griffen. Der teils gesuchte Kontakt der Männer um sie herum störte sie nicht. In der Menge war dies normal. Ohnehin blieben es nur flüchtige Berührungen und unausweichlich, aber sie erschufen dennoch ein Gefühl der Scham.»Du bist nass«, lachte ihr Bruder und reichte ihr den Becher. Vanessa nahm ihn dankend an und strahlte. Leichtigkeit hatte sie ergriffen und durstig spülte sie den Drink hinab. Die Getränkeauswahl in der Station war eingeschränkt. Im Alltag trank man Wasser, aber zu den wenigen Feierlichkeiten produzierte man Alternativen. Ein Teil der Fruchternte wurde zu Saft gepresst. Zudem brannte man Schnaps. Ein minimales Gefühl von Normalität. Sie hatte sogar Gerüchte gehört, dass man daran arbeitete Bier zu brauen. Nur der Hopfen bereitete Probleme.»Danke, das tat gut!«, lächelte sie und stellte den leeren Becher wieder zurück auf den Tresen. »Kein Ding, Schwesterchen«, entgegnete er und trank selbst. Sie drehte sich und lehnte sich mit dem Rücken an. »Es ist voll heute«, stellte sie fest.»Für viele geht morgen die Arbeit richtig los«, murmelte er.»Danke, dass du mich daran erinnerst!«Valentin legte die Arme um sie und drückte vorsichtig.»Ich arbeite doch ab morgen auch wieder draußen.«Sie nickte. Ihr Bruder war Solartechniker und am nächsten Tag waren die Erstkontrollen der Paneele geplant, um die Defekte der Nacht auszubessern. »Wann musst du raus?«»Ich hab die zweite Schicht, damit erst um 14 Uhr«, grinste er breit. Sie boxte ihm in den Magen. »Du Glücklicher«, brummte sie, denn für sie bedeutete der erste Arbeitstag, dass sie um 6 Uhr in der Früh an der Schleuse nach draußen zu warten hatte.»Wenn ich nicht wüsste, dass ihr Zwillinge seid, würde ich nun eifersüchtig«, hörte sie eine wohlbekannte Stimme hinter sich. Ihr Herz hüpfte freudig auf und in ihrem gesamten Körper kribbelte es. Valentin entließ sie aus der Umarmung und sie drehte sich um. »Chris!«, schrie sie erfreut und sprang ihm direkt um den Hals. Vanessa suchte seine Nähe und schmiegte sich der Länge nach an ihn, ehe sie zu ihm aufblickte. Chris umarmte sie liebevoll, drückte sie und sah dann verliebt zu ihr hinab. Er war größer als sie, aber nicht so groß, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, als seine Lippen die ihren berührten und er sie küsste. Vanessa schloss die Augen. Sie schwebte und all der Ärger war verflogen. Die Probleme. Die Ängste. Nur er war wichtig.»Auseinander ihr beiden, sonst muss ich Dad anrufen«, kicherte Valentin. Vanessa warf den Kopf zurück und funkelte ihren Bruder böse an. »Untersteh dich!«, fauchte sie.Chris lachte und umarmte ihren Bruder zur Begrüßung. Die beiden verstanden sich und sie war froh darum. Val war wichtig für ihre Partnerschaft zu Chris.»Der Chief bereitet gerade sicher die Schicht vor«, sprach Chris anerkennend. Er hatte ihr gestanden, dass er in ihrem Vater ein Vorbild sah und stets um dessen Respekt bemüht war.»Was macht der Kontrollraum?«, fragte Valentin nach.»Erzählt euer Vater denn nichts?«, grinste Chris zurück. Vanessa schüttelte den Kopf. Zumindest berichtete er nicht einen deut Interessantes. Sie schob sich unter den Arm ihres Freundes und legte ihren um dessen Hüften. Er trug T-Shirt und einen leichten Schal. Sein Markenzeichen. Dieser Stil blieb in der Station einmalig und niemand kopierte ihn. Chris hatte asiatische Wurzeln und Vanessa liebte seine dunklen mandelförmigen Augen. Das harte Leben im Alltag, die stetigen Gesundheitskontrollen waren der Grund dafür, dass es in der gesamten Basis kaum jemanden gab, der übergewichtig war – oder untergewichtig. Chris war für Vanessa geschaffen. Davon war sie überzeugt. Ihre Körper passten zusammen, wenn sie sich an ihn schmiegte, schienen sie eins zu werden. Wie von selbst verflochten sich die Arme und bildeten eine wärmende und schützende Einheit. Sie liebte ihn, mehr als sie Chris zu diesem Zeitpunkt gestanden hätte.»Es ist wie immer. Zahlen, Daten und ein Blick zur Sonne«, lenkte er von der Arbeit im Kontrollraum ab. »Paps ist aber schweigsamer als sonst«, sprach sie leise und erhielt zustimmendes Nicken von Valentin.»Ihr beide wisst doch, dass ich nicht über die Arbeit reden darf«, entschuldigte sich Chris. »Außerdem wollte ich noch ein wenig feiern, bevor ich zur Schicht muss.«Sie verstand ihn. Ihr erging es nicht anders. Die Twilight Days waren Tage der Freude, der Erleichterung, denn der Alltag war trist und hart genug. »Gut«, grinste sie und zog ihn in Richtung Tanzfläche. »Dann tanzen wir!«Die Musik brandete in immer schnelleren Beats der Trommeln auf. Sie wusste nicht, was die Menschen hörten, bevor die Erde zum Stillstand kam. Die Heutige war basslastig. Große Schlaginstrumente aus Blech dröhnten zu einer Mischung aus Gesang und Sprechgesang. Chris war ein ausgezeichneter Tänzer. In seiner Nähe war sie sie selbst. Er drehte sie mit dem Rücken zu sich, sie sah über die Schulter und versank in dessen Augen. Die Hände glitten die Seite ihrer Taille hinab zu den Hüften und gleichzeitig schmiegte er sich warm an sie. Die steten Schläge der Beats, die Hitze und die Nähe berauschten Vanessa, aber weit mehr waren es die Lippen ihres Freundes, die zärtlichen Liebkosungen der Zunge, der deutlich langsamere Tanz dieses Liebesspieles. Unschuldig und bezaubernd zugleich.Sie drehte sich an ihm herum, schlang die Arme um seinen Nacken und ließ ihr Becken kreisen. Die Blicke blieben auf den anderen gerichtet. Vanessa setzte an, um etwas zu sagen, aber die Sorge, dass drei Worte alles zerstörten, war zu groß. So suchte sie erneut den Kuss und vergaß die Welt um sich herum. Ihre Bewegungen folgten nicht mehr dem Rhythmus der Musik, sondern einer zärtlichen Melodie – der ihres Herzens.Seine Hände durften sie berühren. Das war ihr nicht unangenehm, im Gegenteil: Von den schlanken und sanften Fingern bekam sie nie genug. Mal kitzelten sie, mal verlangten sie. »Ich habe morgen um 14 Uhr Dienstschluss«, wisperte sie in sein Ohr und ließ es sich nicht nehmen, einen Augenblick an seinen Ohrläppchen zu verweilen und diese zu beknabbern. Chris schmunzelte.»Und das heißt?«Hitze stieg in ihr auf und rötete die Wangen. Verlegen sah sie kurz zu Boden, ehe sie wieder zu ihm auf schaute.»Ich könnte zu dir kommen«, hauchte sie verheißungsvoll. »Ich werde zwar eine Dusche benötigen, aber Gott sei Dank, hat jede Wohneinheit eine, oder?«Vanessa fühlte den kräftigen Herzschlag von ihm durch dessen Brust und entdeckte die kleinen Grübchen auf seinen Wangen, die immer dann auftauchten, wenn er ehrlich lächelte.»Soll ich mit meiner Dusche auf dich warten?«, flüsterte er verheißungsvoll zurück. Vanessa schmunzelte nickend.»Sehr gern«, antwortete sie. Sie vertraute ihm und traute ihrem Herzen. Chris verstand ihre Aussage. Niemals würde er ihr zu nahe treten, wenn sie nicht absolut davon überzeugt war, dass der richtige Moment gekommen war. Vannessa fühlte tief in sich, dass dieser Tag herannahte. Sie überlegte schon eine Weile, grübelte um die eine Sache, die das natürlichste auf der Welt schien. Zwei Menschen, die sich liebten, würden über kurz oder lang miteinander schlafen. Wenn nur die Angst vor dem ersten Schmerz nicht wäre, oder die Sorge, dass sie zu unerfahren war oder sich falsch bewegte. Vanessa verfing sich in ihren Befürchtungen und Chris schien dies sofort zu spüren. Er legte den Finger unter ihr Kinn, hob es an und neigte den Kopf zur Seite.»Du machst dir wieder Gedanken?«, erkannte er und drückte sie fester an sich. Sie nickte und presste die Lippen aufeinander. Er hatte sie ertappt.»Die Zeit wird die meisten Sorgen allein wegspülen. Lebe den Augenblick und genieße, denn ich genieße die Nähe zu dir. Jede Minute, jeden Herzschlag, jeden Atemzug«, hauchte er in ihr Ohr, ehe sie wieder zu ihm aufsah. Für diese Art liebte sie ihn nur mehr.»Du musst gleich los, oder?«, lenkte sie ab und löste sich von ihm, griff seine Hand und führte ihn weg von der Tanzfläche. »Ein wenig Zeit habe ich noch«, gestand er. Vanessa schüttelte den Kopf. »Wenn du zu spät kommst, wird mein Vater es dich spüren lassen«, warf sie ein.»Jeder hat wegen seiner Verspätung, ein wenig Zeit bekommen«, schmunzelte er. Vanessa erinnerte sich, dass ihr Vater vor ein paar Tagen nochmals gehetzt in die Wohneinheit zurückgekehrt war. Als Leiter des Kommandoraumes forderte er seine Belegschaft, blieb dabei allerdings stets fair.»Du wirst deinen Bonus doch nicht gleich als Erstes aufbrauchen wollen, oder?«Sie hasste es, aber es war wichtig, dass Chris weiterhin vorbildlich blieb und ihrem Vater keine Chance gab, die Meinung über ihn zu verschlechtern. Sonst würde eine gemeinsame Zukunft unmöglich werden.Chris seufzte und die Leichtigkeit fiel von ihm ab. Er nickte und in seinen Augen spiegelten sich Sorgen.»Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.Er antwortete nicht, sondern sah hinüber zu der tanzenden Menge. »Chris, gibt es Ärger mit meinem Vater?«, befürchtete Vanessa. Nach längerem Warten schüttelte er den Kopf, dennoch blieb ein Schatten auf der Seele. Vorhin hatte sie es nicht erkannt, aber jetzt entdeckte sie die Zeichen. Kleine Gesten, Blicke, die allesamt darauf schließen ließen, dass etwas auf seinem Herzen lastete.Ein ungutes Gefühl kam in ihr auf. Ihr Herzschlag setzte aus und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Der Magen drehte sich und ihr wurde übel.»Willst...«, stammelte sie. Vanessas Augen wurden feucht, Tränen sammelten sich und ließen das Bild verschwimmen. »Willst du mich nicht mehr?«Chris schrak auf, sah zu ihr, als hätte er sie nicht verstanden. »Was?«»Du machst mir Angst«, gestand sie.Er hob die Schultern. »Chris, wenn du Schluss machen willst, dann...«»Schluss machen?«, fragte er sie und runzelte die Stirn. »Warum sollte ich Schluss machen, Nessi. Ich liebe dich«, offenbarte er ihr, als wäre es das Normalste auf der Welt.Ihr Herz schlug Purzelbäume und sie strahlte. Die Übelkeit verflog und ihre innere Sonne ging auf. Er hatte es gesagt. Die drei Worte. Impulsiv umklammerte sie ihn und wisperte: »Ich liebe dich auch.«Endlich! Erleichtert atmete sie aus und lächelte. Für einen Augenblick fühlte sie endloses Glück, ehe sie ihre Hand an seine Wange legte.»Aber ich spüre und sehe deine Sorgen«, sprach sie leise.Chris nickte. »Aber das sind meine und nicht deine Sorgen«, erklärte er.»Deine sind meine Sorgen«, widersprach sie ihm.Er schnaufte. »Sicher, aber eben nicht alle«, beharrte er.»Hat es etwas mit der Arbeit zu tun?«Chris wandte den Blick ab und schwieg. »Also ja«, vermutete Vanessa und drehte sein Gesicht wieder zu sich. Er versuchte den Kopf in eine andere Richtung zu wenden, aber sie nahm die zweite Hand zur Hilfe und zwang ihn, sie anzublicken. »Nun?«Kaum merklich bewegte er das Haupt. Ein leichtes Nicken.»Ist es mein Paps?«»Nein«, entgegnete er sofort. Sie glaubte ihm.»Aber was ist es denn?«, fragte sie und die Sorge wandelte sich langsam zu Angst.»Ich darf nicht, du weißt das!«, erinnerte er sie. »Ich kann schweigen«, bohrte sie weiter. »Ich will nur, dass du weißt, dass ich für dich da bin und deine Probleme bei mir sicher sind!«Flüchtig küsste er sie und rang sich ein Lächeln ab.»Aber wir beide wissen, dass dies ein Problem wird, sobald dein Vater davon erfährt«, seufzte er und sah auf die Uhr. »Ich muss los zur Arbeit.«Vanessa ließ ihn los. Warum sprach er nicht mir ihr? Sie verschränkte die Arme und rieb sich die Oberarme. Das Hemd war nicht getrocknet und sie ertrug mit einem Male die Blicke der Männer nicht mehr. Lüstern starrte der ein oder andere Kerl immer wieder auf ihren durchschimmernden BH.»Dann bis morgen«, murmelte sie enttäuscht. Chris küsste ihre Wange und winkte Valentin zum Abschied, der sich von hinten näherte.»Bis Morgen, Nessi«, verabschiedete er sich und eilte davon.»Alles in Ordnung, kleine Schwester?«, feixte ihr Bruder und legte den Arm um sie. Er war deutlich größer als Chris und stärker trainiert. Vanessa lehnte sich gegen Valentin und es war, als wäre er eine massive Wand. Val war steinhart und trotzdem fühlte sie sich bei ihm brüderlich geborgen. Unsicher hob sie die Schultern.»Jein.«»Geht es um Chris?«Sie nickte.»Muss ich ihn verprügeln?«, neckte er sie.»Untersteh dich!«, reagierte sie prompt und sah zu ihm hoch. »Nein. Etwas besorgt ihn.«»Dad war auch komisch die letzten Tage, fandest du nicht?«»Ich hab ihn ein wenig gemieden. Aber er wirkte verschlossen«, gestand sie. Ihr Instinkt war erwacht. »Was auch immer es ist, es muss schrecklich sein und uns alle potentiell bedrohen«, mutmaßte sie. Ihre innere Stimme warnte sie. Sie hatte Recht und das vergrößerte die Angst in ihr enorm.

Station 8Where stories live. Discover now