Krankenstation Cassandra Simmons 01.01.69 n.S. - 06:30 Uhr

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»Guten Morgen und ein glückliches neues Jahr«, rief Cassandra mit froher Stimme. Das Wartezimmer war leer, aber das würde sich in den nächsten Tagen mit Sicherheit ändern. Die Twilight Days verliefen meist friedlich, doch nicht jeder vertrug den seltenen Alkohol. Sie lehnte sich an den Tresen und grinste zu Gina hinab. »Noch müde?«, schmunzelte sie und die Pflegerin nickte.»Ein wenig, Frau Doktor«, brummte diese.»Es wird doch nun wieder heller und besser.«Cassandra Simmons strahlte. Sie war froh, dass bald Strom nicht mehr das Thema bei einer Behandlung war. Zwar war die Krankenstation in der Versorgung mit Elektrizität priorisiert, dennoch galten hier ebenfalls Grenzen.»Schon«, entgegnete Gina und sah zu ihr auf.Die anderen Pfleger nannten sie ›sexy Gina‹, sahen in dem Spitznamen gewiss kein Kompliment. Cassandra beteiligte sich nicht an dergleichen Spielereien, für sie waren die Patienten wichtig und ihnen galt ihr ganzes Engagement.Die junge Pflegerin besaß viele Merkmale, die diese Einschätzung untermauerten. Braune Haare, braune Augen, dazu ein Lächeln, welches Männerherzen höher schlagen ließ. Die schlanke Figur, die Rundungen. Die Männer in der Station sahen ihr nach und Cassandra verstand nicht, warum Gina nicht längst verheiratet war. Vermutlich genoss sie bloß das Leben – ohne Verpflichtungen.»Wir reden später. Ist Panyalay auf Station?«»Ja, sie schaut gerade nach Mickey«, erwiderte Gina.Cassandra klopfte dreimal auf den Tresen und verließ das Wartezimmer. Die Krankenstation war mit diesem über einen Gang verbunden, an dessen Seiten sich je zwei Behandlungszimmer anschlossen. Durch eine gesicherte Tür betrat sie den großen zentralen Stationsraum. Cassandra nannte ihn gern ›das Herz‹ und der Vergleich passte. Mittig im Raum hatte man ein kreisrundes verglastes Zimmer eingebaut. Hier überwachte das Pflegepersonal die Vitalwerte der Patienten, besprachen sich die Ärzte oder planten die nächste Arbeitswoche. Es gab vier Patientenzimmer, die standardmäßig mit jeweils vier Krankenbetten ausgestattet und vom Stationsraum aus direkt zu erreichen waren. Das analog mit vier Betten versehene Quarantänezimmer erreichte man ebenfalls von hier aus, nur dass man zuerst eine Luftschleuse durchquerte, um etwaige gefährliche Krankheitserreger auszusperren. Mit dem Röntgenraum, dem OP-Saal und dem Entbindungszimmer war Station 8 für ihre Bewohner und deren Leiden gerüstet. Cassandra wusste nicht, wie es auf den anderen Basen aussah und sie hoffte für die Menschen dort, dass man den Herausforderungen der Medizin ebenso gewappnet war, wie sie hier.»Guten Morgen Cassy«, winkte Panyalay ihr zu und kam mit ausgebreiteten Armen auf die Ärztin zu. Sie war eine herzliche und warmherzige Frau. Cassandra hatte sie in den letzten Jahren nie übel gelaunt erlebt. Die Krankenschwester war aus der gleichen Generation wie sie selbst und bildete einen angenehmen Kontrast zu Gina. Panyalay war verheiratet und hatte Kinder, die ebenfalls verehelicht waren. Sicher war es nur eine Frage der Zeit, bis der erste Enkel auf die Welt kam.Kinder – es stach in ihrem Herzen, wenn Cassandra dieses Glück vor Augen geführt wurde. Das Wunder Leben zu schenken hatte sie nie am eigenen Leib erfahren und heute, mit Mitte fünfzig, war es zu spät. Wenigstens blieben ihr die Patienten.»Wie war die Nacht für Michael?«, erkundigte sich Cassandra.»Er schlief gut durch. Die Narbe scheint ihn ein wenig zu zwicken, aber ansonsten ist er tapfer.«Sie grinste. Der Elfjährige war vor zwei Tagen am Blinddarm operiert worden und sammelte seitdem er aus der Narkose erwachte, stets Belobigungen, wie wacker er doch gewesen war. »Er hat schon nach dir gefragt«, ergänzte die Pflegerin schnell.Cassandra hob eine Braue. »Tatsächlich?«, wunderte sie sich und zog das kleine Tablet aus der Ladestation. Das Display erstrahlte nach einer schwungvollen Berührung und forderte ihren Zugangscode.»Wie schaut die Narbe aus?«»Sie heilt. Der kleine Mann ist putzmunter.«»Ein wenig Ruhe wird er dennoch noch brauchen.«»Ach Cassy. Er ist elf. Kinder sind zäh und erholen sich viel schneller, als wir Erwachsenen.«Cassandra schnaufte. Es fiel ihr nicht leicht, zuzugeben, dass die Pflegerin recht hatte. Er war doch so klein und jung. »Dann gehen wir mal zu ihm«, sprach sie und schritt voraus. Die Tür öffnete sich vor der Ärztin und empfing sie mit einem Zischen.»Guten Morgen, Mickey«, begrüßte sie den kleinen Patienten. Blaue Augen flackerten gespannt auf und der Junge setzte sich auf.»Guten Morgen Frau Doktor«, antwortete er höflich. Cassandra schmunzelte. Der Kleine war ihr ans Herz gewachsen, so wie jedes Kind auf der Station.»Wie fühlst du dich?«»Super!«Panyalay räumte derweil das Tablet mit dem Frühstück fort.»Hast du Schmerzen?«Energisch schüttelte Michael den Kopf. Cassandra studierte dabei die Daten, die das Tablet ihr anzeigte. Fieber hatte der kleine Patient ebenfalls nicht. Blutdruck, Puls – alles war normal und ohne Auffälligkeit.»Dann leg dich mal hin und zeig mir die Narbe«, schlug sie vor. Kaum sprach sie den Wunsch aus, lag Michael schon. Der Junge hob das Nachthemd und beobachtete aufmerksam jede ihrer Bewegungen. Cassandra setzte sich auf das Bett und beugte sich über die Wunde. Die Fäden hielten, der Wundrand war kaum gerötet.»Das sieht gut aus«, gab sie zu und sah zu ihm.»Wirklich?«, fragte Michael hoffnungsvoll und sie nickte. Ihm lag etwas auf den Lippen, sie erkannte es in seinen Augen und verschränkte die Arme, um ihn zu mustern. »Ja. Wirklich«, erleichterte sie ihn. »Dann, darf ich nach Hause?«Daher wehte der Wind und sie kontrollierte ein weiteres Mal die Daten auf dem Tablet. »Du hast in drei Tagen Geburtstag?«, erkannte sie und schob das Gerät in ihren Kittel. Michael nickte.»Nun gut. Ich spreche nachher noch mit deiner Mutter, wenn sie kommt, und wenn bis morgen früh nichts Besonderes geschieht, wirst du morgen entlassen.«»Ehrlich?«Grinsend hab sie die Hand, streckte Zeige- und Mittelfinger in die Höhe und legte den Daumen auf die Kuppe des Ringfingers.»Ehrlich. Ich schwöre«, schmunzelte sie. Der Junge war aufgeweckt, aktiv und sie würde seiner Mutter einige klare Anweisungen mitgeben müssen, damit er sich die nächsten Tage weiterhin schonte.Spontan setzte sich der Junge auf und schlang die dünnen Arme um ihren Leib. Sie genoss die Umarmung, die Nähe und Freundschaft, die in dieser Geste lag und streichelte über seinen Rücken.»Ich bin froh, dass es dir so schnell wieder besser geht, Michael«, gestand sie. Es waren die kleinen Patienten, die ihr die Kraft gaben. Ihr Mann war in dieser Hinsicht anders. Er behielt stets den nötigen Abstand zum Kranken. Dafür bewunderte sie ihn, denn sie trug die stetige Angst mit sich, einen Kampf gegen den Tod irgendwann zu verlieren.»Sie sollen doch Mickey sagen, Frau Doktor!«, beharrte der Junge auf seinen Spitznamen.»Panyalay?«»Ja?«»Stell bitte alles Wichtige für Michaels Mutter zusammen, was die Nachsorge betrifft. Ich befürchte, dass wir uns von unserem Gentleman morgen früh verabschieden müssen.« Damit wandte sie sich wieder Michael zu und erhob sich. »Es wird sehr still werden hier, wenn du fort bist.«»Ich kann Sie ja besuchen kommen, Frau Doktor«, zwinkerte er, aber sie winkte ab.»Das ist sehr lieb von dir. Ich befürchte nur, dass wir die nächsten Tage zumindest für einige Stunden immer wieder viel zu tun haben.«Im letzten Jahr verlegten sie am Ende sogar ein paar der Patienten in das Quarantänezimmer, weil die restlichen Betten restlos belegt waren. »Und die Schule darfst du auch nicht vernachlässigen«, tadelte sie. Die Schule dauerte mit Pausen und Nacharbeiten den gesamten Tag lang. Jeder Bewohner in der Station besaß eine Aufgabe und die Versorgung der Kinder in dieser Zeit wurde frühzeitig den entsprechenden Abteilungen zugeteilt. Der Mutterschutz währte ein Jahr, ehe wieder die Pflicht zur Arbeit einsetzte. Ein Punkt, den Cassandra wiederholt kritisierte, dennoch war sie sich bewusst, dass es keine Alternative gab. Gebt den Kindern die Zeit, die sie benötigen. Den Freiraum, sich zu entwickeln und wenigstens ein paar Jahre der unbeschwerten Freude.Sie tätschelte Michael das Bein. »Ich komme später nochmals, in Ordnung?«»Okeeeeeeee«, antwortete er und dehnte das Wort, bis er nach Luft schnappte. Sie winkte zum Abschied und verließ das Zimmer, dicht gefolgt von Panyalay. »Du wirst ihn vermissen?«, erkannte die Krankenschwester. Stumm nickte sie.»Natürlich«, gab sie zu. »Aber ich bin auch froh, dass er so schnell wieder auf die Beine kommt und die nächsten Tage werden auch ohne ihn nicht langweilig werden.«»Ich mache uns was Warmes zu trinken«, bot Panyalay an und ehe Cassandra etwas erwiderte, verschwand sie in Richtung der kleinen Stationsküche. Sie nahm Platz und griff nach dem Tablet in der Tasche ihres Kittels. Sie interessierte sich für die Geburtenraten. Mit flinken Fingern manövrierte sie durch die Menüs und bekam bald eine Liste der Neugeborenen angezeigt. Dreizehn. ›Das war wenig‹, dachte sie. Im Jahr davor erblickten zumindest einundzwanzig Kinder das Licht der Welt. Auf Dauer war dies eine Rate, die gefährlich für den Fortbestand der Station war. Cassandra erahnte, dass die Führung für einen solchen Fall Maßnahmen vorbereitet hatte. Es schüttelte sie bei dem Gedanken an Zwangsbefruchtung oder Ähnlichem. Der Mensch sollte Mensch bleiben und nicht Gott spielen. Sie hoffte, dass es nicht notwendig wäre und setzte ihre Hoffnung in die ihr bekannten Schwangeren, die in den nächsten Monaten entbinden würden.»Hier bitte.«Panyalay war mit zwei Tassen heißem Tee zurückgekehrt und hielt ihr eine hin. »Danke dir«, lächelte Cassandra und wärmte sich am Gefäß die Finger. »Das wird eine lange Schicht«, befürchtete sie.»Ach, warten wir mal ab, oder?«»Doktor Simmons, Patient im Wartezimmer!«, klang Ginas Stimme durch einen kleinen Lautsprecher.Cassandra wandte den Blick sofort zu Panyalay. »So viel zu dem Thema abwarten«, seufzte sie und beugte sich über das Mikrofon, um zu antworten.»Komme«, gab sie kurz Bescheid. »Das schaffe ich mit Gina allein, denke ich«, grinste sie. Cassandra nahm die Tasse mit und schritt in gemäßigtem Tempo zurück zum Wartezimmer. Sie rechnete mit der ersten Alkoholleiche.Der Mann, der dort saß, war in etwa so alt wie Gina, trug einen Kinnbart und die Haare waren kurz geschoren. Im Gegensatz zu ihrer Vermutung wirkte er nüchtern. Sie warf Gina einen flüchtigen Blick zu. »Zimmer Alpha«, schlug sie vor und verschwand dann im ersten Behandlungszimmer auf der rechten Seite.Sie kannte das Gesicht, nur fiel ihr der Name nicht ein. Es war nicht möglich, jeden der etwas über 1200 Bewohner namentlich zu kennen, selbst als Arzt nicht. Gina öffnete die Tür und ließ dem Mann den Vortritt. Der müde Ausdruck in ihrem Gesicht war verschwunden und sie wirkte distanzierter und kühl. Cassandra glaubte, dass es ihre Methode war, um emotionalen Abstand zu wahren.»Bitteschön Herr Silberman. Frau Doktor Simmons wartet schon auf Sie.«Der Mann nickte dankbar und ließ sich vor Cassandra auf den Patientenstuhl fallen. Der glasige Blick wies auf Fieber hin. »Bleib bitte Gina«, bat sie die Pflegerin. »Nun, Herr Silberman. Was kann ich für Sie tun?«»Mein Kopf fühlt sich wie Watte an, ich friere, egal wie warm es um mich herum ist oder wie viel ich anziehe. Immer wieder schüttelt es mich«, ächzte der Kranke und drehte den Kopf weg, um zu husten.Cassandra wurde aufmerksam. »Das klingt nach Fieber«, mutmaßte sie und wandte sich Gina zu. »Blutprobe bitte.«Diese nickte und öffnete einen Schrank, um Gurt, Desinfektionsmittel und eine Spritze zu holen. Auf den ersten Blick vermutete sie eine Grippe. Behandelbar, aber mit Unbehagen erinnerte sie sich an die letzte Epidemie. Ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung erkrankte und viele wichtige Posten blieben unbesetzt. Die Möglichkeiten einer Impfung gab es nur in der Theorie und damit gewannen derartige Erkrankungen immens an Gefahr.»Schmerzen die Gelenke und Muskeln?«, fragte Frau Doktor Simmons und griff nach dem Temperaturfühler. Gina krempelte derweil das Hemd des Patienten am Arm auf und legte den Gurt an, um eine passende Ader zu finden.»Nein«, brummte er und sah demonstrativ weg. »Können Sie kein Blut sehen?«, fragte Cassandra und nickte zu Gina. »Oder haben Sie Probleme mit dem Kreislauf nach einer Blutabnahme? Bleiben sie einfach einen Augenblick sitzen und atmeten Sie ruhig.« Sie führte den Temperaturfühler an die Schläfe des Mannes, betätigte den kleinen Knopf und wartete, bis es kurz daraufhin piepte. Zeitgleich drückte Gina die Spitze der Spritze in die Ader und ließ das Blut in die Kanüle sickern.»38,5 Grad. Herzlichen Glückwunsch, ich denke Sie haben die Grippe.«»Und nun?«»Wohnen Sie allein?«Er schüttelte den Kopf. »Meine Frau June und meine Tochter April sind noch da.«»Sie haben eine Tochter?«»Ja. Sie ist etwas über ein Jahr und erkundet die Wohneinheit«, keuchte er und nahm die Decke, die Gina ihm reichte, dankbar an.»Ich schlage vor: Sie bleiben hier. Zumindest bis die Blutprobe ergeben hat, welcher Virus es genau ist.«»Sie sagten doch Grippe«, wunderte er sich.Cassandra warf einen kurzen Blick auf die Personendatei. »David. Ich darf doch David sagen, oder?«Abwesend nickte er.»Es gibt viele Grippeviren, aber es könnte auch etwas anderes sein. Bevor wir die Station nahezu lahmlegen, sollten wir sicher sein, dass von Ihnen keine Ansteckungsgefahr ausgeht, oder?«, sprach sie warmherzig.»Verstehe«, hustete David. »Ich hole ein paar Sachen und...«»Nein, wir sagen Ihrer Frau Bescheid. Jeder Kontakt mit anderen sollte nun vermieden werden«, unterbrach sie ihn. »Gina, sagst du bitte Panyalay Bescheid, dass sie im Zimmer B ein Bett macht?«»Natürlich Frau Doktor«, bestätigte sie und verließ augenblicklich den Behandlungsraum. »Ein paar Tage Ruhe werden Ihnen helfen und eine kranke Tochter... das muss auch nicht sein.«»Stimmt schon«, wisperte er heiser werdend.»Sehen Sie, David. Keine Sorge, alles wird gut«, murmelte sie zufrieden. Sie war überzeugt von ihrer Diagnose, vor allem aber, erschien ihr das Risiko für das Kind zu hoch, denn die Viren bargen für den kleinen Körper eine erhebliche Gefahr.Die Tür glitt auf und Gina trat gemeinsam mit Panyalay in den Raum.»Sie gehen einfach mit Gina und ich schaue später nochmals nach Ihnen«, forderte sie David auf. Der Mann war blass und beim Aufstehen war er auffällig langsam. Gina half ihm. Die Tür glitt zu und Panyalay sah zu Cassandra.»Auf Station wegen einer Grippe?«, fragte sie. Die Ärztin griff nach der Ampulle mit dem Blut des Patienten und hielt sie gegen das Licht.»Stimmt schon, es deutet viel auf Grippe hin«, murmelte sie leise.»Aber du bist dir nicht sicher?«Cassandra zögerte.»Nein. Etwas in mir warnte mich, ihn nach Hause gehen zu lassen.«»Instinkt?«Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnerte mich an einen Text, den ich gelesen habe. Es ging auch um einen Virus, der ähnliche Symptome hervorrief wie Grippe.«»Und was geschah mit den Infizierten?«Cassandra sah ihre Krankenschwester ernst an. Sie legte keinen Ausdruck in die Mine und schwieg.

Station 8Where stories live. Discover now