Kapitel 1: Schlechte Neuigkeiten

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Graham Jones war ein ganz normaler junger Mann. Er war auch ganz gerne normal. Tatsächlich konnte man behaupten, dass er nichts mehr liebte, als die Normalität.
Während andere sich die Haare färbten, plötzlich auffällig große Schals und nutzlose Brillen trugen, brüstete er sich mit seiner gewöhnlichen, naturbraunen Kurzhaarfrisur, trug Hemd und Pullunder und eine dunkle Cordhose. Auf seiner Nase trug er eine immer sauber polierte Brille. Seine besaß sogar Gläser, die einen Nutzen erfüllten.

Er wohnte in einer schlichten Zwei-Zimmer-Wohnung mitten in Brooklyn. Er hielt seine Wohnung in simplen Grautönen ohne viel Schnickschnack. Er mochte es nicht, sich über seine Besitztümer zu profilieren. Vor wenigen Monaten hatte er sich einen Laptop zugelegt und erst vorgestern hatte er begonnen, sich damit zu beschäftigen.
Das Internet war bisher nur ein notwendiger Mitarbeiter gewesen, doch seit er diesen Laptop hatte, offenbarte sich ihm eine Welt der Unterhaltung, die er nicht für möglich befunden hätte.
Aus diesem Grund hatte er das Gerät seit diesem Tag noch nicht wieder angeschaltet. Es war noch nicht bereit. Auf seinem Regal tummelten sich noch so unglaublich viele Bücher, jedes davon hatte er sich geschworen zu lesen. Er las ziemlich viel und war entsprechend schnell, doch leider hatte er vor dem Ende eines Buches bereits mindestens zwei neue gekauft.
Es war schwierig aus diesem Teufelskreis herauszukommen, doch er konnte nicht aufhören. Er versuchte es auch erst gar nicht, denn es entzog sich seiner Macht.
Melinda vom Marketing hatte ihm empfohlen, deswegen mal zum Therapeuten zu gehen, doch das erschien ihm sehr lächerlich. Eine Therapeutin hatte sicher wichtigere Leiden zu heilen, als seine Vorliebe für Bücher.

Um diese Vorliebe zu finanzieren, bedarf es natürlich einer Arbeit. Graham arbeitete in einem Büro, welches sich in einem der großen Gebäudekomplexe im Zentrum von Manhatten befand. In der 590 Madison Avenue, eine halbe Stunde von seiner Wohnung entfernt.
Er war für den Briefverkehr zuständig und hatte dadurch viel Kontakt mit den verschiedenen Abteilungen. Was genau die Aufgabe des Unternehmens war, für das er arbeitete, wusste er nicht, doch es interessierte ihn gar nicht so genau.
Er kannte seine Arbeit und seinen Lohnscheck, das reichte ihm.

Alles in allem war er mit seinem Leben zufrieden, ja fast sogar glücklich.
Es mangelte ihm an nichts und er vermisste nichts. Hier, da wo er gerade war, gehörte er hin.

⁂ 

Graham betrat das Büro seines Vorgesetzten.
Mr. Blotch war ein rundlicher, kurzgesichtiger Mann, der die einzigartige Gabe besaß, außer Atem zu sein ohne sich je bewegt zu haben.

Verschwitzt und aufgeregt saß er in einem großen Ledersessel. Die Ellenbogen hatte er auf dem großen Mahagonischreibtisch abgestützt. Hektisch tupfte er mit einem Stofftaschentuch über seine Stirn und warf einen gehetzten Blick auf seine Armbanduhr. Als er Graham im Türrahmen sah, sprang er fast auf.

"Mr. Jones!", rief er und stützte sich auf die Armlehnen. "Schließen Sie die Tür, nehmen Sie Platz.", sprach er gehetzt und ließ den Hintern erneut in den Sessel fallen.
Graham nickte demütig. Er schloss die Tür leise und eilte auf einen der Gästestühle gegenüber seines Vorgesetzten.
"Ich habe etwas mit ihnen zu besprechen, Mr. Jones.", stimmte er an und tupfte noch einmal über seine Stirn, bevor er das Taschentuch zerknüllt in seine Hosentasche stopfte.
"Sie arbeiten schon sehr lange hier.", stellte er fest und Graham nickte sicher.
"Seit ich Sechzehn bin, Sir.", fügte er hinzu und machte ein selbstzufriedenes Gesicht.
"Dann bereits seit 12 Jahren?!", fragte Mr. Blotch erstaunt und warf einen Blick auf die Dokumente vor ihm. "Also, dass sie wirklich so lange hier arbeiten...", murmelte er unter seinem wirren, knotigen Schnurrbart und schob den Gedanken dann beiseite.
"Wie dem auch sei! Wir sind Ihnen dankbar für ihre Dienste, doch wir leiden derzeit unter einer kleinen Finanzkrise und müssen Einsparungen vornehmen.", erklärte er vorsichtig, während seine Augen durch die Luft wanderten, als hofften sie dort die richtigen Worte zu finden.
"Ich... fürchte, das schließt sie mit ein, Mr. Jones. Die Poststelle wird in naher Zukunft modernisiert und bedarf keines Poststellen-Sachbearbeiters mehr. Ohnehin nutzen die meisten heutzutage doch E-Mails."

Ungläubig starrte Graham ihn an. Er wurde gekündigt.
Er hatte seine Arbeit immer gewissenhaft durchgeführt, war sich nichts zu Schulden gekommen, manchmal verließ er dieses Büro sogar als letzter und doch stand er nun hier. Wie konnten sie es wagen? Er starrte in Mr. Blotchs Augen, welche unter dem dicken Gesicht fast verschwanden.
Ihn trifft keine Schuld. Er wirft dich nicht raus. Das kommt von ganz oben. Er hat nichts getan, redete er sich in Gedanken ein, versuchte sich zu beruhigen.

Mr. Blotch wurde zusehends nervöser. Er kramte das Taschentuch hervor und begann erneut zu tupfen, während er auf Grahams Reaktion wartete. "Äh... Mr. Jones?", fragte er vorsichtig.
Graham erhob sich von seinem Stuhl und lächelte. Ruhig reichte er Mr. Blotch die Hand. "Ich bedanke mich für all die gemeinsamen Jahre, Mr. Blotch. Leben Sie wohl.", sprach er und Mr. Blotch schlug ein. Der dicke Mann war zwar überrascht, doch er beschwerte sich nicht.
Graham machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro seines Vorgesetzten. Leise schloss er die Tür hinter sich.

Dann riss er sie wieder auf, stürmte zurück in das Büro, schnappte sich den Monitor vom Schreibtisch und warf ihn durch das Sichtfenster neben der Bürotür, welches lautstark zerbrach und sich in Scherben über dem Teppichboden verteilte.
Der Monitor landete auf dem Schreibtisch einer Angestellten, wo es noch einige andere Geräte hinunterfegte und der Dame einen erschrockenen Schrei entlockte.
Mr. Blotch war verängstigt unter den Schreibtisch gekrochen. Es sah ein bisschen so aus, als würde er darunter hervorquellen, so unglaublich rund wie er war und Graham fragte sich, ob er ohne fremde Hilfe je wieder herauskommen würde.
Er klatschte sich den metaphorischen Staub aus den Händen, grinste selbstzufrieden und schließlich verließ er das Büro.

Als er so auf dem Heimweg über die Straßen lief, dachte er nach. Es war nicht fair von ihm gewesen, Mr. Blotch wegen seiner Entlassung zu terrorisieren, doch er war einfach so wütend und verletzt gewesen.
Er war der loyalste Mitarbeiter, den dieses Unternehmen je hatte. Vielleicht hatte er keine millionenschwere Deals an Land gezogen, falls dieses Unternehmen überhaupt etwas vergleichbares tat, doch er hatte über ein Jahrzehnt lang die Briefe in die unzähligen Abteilungen gebracht, ohne je auch nur einen zu verlieren, geschweige denn auch nur zu lesen.
Er hatte die Privatsphäre des Unternehmens und seiner Mitarbeiter bewahrt und er hatte den Mitarbeitern immer ein Ohr geliehen, wenn sie Kummer hatten.
Er kannte immer den neusten Klatsch. Ganz gleich ob es um eine neue Büro-Affäre, eine gescheiterte Ehe oder eine kleine, illegale Fehlinvestition ging. Er wusste alles!
Er hatte sich dabei immer eher wie ein Beobachter gefühlt. Es ging nie um ihn, was zwar in Ordnung war, doch als er nun darüber nachdachte, erkannte er, dass er nie ein Teil dieser Familie war. Er war ein Zuschauer. Darum fühlte es sich für ihn auch nicht an, als hätte er eine  Familie verloren, sondern eher so, als wäre seine liebste Sendung abgesetzt worden.

Diese Sichtweise besserte seine Laune ein Stück, doch leider war dieser kleine Triumph nicht von Dauer.
Als er vor der Tür zu seiner Wohnung stand, die klimpernden Schlüssel in der Hand haltend, begrüßte ihn ein großer, roter Zettel, der sorglos mit Klebeband ans Holz fixiert wurde.

Letzte Mahnung  stand in großen Lettern darauf. Graham zog den Zettel ab und öffnete den darunter verborgenen Briefumschlag. Er betrat die Wohnung, schloss die Tür und setzte sich auf seine alte Couch. Aufmerksam las er den Brief, so als wollte er sicher gehen, dass er seine Bedeutung auch verstanden hatte.
Doch leider änderte sich der Inhalt nicht und mit ihm, verblieben auch die Umstände genau so, wie sie waren. Er war arbeitslos, seine Reserven reichten nicht einmal annähernd für den geforderten Betrag und er war bereits drei Monate im Rückstand.
Seine Liebe für Bücher hatte ein wenig mehr Überhand genommen, als er es sich zu Beginn eingestehen wollte. Mittlerweile türmten die Bücher vor den prallvollen Bücherregalen. Ein weiteres Werk hätte das Regal wahrscheinlich zerplatzen lassen.

Er stand auf und setzte sich an den Küchentisch. Sein Laptop lag vor ihm und das helle Licht blendete ihn, so dass er die Augen zusammenkniff.
Er öffnete seinen Browser und der blinkende Cursor erwartete ihn im Eingabefeld der Suchmaschine. Wohngemeinschaften in Brooklyn, tippte er ein und drückte seufzend auf die Enter-Taste.


Die wundervolle Welt des Graham JonesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt