Come join the clown

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Es freut mich, dass Du, lieber Leser, dich hierher verirrt hast. Amberline36 (also...naja, ich) wünscht Dir viel Spaß, beim fliegen, äh, lesen.

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„Wohin denn so eilig, Ginger?" Wie angewurzelt blieb ich stehen.
„Zum letzten Mal, ich heiße nicht Ginger!"
„Zu schade, Ginger. Wie soll ich dich dann nennen?" Ein Funken Panik glomm in mir auf, als ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie der Junge auf mich zukam.
„Redhead? Bleachy?" Spöttisches Gelächter erklang aus dem Hintergrund. Ah, Henry hatte also seine Freunde mitgebracht, wie schön.
„Ach, lass mich einfach in Ruhe." Meine Stimme war so leise, dass ich mich selbst kaum hörte.
„Hat Gingerchen etwa Angst?" Henry stand jetzt direkt neben mir, ich spürte seine Wärme unangenehm durch mein T-Shirt dringen.
„Du sollst mich einfach nur in Ruhe lassen", sagte ich mit nun festerer Stimme.
„Du hast aber Ansprüche, Ginger." Urplötzlich wurde ich rüde zu Boden gestoßen. Meine Schulsachen ergossen sich aus meiner Tasche über den nassen Asphalt der Straße. Mein Brillengestell drückte gegen meine Schläfe, welche schmerzhaft zu pochen begann.
„Ups, sorry", sagte Henry Bowers ohne jegliche Schuldgefühle in der Stimme. Rasch machte ich mich daran, meine Schulunterlagen aufzusammeln. Ein paar Blätter hatten bereits den Weg aus den Ordnern gefunden und drohten, von dem kühlen Herbstwind fortgetragen zu werden. Mehr durch Zufall als mit Absicht ertasteten meine zittrigen Finger meine Brille, die ich sofort ergriff, doch wurde sie mir wieder entrissen. Verschwommen erkannte ich das Gesicht von Henry, seine Augen bohrten sich stechend in meine smaragdgrünen, als ich aufsah.
„Gib mir meine Brille wieder", verlangte ich.
„Hol sie dir", grinste er. Gott, wie falsch dieses Grinsen doch war. Mit resigniertem Blick schüttelte ich den Kopf und sammelte weiter die letzten verstreuten Bücher und Hefte ein.
„So wenig Interesse an deiner Brille? Tja, dann kann ich sie ja behalten." Sofort drehte ich mich
wieder zu ihm, stand auf und schulterte meine Tasche.
„Gib sie wieder her, Henry!"
„Warum sollte ich? Es ist witzig zu sehen, wie du langsam immer wütender wirst." Unweigerlich wurde mein Blick eine Spur schärfer.
„Siehst du?", lachte er.
„Jetzt gib mir meine Brille!", schrie ich Henry fast schon an.
„Gib mir meine Brille, gib mir meine Brille", äffte Henry mich in einem weinerlichen Tonfall nach. „Dein Geheul geht mir langsam auf die Nerven!" Ich konnte erkennen, wie er abschätzig meine Brille auf den Boden schleuderte und zum Tritt ausholte. Noch ehe sein Fuß meine Brille zerschmettern konnte, stieß ich Henry mit all meiner Kraft zur Seite, schnappte mir meine Sehhilfe und rannte so schnell ich konnte davon. Hinter mir konnte ich nach kurzer Zeit hektische Schritte vernehmen, die sich mit meinen vermischten. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich hetzte weiter, bog in verschiedene Gassen ein, bis ich endlich zuhause angelangte. Henry und seine Freunde hatte ich Gott sei Dank abgehängt.
Völlig außer Atem hämmerte ich auf die Klingel. Bis Mom mir öffnete, schien eine halbe Ewigkeit
vergangen zu sein. Ich konnte deutlich ihr Lächeln verschwinden sehen, als sie mein ängstliches
Gesicht erblickte.
„Ava, Spätzchen, was ist los?" Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und schob mich an ihr vorbei. Moms warme Hand legte sich mir auf die Schulter und drehte mich sachte herum.
„Ava, was ist mit dir? Dich bedrückt doch irgendwas." Ich seufzte resigniert.
„Henry hat mich wegen meiner roten Haare gehänselt und mir meine Brille weggenommen",
beichtete ich. Mom nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel.
„Deine Haare sind wunderwunderschön, Ava. Und die Brille passt perfekt zu dir." Ich lächelte Mom dankend an.
„Aber wenn es dir zu viel wird...du kannst immer noch die Schule wechseln." Energisch schüttelte ich den Kopf, sodass meine schulterlangen Locken hin und her peitschten.
„Ich lasse mich nicht verdrängen." Ein Lächeln zierte nun wieder Moms Gesicht. Ich mochte es, wenn sie lächelte. Sie war so viel schöner, wenn sie fröhlich war. Deshalb wollte ich nicht, dass sie meinetwegen traurig war.
„Ich bin stolz auf dich, wie du in letzter Zeit alles meisterst."
„Danke, Mom." Sie wuschelte mir kichernd durch meine wilden Locken und ging in die Küche, aus der der unwiderstehliche Duft von Pflaumenkuchen drang. Mir lief allein bei dem Gedanken das Wasser im Mund zusammen, beherrschte mich aber, wie neulich jede Minute zu fragen, wann der Kuchen wohl fertig sei, und zog mich stattdessen in mein Zimmer auf dem Dachboden zurück, wo ich mich sofort an meinen Lieblingsplatz am Fenster setzte und unweigerlich auf das Haus unserer Nachbarn blickte. Sofort schnürte es mir die Kehle zu und eine Träne drückte sich aus meinem Auge, als ich an Georgie dachte. Wir hatten vor drei Tagen noch zusammen gespielt, bevor er gestern verschwunden war. Er war mein einziger richtiger Freund gewesen. Wir hatten stundenlang spielen können, ohne, dass uns langweilig geworden war. Und gestern hatten wir uns eigentlich treffen wollen, um im Regen Papierbooten hinterherzujagen. Georgies großer Bruder Bill konnte ganz wunderbar diese Boote falten. Aber Mom hatte es verboten, da sie nicht wollte, dass ich mich erkälte. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war ich froh, nicht mitgegangen zu sein, sonst hätte ich wohl auch dran glauben müssen.
Du hättest ihm helfen können, erklang eine vorwurfsvolle Stimme in meinem Hinterkopf, und sofort machten sich Schuldgefühle in mir breit. War ich im Endeffekt etwa schuld an Georgies Verschwinden? Energisch presste ich meine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Ich hätte nichts daran ändern können. Wie auch, wenn er vermutlich entführt wurde? Was hätte ich schon ausrichten können?
Mit hängendem Kopf öffnete ich meine Schreibtischschublade und griff mit zittrigen Fingern nach unserem Klassenfoto, auf dem George und ich nebeneinander standen und wie die Honigkuchenpferde grinsten. Ich hatte zu diesem Anlass mein Sonntagskleid mit den weißen Borten am Saum des blassroten Kleides angezogen, welches immer so schön wirbelte, wenn ich mich drehte. Georgie trug stattdessen ein schlichtes weißblau kariertes Hemd mit einer beigefarbenen Hose. Mein Blick verweilte auf seinem Gesicht. Dieses Grinsen, von dem man sofort angesteckt wurde, würde ich vermutlich nie wieder bei ihm sehen. Ich hatte schon seit gestern die Hoffnung aufgegeben, dass er jemals zurückkehren würde. Alle Kinder, die je verschwunden waren, waren nie wieder zurückgekehrt. Ich zog die Nase hoch und legte das Bild wieder zurück. Der Verlust war noch so frisch, wie eine tiefe Wunde, die nur ganz langsam verheilt.
„Ava! Kuchen ist fertig!", rief Mom die Treppen hinauf.
„Komme", antwortete ich und lief die Stufen zum Wohnzimmer hinunter, wo es herrlich nach Pflaumenkuchen duftete. Schweigend setzte ich mich an unseren Esstisch und begann, das Kuchenstück zu zerlegen.
Mit George hätte der Kuchen gleich zweimal so gut geschmeckt.
Da fiel mir ein, dass Bill diesen Kuchen auch sehr mochte.
„Mom, kann ich Bill ein Stück vorbeibringen?", fragte ich kauend.
„Das ist eine wunderbare Idee, Ava", bejahte Mom und erhob sich. „Mach dich doch schon mal fertig, ich schneide dir ein Stück ab."
„Okay!" Ich schlang die letzten Bissen des Gebäcks hinunter und schlüpfte rasch in meine hellblauen Gummistiefel, auf deren Schnallen kleine Schmetterlinge so aussahen, als würden sie jeden Moment davonflattern. Hibbelig wartete ich darauf, dass Mom mir den Pappteller in die Hand drücken würde, damit ich ihn Bill bringen konnte. Ich hoffte, ich könnte ihn damit aufheitern.
„Wenn du länger bleibst, sag mir Bescheid, ja?" Hastig nickte ich und gab Mom einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann verließ ich das Haus und ging schnurstracks zu Georgies Haus.
Wenn er doch auch nur da wäre.
Ich stand an der Schwelle, die Hand schon zur Klingel ausgestreckt, als mein Name gerufen wurde. Sofort wirbelte ich herum. Diese Stimme war mir so vertraut wie meine eigene. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich eine kleine Gestalt über die Straße rennen sah. Georgies unverkennbarer gelber Regenmantel leuchtete matt in der Herbstsonne.
„George?" Doch mein Freund reagierte nicht, sondern lief einfach weiter. „He, bleib stehen!" Linkisch stolperte ich die Treppenstufen hinunter und rannte George hinterher. Den Kuchen balancierte ich so gut es ging auf dem Teller, der mittlerweile nur noch lauwarm war. Ich bog um die nächste Ecke und blieb voll Verwunderung stehen. Dort war kein Georgie. Keine Spur von ihm, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst.
„G-George?", fragte ich zögerlich. „Bitte spiel nicht verstecken mit mir!" Ein Kichern unmittelbar neben mir ließ mich zusammenzucken. Ruckartig wandte ich den Kopf, doch ich konnte niemanden sehen. Aber woher war das Lachen gekommen? Es war definitiv nicht Georgie gewesen, es sei denn, er wäre um mindestens 20 Jahre gealtert. Panik machte sich in mir breit, als das Lachen erneut erklang, tiefer und gemeiner. Es schien von allen Seiten zu kommen und mich verschlingen zu wollen.
„B-bitte, hört auf! Das ist nicht witzig!" Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne. Mein Kopf wollte einfach nicht verarbeiten, was ich da gerade sah. Es war zu seltsam, als dass es real sein konnte, und doch war es so banal. Ein einsamer roter Ballon schwebte friedlich in der Gasse. Das Kichern wurde immer leiser, bis es schließlich gänzlich verstummte. Die Stille, die nun folgte, war fast noch beängstigender als das Lachen. Wo war dieser Ballon hergekommen? Es war doch weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Und wo war Georgie? Ich wollte gerade den Ballon näher betrachten, als man meinen Namen sagte.
„A-A-Ava?" Erleichtert drehte ich mich herum, wissend, dass es Georges Bruder war, der dort in der Gasse aufgetaucht war.
„Was m-machst du hier?"
„Ich wollte dir Kuchen bringen", erklärte ich.
„D-das ist e-e-echt lieb von dir, a-aber ich wohne doch di-di-direkt neben dir." Ich zögerte. Ich konnte es Bill nicht sagen! Er würde mich für verrückt halten.
„Ich bin einer Katze nachgelaufen", log ich und vermied es, Bill in die Augen zu sehen. Er wartete kurz, bevor er antwortete.
„Okay. Willst d-du noch kurz r-r-reinkommen?"
„Gerne, Bill." Ich warf noch einen letzten Blick zum Ballon, jedoch war dieser verschwunden. Seltsam. Ich dachte mir nichts weiter dabei. Wahrscheinlich war er doch von einer Windböe erfasst und davongetragen worden. Ich folgte Bill in sein Haus und weiter in sein Zimmer. Zuvor begrüßte ich noch Mr. und Mrs. Denbrough, die ziemlich mitgenommen aussahen. Als Bill seine Zimmertür geschlossen hatte, bot er mir an, mich auf sein Bett zu setzen. Dankend nahm ich das Angebot an und setzte mich neben ihn. Verschmitzt lächelnd hielt ich ihm das große Stück Kuchen hin.
„Er ist vielleicht schon kalt", murmelte ich entschuldigend.
„M-macht doch ni-ni-nichts. Er schmeckt doch j-jedes Mal g-g-gut." Und damit biss er herzhaft hinein. Kleine Luftbläschen bildeten sich an den Pflaumen, und der violette Saft lief Bill in Strömen über das Kinn. Ein Glucksen verließ meine Kehle, und auch Bill schenkte mir ein Lächeln, was mit seinen vollen Backen urkomisch aussah.
„Ha-Ha-Hab ich es dir n-nicht ges-ges-gesagt? Schmeckt a-a-a-auch kalt", meinte er rechthaberisch, als er zu Ende gekaut hatte.
„Mir nicht", entgegnete ich. „Ich kann nicht verstehen, wie man kalten Kuchen essen kann. Man muss ihn warm essen, wenn er frisch aus dem Ofen kommt...aber es ist toll, dass er dir schmeckt."
„Kann d-deine Mom uns v-v-v-vielleicht das R-R-Rezept geben?" Grinsend schüttelte ich den Kopf. Dieses Rezept ist das einzige Geheimnis meiner Mutter, und sie verrät es nicht einmal mir. Sie grinst mich immer an, wenn sie mir das sagt.
„W-Wie du meinst." Leicht säuerlich nahm Bill einen weiteren Bissen. Mein Blick glitt durch sein Zimmer und blieb an einem Foto von Georgie hängen. Auf einmal bekam ich ein so schlechtes Gewissen, Bill angelogen zu haben, dass mir schlecht wurde. Ich konnte es nicht länger verschweigen.
„Ähm...Bill?"
„Ja?"
„Ich muss dir was sagen." Bill schluckte den Bissen hinunter und blickte mich aufgrund meines ernsten Tons besorgt an.
„W-was ist denn?"
„Naja, also...es war keine Katze, der ich hinterhergelaufen bin", druckste ich herum. Georges Bruder wartete geduldig. „Es...es...", ich holte zitternd Atem, ehe es aus mir herausplatzte, „es war Georgie." Bills Gesichtszüge froren ein.
„Was?"
„Ich war schon an der Tür, als er meinen Namen gerufen hat...er ist dann weggelaufen, ich hinterher. In der Gasse war er aber plötzlich verschwunden. Irgendwer hat dann ganz fies gelacht, ich konnte ihn aber nicht sehen. Und dann war da dieser Ballon." Eine bedrückende Stille machte sich im Raum breit. „Bill? Bitte sei nicht böse, aber ich hatte Angst, du würdest...denken, ich sei verrückt. Ich wollte dich nicht wieder daran erinnern...bitte, es tut mir so leid." Doch Bill schien mir gar nicht zuzuhören. Schließlich stellte er den Kuchen aufs Bett und packte mich mit hoffnungsvollem Blick an den Schultern. Ich zuckte zurück und starrte Bill erschrocken an. Sonst war er nie so angespannt. So kannte ich ihn gar nicht.
„Wo hast du Georgie das letzte Mal gesehen?"
„Bill, du stotterst ja gar nicht mehr!", rutschte es mir heraus.
„Ava, ich meins ernst!"
„Er war auf der anderen Straßenseite. Dann ist er in diese Gasse gelaufen und war weg!" Georges Bruder sprang auf und stob aus dem Haus. „He, warte!" Ich glitt vom Bett und rannte ihm hinterher, doch er war viel zu schnell, als dass ich ihn hätte einholen können. Erst, als ich abermals in die Gasse bog sah ich, wie er dort stand und sich hektisch umblickte.
„Ich kann mich auch geirrt haben", versuchte ich, Bill zu beruhigen, wirken tat es jedoch nicht im Geringsten.
„Und du bist dir sicher, dass es George war?"
„Ich hab seine Stimme und seinen gelben Regenmantel erkannt. Aber er war wie vom Erdboden verschluckt...vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet." Betreten sah ich auf meine Füße und zupfte am Saum meines hellgrünen Strickpullovers. Von Bill erklang ein langgezogenes Seufzen. Enttäuschung schwang darin mit und sein Atem zitterte.
Super gemacht, Ava.
Ich hätte mich ohrfeigen können, dass ich es ihm doch gesagt hatte, aber ich war eine grausige Lügnerin. So hatte Mom mich nicht erzogen. Ich hatte ehrlich sein wollen und damit alles nur schlimmer gemacht.
„V-V-Vielleicht w-w-war es nur ei-ei-ein anderes Kind", sagte er mit belegter Stimme. Ich nickte beklommen.
„Das wird es wohl gewesen sein", stimmte ich kleinlaut zu. Eine unangenehme Stille breitete sich aus.
„Komm, g-gehen wir wieder r-r-rein."
„Ich sollte besser wieder nachhause gehen. Mom mag es nicht, wenn ich lange weg bleibe, ohne Bescheid zu sagen." Bill nickte verstehend, doch ich konnte es nur als diese Geste deuten, da ich immer noch den Kopf gesenkt hielt. Ich schämte mich so sehr und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Georges Bruder trat näher heran und kniete sich vor mich hin.
„E-Es ist ni-ni-nicht schlimm, d-dass du dich v-v-v-vertan hast. Ich w-will ihn auch z-zurück." Langsam hob ich meinen Blick. Bill hatte Tränen in den Augen.
Wegen mir. Ich bin Schuld, dass Bill traurig ist.
„Ich gehe wohl besser. Mom macht sich bestimmt schon Sorgen."
„O-okay. Danke fü-für den Kuchen." Ich rang mir ein Lächeln ab und versuchte das Zittern meiner Unterlippe zu unterdrücken.
„Gerne." Ich blieb noch einen Moment lang stehen, ehe ich mich umdrehte und schnellen Schrittes nachhause ging. Bevor ich klingelte, wischte ich mir die nahenden Tränen aus den Augen und setzte ein fröhliches Lächeln auf. Ich hatte Mom heute schon einmal traurig gemacht, das wollte ich nicht nochmal tun. Ein leichtes Zittern ging durch meinen Körper, als der Herbstwind durch meinen Pulli drang und mehrere feuchte Blätter tanzen ließ. Ich drückte auf den kalten Klingelknopf, woraufhin ein warmes Dong-Dong ertönte. Es dauerte nicht lange und die Tür schwang auf. Lächelnd machte Mom mir Platz.
„Und, hat Bill sich über den Kuchen gefreut?"
„Ja, er hat schon wieder nach dem Rezept gefragt", erwiderte ich aufgesetzt fröhlich. Mom bemerkte es zum Glück nicht. Stattdessen verließ ein helles Lachen ihren blass rot geschminkten Mund.
„Er lässt auch nicht locker." Mom blickte mich glücklich an. „Ava, was hältst du davon, wenn wir einen kleinen Spaziergang machen?"
„Klingt super", ließ ich verlauten. „Wann geht's los?"
Fröhlich bleiben, Ava. Mach Mom nicht traurig.
„Wenn du nichts dagegen hast, jetzt gleich." Ich nickte eifrig.
„Gern!"
„Schön, dann zieh dir bitte deine Jacke und ein Halstuch an, es ist kalt draußen." Rasch lief ich an meine Garderobe, die Mom extra auf meine Größe angebracht hatte.
„Welche Jacke denn?"
„Besser die Regenjacke. Jetzt im Herbst weiß man ja nie, wie das Wetter wird." Ich griff, wie Mom es gefordert hatte, meinen roten Regenmantel. Nachdem ich sie übergeworfen hatte, schnappte ich mir noch mein Halstuch und band es mir um, ehe ich die Jacke zuknöpfte. Zu guter Letzt setzte Mom mir meine Strickmütze auf, auf der eine gehäkelte Blume angenäht war. Sie hatte sie selbst gemacht und mir zum letzten Geburtstag geschenkt. Ich ergriff Moms Hand und ging mit ihr nach draußen. Es war kälter geworden und der Wind blies stärker denn je.
„Wo lang willst du, Spatz?"
„Zu den Barrens", sagte ich sofort. Ich liebte die Barrens. Vor allem im Sommer konnte man dort wunderbar spielen und war ein toller Ort zum Entspannen.
„Okay, auf geht's." Das Laufen tat gut, ebenso wie der Wind, der mir ins Gesicht wehte und meine roten Locken flattern ließ. Ein paar Krähen zogen am Himmel entlang und krächzten, manch eine Taube hockte auf dem Bürgersteig und pickte die noch so kleinen Krümel auf.
Trotz unseres gemächlichen Tempos, das Mom und ich an den Tag legten, gelangten wir erstaunlich schnell zu den Barrens. Noch bevor wir dort hinunterstiegen drang das liebliche Plätschern des Wassers an meine Ohren und brachte Vertrauen mit sich. Es ließ meine Schuldgefühle sachte abklingen.
„Darf ich schon mal vorgehen?", bat ich Mom.
„Natürlich, Mäuschen. Aber nicht zu weit, hörst du?"
„Mach ich nicht, Indianerehrenwort", versprach ich und löste meinen Griff um ihre wärmende Hand. Übermütig lief ich den Hang hinunter, sprang von manchen Baumstümpfen und schlitterte ein Stück auf dem feuchten Waldboden, der von braunen Blättern bedeckt war. Immer wieder drehte ich mich um, um zu sehen, ob Mom noch hinter mir und ich nicht zu weit vorausgelaufen war. Doch irgendwann musste es passieren. Ich konnte Mom nicht mehr sehen. Panik machte sich in mir breit und ich rannte wieder ein Stück zurück, aber immer noch blieb sie unauffindbar. Mein kleines Herz pochte stark gegen meine Rippen. Ich hatte ihr doch mein Indianerehrenwort gegeben, nicht zu weit zu laufen. Zu meiner großen Erleichterung ertönte plötzlich die Stimme meiner Mutter, doch seltsamerweise kam sie nicht vom Hang. Sie wehte von den Barrens herüber. Ich drehte mich verwirrt um und runzelte die Stirn. Wie war sie dort hingekommen, ohne an mir vorbeizugehen? Erneut rief Mom meinen Namen. Sie klang besorgt, vermutlich, weil wir uns aus den Augen verloren hatten. Meinen Argwohn beiseite schiebend, rannte ich auf den Tunnel zu. Aus dem Tunnel daneben floss das Wasser als kleiner Bach heraus. Aus dem anderen floss lediglich ein kleines Rinnsal. Und daraus hallte Moms Stimme. Am Tunnel angekommen, blieb ich zögerlich stehen. Ich mochte keine dunklen Tunnel. Ein Hauch von Angst keimte in mir auf. Tief sog ich den Geruch verfaulender Blätter ein, doch darin lag auch das Parfum meiner Mutter. Sie musste da drin sein. Noch einmal atmete ich tief durch, dann tat ich den ersten Schritt hinein. Sofort wurde mir unwohl und am liebsten wäre ich umgekehrt. Ein weiterer verzweifelter Ruf meiner Mutter jedoch ließ mich auch mein Unwohlsein verdrängen und weitergehen. Immer dunkler wurde es, immer beklemmender.
„Mom?", rief ich ängstlich und tapste weiter. Das Schmatzen der Blätter im Wasser hallte laut an den gewölbten Wänden wider. „Mom, wo bist du?"
„Hier, Ava. Komm her, schnell." Ich beschleunigte meine Schritte und bog um die Kurve. Ganz hinten konnte ich ein Schemen ausmachen. Mom! Ich rannte freudig auf sie zu, die letzten Hemmungen waren gefallen.
„Mom!", rief ich glücklich, stoppte jedoch abrupt, als ich nur noch einen Meter von der Gestalt entfernt stand. Das war nicht Mom. Das war ein Clown. Vor Schreck stolperte ich einen Schritt rückwärts und hätte beinahe mein Gleichgewicht verloren. Durch das wenige Licht, welches noch von draußen hereindrang, erkannte ich ein silbernes Kostüm mit orangenen Pompons daran. Seine Haare, die beinahe dieselbe Farbe wie die meinen hatten, standen wie zwei Hörner von seinem Kopf ab. Der Clown war weiß geschminkt, nur Lippen und Nase waren rot und zwei Linien zogen sich geschwungen bis zu seiner Stirn. Er grinste.
„H-hast du meine Mom gesehen?", stotterte ich. Der Clown antwortete nicht, sondern stierte mich einfach nur an. In seinem Blick lag Gier. Mein Atem wurde flach. Der Clown hatte es bemerkt und lachte, was sich eine Gänsehaut über meinen gesamten Körper ziehen ließ. Nicht nur, weil sein Lachen mehr als gruselig war, sondern weil es das Lachen war, das ich heute schon einmal gehört hatte.
Renn! Steh nicht einfach nur rum, sondern RENN!
Aber meine Glieder schienen bleischwer, wollten mir nicht gehorchen.
„Reingefallen, kleine Ava", kicherte der Clown. Ein bedrohlich kehliges Knurren hallte unheimlich durch den Tunnel. Viele spitze Zähne entblößte das Grinsen des Clowns nun. Ein verängstigtes Wimmern entfloh meinen bebenden Lippen, als er einen Schritt auf mich zu trat. Er schien, sich daran zu erfreuen und jedes Bisschen meiner stetig wachsenden Angst auszukosten. Noch immer konnte ich mich nicht bewegen, obwohl alles in mir sich dagegen sträubte.
LAUF! UM HIMMELS WILLEN, LAUF DOCH! MOM! MOM, HILF MIR!
„Komm, Ava. Ich zeig dir, wie man fliegt." Und dann stürzte er sich mit weit aufgerissenem Maul auf mich.

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Ich hoffe, es hat euch gefallen ^^
Reviews gerne erwünscht.


Come join the clownWhere stories live. Discover now