Letzte Erinnerungen

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17. Mai 1536, Tower of London

Das Klopfen an der Tür reisst sie aus ihren Gedanken. Bevor sie etwas sagen kann, wird die Tür bereits aufgerissen. Eine weitere Demonstration, um ihr zu zeigen, dass sie keine Macht mehr hat.

Ihr Onkel Norfolk tritt ein. Seine hagere Gestalt ist, wie immer, in einen dunklen Samtmantel gewandt. Darunter trägt er eine rote Tunika, während um seine Schulter ein weisser Pelz drapiert ist. Er trägt keinen Schmuck, bis auf den Siegelring an seinem rechten Ringfinger. Auf seinem dunklen Haar sitzt, wie eh und je eine schwarze Kappe. Sein langes, bleiches Gesicht ist unvermindert zu einer gleichmütigen Miene verzogen. Nur in seinen Augen erkennt man sein berechnendes Wesen.

Wie sie ihn verabscheut. Keinen Finger hat er gerührt, um sie und ihren Bruder George beim Tribunal zu beschützten. Ganz im Gegenteil, er war der Schlimmste von allen gewesen. Als Anne erfuhr, dass er den Vorsitz des Tribunals übernehmen wird, machte sie sich Hoffnung. Doch diese begrub sie bereits am ersten Tag wieder. Das Tribunal war die Hölle. Wie Aasgeier oder hungrige Wölfe stürzten sich die ganzen Neider, Narren und Speichellecker auf sie. Sie lechzten danach, sie zu Fall zu bringen, jetzt wo der König ihrer überdrüssig war. Am Anfang dachte sie noch, der König würde sie retten. Doch er rührte keinen Finger, um ihr zu helfen, geschweige denn war er bei einer Verhandlung anwesend.

Am schwersten wog allerdings der Verrat ihres Vaters und ihres Onkels. Ihr Onkel las damals, mit kalter Stimme und hartem Gesicht, all ihre vermeintlichen Verbrechen vor, ohne sie und George dabei richtig anzusehen. Und dann fällte er sein Urteil.

Schuldig!

Mit diesem einen Wort besiegelte er ihres und Georges Schicksal. Und ihr Vater sass daneben mit einem starren Gesicht, als würde ihn das nichts angehen. Kein einziges Wort brachte er zu ihrer Verteidigung vor. Damals dachte sie, sie sehe die beiden zum letzten Mal.

Doch jetzt ist ihr Onkel Norfolk hier in ihrem Zimmer. Wozu ist er hier?

«Du brauchst nicht zu hoffen, dass dir Gnade zuteilwird, Nichte. Ich wollte dir nur mitteilen, dass dein Bruder und deine Liebhaber nicht heute Abend hingerichtet werden. Die Enthauptung fand bereits heute Morgen statt», verkündet er ihr mit schnarrender Stimme.

Dann verlässt er das Zimmer ohne sich noch einmal umzudrehen oder nachzusehen wie es ihr nach dieser Schreckensnachricht geht.

Der letzte Funke Hoffnung verlässt Anne. Stattdessen macht sich eine Leere in ihr breit. Betäubt lässt sie sich auf den nächsten Sessel sinken. Sie kann keinen klaren Gedanken fassen. Alles verschwimmt vor ihren Augen. Das Mieder schnürt ihr die Luft ab. Sie versucht zu atmen, doch es geht nicht.

Unvermittelt springt sie auf und hastet zum Fenster. Dem einzigen Tor zur Aussenwelt in ihrem trostlosen Gefängnis. Wie schon zuvor beruhigt der Anblick des Parks, mit der grünen Wiese und den grossen Bäumen, sie. Langsam bekommt sie wieder Luft.

Äusserlich sieht sie aus wie eine Statue. Ganz still und starr steht sie da, unfähig sich zu bewegen. Doch in ihr drin brodelt es. Ihre Gedanken kreisen unaufhörlich um George, ihren geliebten Bruder.

Eine einzige Träne rinnt langsam über ihre Wange. Als sie unten angekommen ist, fällt sie, nach einem kurzen Moment vollständigen Innehaltens, zu Boden.

Dann rinnt die nächste Träne aus ihren Augen.

Doch sie beachtet die Tränen, die ihr übers Gesicht fliessen, nicht.

Sie kann nur an George denken. An ihre gemeinsamen Ausritte, die Augenblicke, wenn sie zusammen Pläne geschmiedet und gelacht haben. Er war immer an ihrer Seite, war für sie da, wenn sie gelitten hatte. Und jetzt war er tot, als Verräter enthauptet.

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