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So viele Gesichter. Unzählige Menschen strömten an Eric vorbei, als er die Augen aufschlug. Das Meer war verschwunden, stattdessen hetzten nun Menschen um ihn herum über den Bürgersteig. Er wurde einige Male angerempelt, noch bevor er einen Schritt getan hatte. Keine Warnungen, keine Entschuldigungen. Willkommen in New York City.

Ein paar Menschen waren auf sein Erscheinen in ihrer Welt aufmerksam geworden. Ein Mann im Anzug und eine Frau mit vollen Einkaufstüten hatten ihm am nächsten gestanden und ihn beim Vorbeigehen mit ihren Blicken bedacht. Darin war zwar keine Überraschung zu sehen gewesen, aber wenigstens hatte man sein urplötzliches Auftauchen bemerkt. Das bedeutete, dass er diesmal nicht gänzlich fernab vom Zentrum gelandet war.

Eric kannte New York, denn Menschen träumten immer wieder von diesem Ort. Seit seinem letzten Aufenthalt vor einiger Zeit erfüllte der Anblick der belebten Straßen ihn mit unvorstellbarem Unbehagen. Diese Stadt war verwoben mit einer Erinnerung, die er lieber vergessen wollte. Darin bestand aber nicht sein größtes Problem. Es war schlicht und ergreifend zu viel los. Tausende Erträumte auf einen Blick und alle verhielten sich gleich. Wie sollte er da jemals den Träumer unter ihnen ausfindig machen? Die einzige Person mit genügend Macht, ihm seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Ihm zu helfen, nicht mehr ohne Kontrolle durch die Träume anderer springen zu müssen.

Er warf einen Blick auf sein Tattoo. Tiefschwarz bedeckten die Linien die Hälfte der Innenfläche seines Armes. Bisher gab es keine Anzeichen dafür, dass es allzu bald verschwinden würde.

»Es ist eine Art Uhr«, hatte Ben gesagt. »Du wirst immer wissen, wenn ein Träumer erwacht, noch bevor der Traum zu Ende ist.«

Und was hatte ihm dieses Wissen bis jetzt gebracht? Nicht viel, abgesehen davon, dass das Mal aus Tinte ihm immer wieder zeigte, wie aussichtslos sein Vorhaben letzten Endes doch war.

Er erinnerte sich an die Träumer, die er in der Vergangenheit aufgespürt hatte. Die unterschiedlichsten Menschen in den unterschiedlichsten Welten, aber mit einer Gemeinsamkeit: Sobald er ihnen verriet, dass sie nur schliefen, löste das irgendetwas in ihnen aus. Sein Tattoo begann zu verblassen, bis das Nichts nach den Ufern der Welt griff und der Traum endete. Die Träumer wachten auf, ehe er die Chance bekam, ihnen die eine Frage zu stellen, auf die es ankam.

Eines Tages würde es vielleicht anders laufen. Nur eine einzige Chance, mehr brauchte er nicht. Doch an einem überfüllten Ort wie diesem war es sowieso unwahrscheinlich, dass er überhaupt in die Nähe des Schöpfers gelangte. Da konnte er genauso gut gleich aufgeben, egal, wie viel Zeit ihm noch blieb.

Widerwillig bewegte Eric sich mit dem Menschenstrom fort.

Die Leute strömten mit gleichgültiger Miene an ihm vorbei und kein Gesicht unterschied sich großartig von den anderen. So bewegte er sich im Rhythmus der New Yorker Geschäftigkeit mit der Masse, vorbei an Büros, Läden und Kiosken, unter Baugerüsten hindurch und über befahrene Straßen hinweg. Er bog um ein paar Ecken und überquerte mehrere rote Ampeln. Die Gebäude ragten schwindel-erregend weit in die Höhe – weiter als in den meisten anderen Versionen dieser Stadt, die er bereits kennengelernt hatte. Ihre Dächer berührten beinahe die Regenbögen, die zu Hunderten den Himmel verzierten, sich hier und da überkreuzten und kaum eine blaue Stelle übrigließen. Jede nur vorstellbare Farbe fand sich darin wieder. Auch die Vögel und Insekten, die über den Köpfen der Passanten schwirrten, schimmerten farbenfroh.

Eric erreichte gerade die Fifth Avenue, als sich eine Taube mit violettem Gefieder vor seiner Nase in die Lüfte schwang, dicht an der Glasfront des gewaltigen Olympic Towers entlang nach oben schoss, um ins Gelb eines der Regenbögen einzutauchen und darin zu verschwinden.

Trotz des bunten Naturspektakels behielt das Großstadt-feeling die Oberhand. Bis auf einige Gräser und Blumen, die aus Rissen im Asphalt lugten, waren die Straßen staubig, die Gehwege strotzten vor Dreck und der Lärm der Taxifahrer, Bauarbeiter und Polizeisirenen stoppte keine Sekunde lang.

Erträumt | LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt